Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Donnerstag, 7. Juni, Abend
In der Weinstube im Fischerviertel waren noch nicht viele Tische besetzt. Erst nach Ende der Kino- und Theatervorstellungen war ein Ansturm von Besuchern zu erwarten. Krister wählte einen etwas abgeschiedenen Ecktisch, an dem sie ungestört reden konnten.
»Was möchtest du?«, fragte er Hanna und reichte ihr die Weinkarte.
Hanna entschied sich für einen trockenen Rotwein. Sie bestellten. Schweigend warteten sie, bis die Weingläser vor ihnen standen. Dann tranken sie und Hanna spürte schnell, wie gut ihr der Wein tat. In den letzten Tagen hatte sie relativ wenig und zudem unregelmäßig gegessen. Zuerst war ihr die unerklärliche Abneigung gegen den Autoklavenraum auf den Magen geschlagen, dann die Auseinandersetzung mit Krister, und seit gestern hatte der Drohbrief an Arun und seine Familie ihr den Appetit verdorben. Hunger verspürte Hanna auch jetzt noch nicht, aber der weiche, fruchtige Wein füllte auf wohlige Art ihren Magen und lockerte die Spannung. Langsam begann sie, sich hier wohl zu fühlen und Kristers Gesellschaft zu genießen.
In seine eigenen Gedanken versunken, drehte Krister sein Weinglas mit den Fingern der linken Hand. Die Rechte lag entspannt auf dem Tisch. Kristers Hände gefielen Hanna besonders gut. Sie schienen kräftig, waren aber zugleich schmal und wirkten sensibel. Es waren zärtliche Hände. Hanna strich ihm sachte über die rechte Hand und bat: »Erzähl mir von deiner Familie in Montana. Irene hat einmal erwähnt, dein Vater sei Schwede. Ist er ausgewandert?«
Krister hielt ihre Hand fest.
»Das ist ein Thema, über das ich stundenlang reden könnte. Ja, mein Vater ist in Schweden geboren und mit achtzehn Jahren nach Amerika ausgewandert. Drei Jahre lang ist er von einem Bundesstaat zum anderen getrampt. Er hat sich umgesehen und dann so lange gearbeitet, bis er genügend Geld für die Weiterreise hatte. In Montana hat er meine Mutter kennengelernt, als er auf der Ranch ihres Vaters gearbeitet hat. Da ist er dann geblieben und hat die Tochter des Ranchers geheiratet. Meine Großeltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, damals war ich aber noch nicht geboren. Nach ihrem Tod haben meine Eltern die Ranch weitergeführt. Weißt du, wo Montana liegt?«
»Ich glaube, ganz oben an der kanadischen Grenze. Zwischen Washington und Dakota?«
»Das stimmt fast. Ein schmaler Streifen von Idaho zieht sich noch zwischen Washington und Montana hindurch.
Montana ist ein sehr dünn besiedeltes Land. Es gibt bei uns keine einzige wirklich große Stadt. Billings ist mit siebzigtausend Einwohnern die größte. Aber die Hauptstadt ist Helena. Sie hat gerade mal fünfundzwanzigtausend Einwohner, was für eine Landeshauptstadt hier in Deutschland kaum vorstellbar ist. Im westlichen Drittel von Montana ziehen sich die Rocky Mountains von Norden nach Süden und gehen dann Richtung Osten in die Great Plains über. Diese riesige Graslandschaft hat Montana den Namen Big Sky Country eingebracht, weil es so aussieht, als ob hier der Himmel höher sei, als anderswo.«
Krister trank einen Schluck Wein, dann fuhr er fort: »Montana ist ehemaliges Indianerland. Viele der Indianerstämme, die Karl May in seinen Büchern beschreibt, hatten ihren natürlichen Lebensraum in Montana oder Wyoming. Die meisten Stämme sind inzwischen ausgestorben, ausgerottet müsste man vielleicht ehrlicher sagen. Einige wenige leben noch in Reservaten. Jetzt erst, in neuester Zeit, fangen sie an, ihre Identität wiederzuentdecken und pflegen ihre Kultur. Die schönsten Feste, die in unserem Land gefeiert werden, sind die Feste der Indianer. Zum Beispiel die Crow Fair, die in der Crow-Reservation im Süden von Montana, in der Nähe von Billings stattfindet, oder die North American Indian Days in Browning. Die Indianer treten dort in wunderschönen Festkleidern auf, und auch die Pferde sind prachtvoll geschmückt. Die Frauen bieten selbstgemachte Handarbeiten an, Frauen und Männer zeigen ihre Fertigkeiten im Bogenschießen und Reiten. Es ist ein grandioses Schauspiel. Seit ich fünf Jahre alt war, haben mich meine Eltern auf diese Feste mitgenommen.«
In angenehme Erinnerungen versunken, schwieg Krister ein paar Minuten lang. Geduldig wartete Hanna, bis er fortfuhr.
