Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Donnerstag, 7. Juni, Abend
Schon als Krister sich der vor dem Kino wartenden kleinen Gruppe näherte, sah er, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«, fragte er und fügte dann, seine guten Vorsätze vergessend, spöttisch hinzu: »Lasst mich raten! Hanna macht Probleme.«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu.
»Und was passt dir diesmal nicht?«
An Hannas Stelle antwortete Margret: »Es sind zu viele Menschen da. Sie sagt, sie kann da nicht reingehen. Wir haben ihr schon erklärt, dass in dem Film, den wir uns ansehen, sicher nicht so viele Leute sein werden. Aber sie will trotzdem nicht mit rein.«
»Ah ja! Diesmal sind es zu viele Leute. In den Autoklavenraum wolltest du nicht alleine rein. Ins Kino gehst du nur, wenn außer dir niemand drin ist. Benimmst du dich hin und wieder auch mal völlig normal?«
Hanna drehte sich wortlos um und ging mit schnellen Schritten davon.
»Krister, das war gemein!«, fuhr Margret den Freund empört an. »Hanna kann doch nichts dafür, wenn sie Probleme mit Menschenansammlungen hat. Du weißt doch gar nicht, woher das kommt.«
Auch Irene wollte Krister zurechtweisen, aber der war Hanna schon gefolgt. Betreten sahen sich die Zurückgebliebenen an.
»Dia kenna mr fr heid vergessa. Kommad, ganga mr nai. Wenn mr scho do send, kennad mr genausoguat au dr Film ogugga.«
Am Anfang der Hirschstraße holte Krister Hanna ein.
»Scher dich zum Teufel!«, stieß sie mit vor Wut tränenerstickter Stimme hervor. Krister ließ sich von ihren Worten nicht abschrecken, sondern nahm Hanna trotz Gegenwehr einfach in die Arme.
»Es tut mir leid«, flüsterte Krister Hanna ins Ohr, »das war gemein von mir.«
Zuerst versuchte Hanna zornig, sich aus seiner Umarmung zu befreien, aber nach einer Weile gab sie nach. Ihre Wut war verflogen, und sie stellte plötzlich fest, wie gut Krister roch und wie angenehm sich die Berührung anfühlte. Umschlungen standen sie inmitten der um sie herumhastenden Menschen, von denen die einen noch schnell vor Ladenschluss einkaufen wollten und die anderen sich schon zu ihren Abendvergnügungen trafen. Die meisten ignorierten das Paar, wenige warfen den beiden irritierte Blicke zu, weil sie ihren Weg blockierten.
Nach einer Weile trat Krister zurück und fragte: »Gehen wir etwas trinken?«
Krister hatte Simone nicht bemerkt, die aus der Hirsch-Apotheke getreten war.
Seit jener schicksalhaften Szene vor dem Restaurant war ihr Kontakt abgerissen. Nach der ersten schrecklichen Nacht, in der die vorangegangene Auseinandersetzung endlos wie ein Horrorfilm immer wieder vor Simones Augen ablief, hatte sie beschlossen, diesen Schuft einfach zu vergessen. Überhaupt würde sie Männer in Zukunft nur noch als Zeitvertreib betrachten, als Bettgefährten, wenn sie Lust dazu hatte. Im Übrigen würde sie sich voll und ganz ihrer Karriere widmen. Doch mit dem Vergessen war es so eine Sache: Zum einen hatte sie allen ihren Freunden und Bekannten gegenüber schon Andeutungen gemacht, dass eine Hochzeit mit Krister in greifbare Nähe gerückt war, ja, hatte schon abwehrend Glückwünsche entgegengenommen und kokett lachend zurückgewiesen. So sicher war sie sich gewesen. Dieses Problem war noch recht einfach zu lösen: Sie behauptete einfach, Krister habe um ihre Hand angehalten. Da er aber nach Montana zurückkehren und die Ranch seines Vaters übernehmen wolle, habe sie abgelehnt. Niemand könne von ihr verlangen, auf einem Bauernhof zu versauern. Und tatsächlich hatte sie es geschafft, alle ihre Freunde davon zu überzeugen, dass Krister jetzt mit gebrochenem Herzen seiner verlorenen Liebe nachtrauerte. Schlimmer aber war, wie Simone mit erheblicher Irritation feststellte, ihre eigene schreckliche Sehnsucht nach diesem Mann! Ständig sah sie ihn vor sich, ja, sie spürte ihn sogar nachts im Bett neben sich. Oft, wenn sie von Weitem einen Mann sah, der Krister auch nur entfernt ähnelte, bekam sie Herzklopfen und weiche Knie. Sie hasste sich selbst dafür, zu gerne hätte sie ihre eigene Geschichte geglaubt. Auch beruflich konnte sie sich nicht mehr richtig konzentrieren. Nein, je mehr Zeit verging, desto mehr Platz nahm Krister in ihren Gedanken ein, während alles andere unwichtig wurde. Oft war sie drauf und dran, ihn einfach anzurufen.
