Mona Kim Bücher Schaltjahr Roman
Zehn Tage waren seit Renas unangenehmen, ja, fast bedrohlichen Erlebnis vergangen. In der folgenden Zeit hatte sie das Schwimmbad nicht mehr aufgesucht. Zu verstörend war die Erinnerung. Heute jedoch, nach einem Tag ununterbrochenen Regens, bei dem selbst Troop nur schwer zu überreden gewesen war, wenigstens kurz ins Freie zu gehen, überwand sich Rena. Auch wenn die Polizei angekündigt hatte, regelmäßige Kontrollfahrten an dem Anwesen der Griessers vorbei zu unternehmen, fühlte sie sich doch ihrem Versprechen Ann-Katrin gegenüber verpflichtet.
Schon nach wenigen Bahnen in dem wohltemperierten Wasser vergaß Rena ihre Bedenken und konzentrierte sich ganz auf die sportliche Bewegung. Dabei gab sie sich dem unkontrollierten Fluss ihrer Gedanken hin, wie sie es auch auf ihren Joggingrunden tat.
Seit Rena in dem kleinen Dorf angekommen war, hatte sich ihr Leben grundlegend gewandelt. Schon der Entschluss, einen Hund in ihr Leben zu lassen, etwas, was ihr Mann immer kompromisslos abgelehnt hatte, verhinderte die befürchtete Einsamkeit. Aber auch die Menschen, die Rena seitdem kennengelernt hatte. Die Kreutzers, die Frauen aus dem Turnverein und nicht zuletzt die Familie Griesser.
Im Grunde betrachtete Rena Ann-Katrin nicht als ihre Freundin. Genaugenommen war Ann-Katrin ein Typ, der in Rena schon immer Abneigung hervorgerufen hatte: Papis kleines Mädchen, dem immer alle Steine aus dem Weg geräumt wurden. Trat ein Problem auf: Papi löste es. Jeder Wunsch wurde sofort erfüllt. Mit der Zeit wurde es selbstverständlich. Selbstkritisch gestand sich Rena ein, dass sie wahrscheinlich einfach nur neidisch war. Für Renas Wünsche hatten sich bis jetzt nicht viele Menschen interessiert. Eigentlich fiel ihr außer ihrem Bruder Markus niemand ein. Doch objektiv betrachtet war Ann-Katrin ein wirklich reizender Mensch, immer freundlich und hilfsbereit.
Nun waren Renas Gedanken bei einem Thema angekommen, das sie trotz aller Bemühungen nicht vermeiden konnte, schon gar nicht in diesem Haus: Thomas. Was ging in ihm vor? Wie sah er seine Stellung, seine Familie? Liebte er seine Frau? Aus materiellen Gründen hatte er Ann-Katrin sicher nicht geheiratet. Seine ganze Lebensart zeigte, wie gleichgültig ihm der Beck‘sche Reichtum war. Er erhob keinen Einspruch gegen Ann-Katrins finanziellen Exzesse, aber er nahm selten daran teil. Die Kleidung, die er sich leistete, konnte er auch von seinem Einkommen bezahlen, ebenso die Urlaubsziele, die er für sich und seine Familie aussuchte. Seine Vorliebe für lange einsame Spaziergänge, die ihm ungestörtes Nachdenken erlaubten, wies auf Dinge hin, die ihm wichtiger waren als Geld. Die Gefühle seiner Frau gegenüber konnte Rena nicht einschätzen, aber eines war sicher: Thomas liebte seine Kinder bedingungslos. Warum riskierte er das Glück seiner kleinen, zufriedenen Familie?
Die Stunde war vorüber. Rena stieg erschöpft aus dem Wasser. Wenn sie alleine schwamm, neigte sie dazu, sich zu verausgaben, genau wie beim Laufen. Unter der warmen Dusche spülte sie das chlorierte Wasser ab und wollte eben, in dem Bewusstsein, alleine zu sein, ihren Badeanzug abstreifen, als eine Bewegung an dem Durchgang zum Haus sie innehalten ließ. Sofort fing ihr Herz wie wild an zu rasen. Sollte sich die frühere Szene wiederholen? Doch diesmal machte der Besucher keine Anstalten, unerkannt zu bleiben, sondern trat aus dem Halbschatten ins Licht. Thomas! Eine Weile standen beide bewegungslos, dann hielt Rena es nicht mehr aus:
»Was tust du denn hier?«, fragte sie.
»Ich wohne hier«, war die lakonische Antwort.
»Das weiß ich auch. Ich meine, müsstest du nicht irgendwo am Strand liegen oder in irgendeiner Hotelbar einen Drink zu dir nehmen?«
»Doch, das müsste ich eigentlich.«
Immer noch hatte Thomas sich nicht gerührt
»Ist etwas passiert? Sind Ann-Katrin, Pascal und Mona auch da?«
Es war eine unnötige Frage, wie Rena erkannte, sobald sie zu Ende gesprochen hatte. Wenn Ann-Katrin auch hier wäre, würde sicher sie am Beckenrand stehen.
»Ja und nein. Es ist etwas passiert, aber es betrifft nur mich. Es bestand keine Veranlassung für meine Familie, den Urlaub abzubrechen.«
»Was ist passiert?«
Nun war sie doch näher an ihn herangetreten. Sie konnte ja schließlich nicht einfach ihren Badeanzug ausziehen und in ihre Kleider schlüpfen.
Anstelle einer Antwort legte er beide Hände auf ihre Schultern und zog sie zu sich heran. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Dann glitten seine Hände langsam an ihren Oberarmen entlang, wobei sie die Träger ihres Badeanzuges mitnahmen. Dabei sah er sie mit seinen unergründlichen blauen Augen unverwandt an. Rena rührte sich nicht. Es hätte unzählige Gelegenheiten für sie gegeben, »Nein« oder »Halt« zu sagen. Sie ließ sie alle ungenutzt verstreichen. Rena schloss die Augen und konzentrierte sich vollständig auf die streichelnden Hände. Es war schon viel zu lange her.
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