»Heute sind fast alle Einwohner Montanas Weiße. Die Indianer stellen nur noch eine ganz geringe Minderheit, und leider gehören sie zum ärmsten Teil der Bevölkerung. Oft leben sie von staatlicher Unterstützung, das steigert ihr Ansehen bei der weißen Einwohnerschaft nicht gerade. Wir auf unserer Ranch haben allerdings mit unseren indianischen Arbeitern sehr gute Erfahrungen gemacht.
Derzeit haben wir ganz andere Probleme: In den letzten Jahren ist Montana bei Schauspielern aus Hollywood und reichen Managern modern geworden. Da sie eine Menge Geld haben, kaufen sie das Land auf. Es gibt genügend kleinere Rancher, die am Rande des Existenzminimums wirtschaften und deswegen für ein großzügiges Angebot ihr Land verkaufen. Die Folge ist, dass die Grundstückspreise ins Unermessliche explodiert sind, die Einheimische niemals bezahlen können. Außerdem sind auch die Steuern rapide gestiegen. Auf unserer Ranch arbeiten einige Familien, die selbst einmal Farmen hatten und diese verkaufen mussten, weil sie nach einer Missernte oder nach einer Seuche in ihrer Herde oder auch einfach wegen der drastisch gesunkenen Fleischpreise die Steuern nicht mehr bezahlen konnten.
Die Olivyard-Ranch – sie wurde nach meiner Urgroßmutter Olivia so benannt, und da meine Mutter auch Olivia heißt, passt der Name gut – liegt im Westen von Montana an der Gabelung zwischen dem Missouri und dem Marias River. Die nächsten kleinen Orte sind Loma und Fort Benton. Bis nach Great Falls, der einzigen größeren Stadt in der Nähe, braucht man mit dem Auto ungefähr eine Stunde. Durch die Ausläufer der Rockies gibt es auf unserem Land sowohl Hügel, als auch Wälder und Weiden. Unsere Haupteinkom-mensquelle sind zwar die Rinder, aber interessanter ist die Pferdezucht. Die Olivyard-Pferde sind in weiten Teilen des Landes bekannt. Die Tiere weiden in der Nähe der Ranchgebäude, da sie sehr viel wertvoller sind als Rinder. Auch müssen sie vor wilden Tieren geschützt werden – und nicht zuletzt vor Pferdedieben. In einem kalten Winter kann es auch vorkommen, dass der Hunger Bären und Wölfe aus den Bergen treibt und sie die Herden angreifen«.
Lächelnd warf Hanna ein: »Ich stelle mir dich gerade vor, wie du auf einem Pferd sitzt, mit Cowboyhut und Gewehr, und Jagd auf Bären oder Wölfe machst.«
Krister musterte sie aufmerksam und meinte dann: »Die Vorstellung ist gar nicht so abwegig. Ich hoffe, du hast nichts gegen die Jagd einzuwenden. In Montana gehört sie zum Alltag. Natürlich essen wir zum größten Teil das Fleisch unserer eigenen Rinder, aber ich war mit meinem Vater und meinem Bruder Mikael durchaus auch schon auf der Jagd. Je nach Saison haben wir schon Elks und Pronghorn-Anthelopes gejagt. Offen gestanden habe ich die Jagdgegner noch nie verstanden. Warum soll es für ein Tier besser sein, ein kurzes Leben in einem dunklen Stall zu fristen und dann in einen Lastwagen getrieben und zu einem Schlachthof transportiert zu werden? Die meisten Leute kaufen ihr Fleisch im Supermarkt und fragen sich nie, wie es dahin gekommen ist.«
Schon bei seinen ersten Worten hatte Hanna gemerkt, dass dies ein in Montana wohl heiß und konträr diskutiertes Thema war. Begütigend legte sie Krister die Hand auf den Arm und sagte: »Ich habe über die Jagd bisher nicht nachgedacht. Aber ich habe schon Hirschragout und Rehbraten gegessen, und das hat sehr lecker geschmeckt. Da muss irgendwer vorher wohl auch auf die Jagd gegangen sein.«
Nun lachte Krister. »Sorry, ich wollte dich hier nicht in Grundsatzdiskussionen verwickeln, sonst landen wir noch bei den Waffengesetzen, und da wird's dann richtig interessant.«
»Du hast einen Bruder erwähnt, Mikael. Lebt dein Bruder auf der Ranch?«
»Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern, aber nur Mikael lebt und arbeitet auf der Ranch.«
Ein Schatten schien sich auf Kristers Gesicht zu legen, als er fortfuhr: »Und zur Zeit Jonathan, aber das ist ein anderes Thema.« Dann fuhr er schnell fort: »Jonathan und Tomas sind Zwillinge und die Ältesten. Dann kommt Anne, dann ich, dann Mikael, Charlotte ist die Jüngste. Und nicht zu vergessen: Karen. Sie ist zwar meine Kusine, aber ihre Eltern sind früh gestorben und sie ist bei uns aufgewachsen.«
Hanna starrte ihn an. Fünf Geschwister und eine Kusine! Sein Leben war so vollkommen anders verlaufen als ihres. Zwar war auch sie unter vielen Kindern aufgewachsen, aber es war dennoch nicht vergleichbar. Viele der Kinder waren nicht lange geblieben, und sich mit jemandem anzufreunden konnte schmerzlich enden, wenn er oder sie dann das Heim wieder verließ. Vielleicht aus diesem Grund war Hanna immer eine Einzelgängerin geblieben. Möglicherweise war aber auch ihre Malerei schuld. Ein Bild zu malen oder auch nur darüber nachzudenken war Hanna immer wichtiger gewesen, als mit anderen Kindern an Freizeitaktivitäten teilzunehmen.