Simone überlegte sogar ernsthaft, wie es wäre, mit Krister in Montana zu leben. Dabei sah sie sich auf einer großen Ranch – in ihrer Vorstellung war es eher ein Schloss –, umgeben von Bediensteten, die sie wie eine Königin behandelten. Den Ranchbetrieb selbst, wenn sie überhaupt an ihn dachte, verlagerte sie in den Hintergrund. An Kristers Seite sah sie sich auf einem rassigen Pferd über die endlosten Ebenen Montanas preschen. Reiten konnte Simone. Schließlich hatte sie lange Jahre sogar ein eigenes Pferd besessen. Ihre Eltern hatten es erst verkauft, als sie ins Internat gegangen und nur noch selten nach Hause gekommen war.
Meistens waren in derartigen Träumen zudem ein paar Farmarbeiter in der Nähe beschäftigt, die ihnen bewundernd nachstarrten. In Simones Fantasie wurden die Szenen der romantischen Liebesfilme lebendig, die sie so gerne abends im Fernsehen ansah, wenn sie nach einem anstrengenden Arbeitstag die Füße hochlegte und es sich mit einem Glas Wein bequem machte. Eines war klar: Krister und sie selbst würden ein ideales Paar in einem solchen Film abgeben.
Dann wieder sah sie sich auf großen Gesellschaften, an denen die Berühmtheiten Amerikas teilnahmen, ja sogar der Präsident der Vereinigten Staaten spielte in ihren Tagträumen eine Rolle. Und natürlich würde sie alle ihre Freunde und Bekannten aus Deutschland häufig einladen. Je mehr sie über die verschiedenen Szenarien fantasierte, desto mehr bedauerte sie ihre heftige Reaktion auf Kristers Zukunftspläne. Hätte sie doch nur ruhig und besonnen reagiert und in Erwägung gezogen, seine Wünsche zu akzeptieren! Dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.
Ja, sogar ein Kind konnte Simone sich zur Not vorstellen. Es würde ja sicherlich genügend Leute geben, die sich darum kümmern konnten. Und selbstverständlich würde sie weiterhin ihrem Beruf nachgehen. So groß konnte der Unterschied zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Recht nicht sein, dass sie sich das nicht in kurzer Zeit aneignen könnte. Prüfungen hatten Simone noch nie abgeschreckt. In ihren Gedanken flog sie im privaten Hubschrauber zu einem berühmten Gerichtsgebäude. Reporter der bedeutendsten Zeitungen erwarteten ihre Ankunft, ihre Leibwächter schirmten sie aber ab und geleiteten sie in den Gerichtssaal, wo sie einem Rechtsfall vorsaß, der im ganzen Land für Schlagzeilen sorgte.
Auf diese Weise redete sich Simone nach und nach ein, Kristers Darlegung seiner Zukunftspläne wäre unweigerlich ein Heiratsantrag gefolgt, wenn sie nur umsichtiger reagiert hätte. Vielleicht grämte auch er sich und wartete sehnsüchtig auf ihren Anruf?