Abrupt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sie Kristers Hand sanft in ihrem Nacken spürte. Er beugte sich zu Hanna hinüber und küsste sie. Das war kein kameradschaftlicher Kuss, es war ein leidenschaftlicher, fordernder Kuss, den sie, ohne nachzudenken, erwiderte. Als sich ihre Lippen trennten, mussten sie beide tief Luft holen. Gleich einem elektrischen Feld lag die Spannung plötzlich zwischen ihnen und verband sie wie zwei gegensätzlich geladene magnetische Pole.
»Gehen wir?«, fragte Krister mit rauer Stimme.
Hanna nickte und Krister gab dem Kellner ein Zeichen. Es war kurz nach zehn Uhr und draußen dunkel. Da es weder von Kristers noch von Hannas Wohnung weit bis in die Innenstadt war, waren sie beide zu Fuß gekommen. In wortlosem Einvernehmen lenkten sie ihre Schritte zur Donau hinunter und folgten schweigend dem Uferweg. Bis Krister abrupt stehen blieb und Hanna an sich zog. Diesmal küsste er sie sanft und zärtlich.
»Kommst du mit zu mir nach Hause?«
Diese Frage war aus dem Mund von Krister vollkommen ungewöhnlich. Seit er in Deutschland lebte, hatte er noch nie eine Frau mit zu sich nach Hause genommen. Bisher hatte er es vorgezogen, ihnen in ihre Wohnung zu folgen oder gar ein Hotelzimmer zu nehmen. Das hatte gewisse Vorteile nach der Trennung gehabt. Erst sehr viel später würde er darüber nachdenken, was ihn heute zu einem solchen außergewöhnlichen Schritt bewogen hatte.
Im Ulmer Viertel »Galgenberg« bewohnte Krister eine geräumige Drei-Zimmer-Wohnung, die den ganzen ersten Stock einer wunderschönen alten, aber vollständig renovierten Villa einnahm. Der Architekt hatte die ehemals fünf kleinen Räume in drei große umgewandelt. Die Einrichtung bestand aus einer gewagten Mischung von Alt und Modern. Sie verriet Geschmack – und auch das Vorhandensein der notwendigen finanziellen Mittel. Kristers fünf Jahre ältere Kusine Karen war Innenarchitektin und hatte die Wohnung nach Kristers Wünschen gestaltet.
Das ganze Haus gehörte Krister. Die Erdgeschosswohnung war vermietet, wobei die Miete durch Frau Neumanns haushälterische Tätigkeit für Krister abgegolten wurde.
Ein wunderschöner parkähnlicher Garten voller alter Bäume umschloss das Gebäude. Diesen Garten hielt Erwin Neumann in Ordnung. Das war zwar nicht in der Mietvereinbarung eingeschlossen, aber Herr Neumann liebte die Gartenarbeit. Deswegen hatte seine Frau Krister gebeten, ihrem Mann diese Freude zu lassen, weil er ihr sonst »nur immer zwischen den Füßen herumlaufen würde«.
Als Hanna wortlos den großen Wohnraum mit dem schönen alten Parkett und den weichen hellen Teppichen betrat, zog sie ihre Schuhe aus und lief zu den großen Flügeltüren, die auf eine Dachterrasse führten. Sie öffnete eine der Türen, trat auf die Terrasse bis zum Geländer vor und blickte auf die wunderschöne riesige Kastanie, die sich in der Mitte des großen Gartens erhob und deren Blätter im Mondlicht silbern glänzten. Krister war ihr langsam gefolgt.
»Hallo Baum!«, flüsterte Hanna und es würde einige Jahre dauern, bis Krister den Inhalt dieser zwei Worte verstand.
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