Doch nun erblickte sie ihn hier, am Ende der Hirschstraße! Obwohl Simone ziemlich weit weg war, hatte sie ihn sofort erkannt. Unter Hunderten würde sie ihn finden! Doch was musste sie nun sehen? Mitten auf der Straße stand er – und hielt eine Frau in den Armen. Ganz plötzlich trübte sich Simones Blick und sie musste wohl geschwankt haben, da ein Passant sie besorgt am Arm fasste und fragte: »Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?« Unwillig schüttelte Simone ihn ab und starrte gebannt auf das eng umschlungene Paar. Der Passant zuckte mit den Schultern und ging weiter. Genauso unvermutet, wie der Schwächeanfall gekommen war, klärte sich Simones Blick wieder. Der sie umgebende Lärm brach über sie herein, als ob jemand die zuvor gedrückte Mute-Taste ein zweites Mal betätigt hätte. Schmerzhaft grell erschienen Simone plötzlich alle Farben. Wie festgenagelt beobachtete sie, wie Krister sich gemeinsam mit der unbekannten Frau durch die Menge in der Fußgängerzone entfernte.
Heiße, ätzende Wut überschwemmte Simone wie eine Flutwelle. Während sie sich nach diesem Mann verzehrt hatte, wälzte er sich schon lange mit einer anderen im Bett! Bestimmt hatte er sich an diesem verhängnisvollen Donnerstag nur mit ihr getroffen, um ihr den Laufpass zu geben. Lieber Gott, wie war sie doch blöde! Sie hatte doch gemerkt, wie unwillig er am Telefon geklungen hatte. Regelrecht überreden zu ihrem Treffen hatte sie ihn müssen. Schlagartig wurde Simone einiges klar: Erst als sie gedroht hatte, zu ihm nach Hause zu kommen, war er bereit gewesen, sich mit ihr zu treffen. Daraus konnte sie nur einen logischen Schluss ziehen: Diese Frau lebte da schon bei ihm! Klar, dass er seine vorherige Geliebte da nicht in seiner Wohnung brauchen konnte. Wie lange das wohl schon ging? Und sie war völlig ahnungslos gewesen! Die Schamröte schoss Simone ins Gesicht, wenn sie daran dachte, wie sie sich für dieses Schwein in Schale geworfen hatte an jenem Abend, was sie für Pläne gehabt hatte.
Paris! In Paris war noch alles zwischen ihnen in Ordnung gewesen, da war sich Simone sicher. Niemand konnte ihr drei Tage lang etwas vormachen, auch nicht Krister. Nein, dieses Weib konnte er erst danach kennen gelernt haben. Ein Gespräch fiel Simone ein: Nach einer äußerst befriedigenden Stunde lagen sie erschöpft nebeneinander und sie fragte spontan, ob sie ihren Aufenthalt nicht noch um einen oder zwei Tage verlängern sollten. Sie hatte die nächsten beiden Tage keine dringenden Termine und konnte poblemlos noch zwei zusätzliche Urlaubstage nehmen. Ehrlich bedauernd hatte Krister erwidert, er müsse leider unbedingt am Mittwochmorgen an der Uni sein, da eine neue Kollegin kommen würde, die er bis jetzt noch nicht einmal kannte. Es war sonnenklar: Diese neue Kollegin, das musste die Schnepfe sein, mit der sie Krister eben gesehen hatte! Nur jemand, mit dem er täglich zusammen war, konnte in so kurzer Zeit einen solchen Einfluss auf ihn gewonnen haben.
Doch das würden die beiden büßen! So ließ Simone nicht mit sich umspringen. Wie eine Mätresse hatte Krister sie behandelt, die man rief, wenn man sie brauchte, und ohne Weiteres fortschickte, wenn man ihrer überdrüssig war.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Hinweis
Mit dem Abschicken deines Kommentars bestätigst du, dass du die Datenschutzerklärung gelesen hast und diese akzeptierst.
Weiterhin erklärst du dich mit der Speicherung und der Verarbeitung deiner Daten (Name, ggf. Website, Zeitstempel des Kommentars) sowie deines Kommentartextes durch diese Website einverstanden.Dein Einverständnis kannst du jederzeit über die Kontaktmöglichkeiten im Impressum widerrufen.Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Weitere Informationen findest du hier:
Datenschutzerklärung von Google