Das Gewicht der Leere - Kapitel 32

 

Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Den Rest des Australienurlaubs erlebte Victor wie in Trance. Franka lebte! An etwas anderes konnte er nicht denken. Immer und immer wieder rief er sich die Szene ins Gedächtnis. Er hatte die fremde Frau »Franka!« rufen gehört und augenblicklich gewusst, dass damit »seine« Franka gemeint war. Dann Frankas Anblick. Für das unglaubliche Glücksgefühl, das Victor in diesem kurzen Moment durchströmt hatte, gab es keine Worte. Ein Traum war für ihn wahr geworden. Eine Tote war auferstanden!

Nie würde er jenen verhängnisvollen Nachmittag vergessen, zwei Tage vor Ende des von Franka gewonnenen Erlebnisurlaubs, als er sich nicht weniger als die Zwillinge darauf gefreut hatte, seine Frau und ihre Mutter endlich wieder in die Arme zu schließen. Den Nachmittag, an dem der Mann und die Frau vor der Tür gestanden hatten.
»Papa, da sind zwei fremde Leute!«, hatte Philippa gesagt und auf den Bildschirm der Außenkamera gezeigt. Die Kinder waren so erzogen, Unbekannten nie die Tür zu öffnen. Er war dann an die Tür gegangen und hatte den beiden Fremden sofort angesehen, dass nichts Gutes von ihnen zu erwarten war. Aber nie hätte er sich diesen unerträglichen Schmerz vorstellen können.
Menschen starben. Täglich. Stündlich. Seine Großmutter war gestorben, das war schlimm für ihn gewesen. Ein Freund war in relativ jungen Jahren einem Herzinfarkt erlegen, auch um diesen Freund hatte er getrauert. Tausende fremde, unbekannte Leute ließen täglich ihr Leben: Kriege, Verkehrsunfälle, Verbrechen und Krankheiten. Vor nicht allzu langer Zeit war in ihrer Straße ein junger Mann bei einem Gleiter-Absturz tödlich verunglückt. Victor hatte sich damals gefragt, wie der armen Familie wohl jetzt gerade zumute war und hatte es sich doch nicht vorstellen können. Nichts war mit dem Schmerz vergleichbar, als er begriff, dass Franka niemals wiederkommen würde. Wären die Kinder nicht gewesen, er hätte sterben wollen. Aber diesen Ausweg gab es für ihn nicht. Seiner Kinder wegen musste er leben und Tag für Tag und Nacht für Nacht den grausamen Schmerz ertragen. Und dazu auch noch den seiner beiden Mädchen. Am Anfang die Unfähigkeit vierjähriger Kinder, zu verstehen, dass ihre Mutter nicht mehr zurückkommen würde. Immer wieder fragten sie: »Wann kommt Mama wieder?« Immer wieder musste er ihnen behutsam nahebringen, dass ihre Mama wegbleiben würde. Philippa wurde zornig. Sie schlug auf Victor ein, wenn er so etwas Dummes sagte. Valerie war fassungslos, sie konnte es einfach nicht begreifen. Philippa gab ihm die Schuld, Valerie versuchte, ihn zu trösten. Nach und nach akzeptierten die Zwillinge es dann. Das Leben ging weiter. Schule, Freunde, Freizeitgestaltung nahmen wieder Platz in ihrem Leben ein. 
Für Victor hingegen ging das Leben lange Zeit nicht weiter. Er funktionierte, aber er lebte nicht. Immer wieder machte er sich Vorwürfe, weil er Franka zu dieser Reise überredet hatte. Sie hatte doch eigentlich gar nicht fahren wollen!
Maria Gerber war es, die ihn aus seiner Verzweiflung riss. Maria, die eines Tages vor der Tür stand und ihm von der kurzen Zeit erzählte, die sie zusammen mit Franka verbracht hatte. Maria, der von Anfang an bei Futura 3000 einiges sehr sonderbar vorgekommen war und die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg gehalten hatte. Das war natürlich aufgefallen und Maria war davon überzeugt, sie war aus diesem Grund vorzeitig »aussortiert« worden. Sie hatte vierzehn Tage Futura 3000 erlebt und war dann wieder nach Hause geflogen. Franka hatte sie nie vergessen. Von Anfang an hatte Maria den Beteuerungen, die Freundin sei nur in einer anderen Gruppe, da Franka und sie eine unterschiedliche sportliche Konstitution hätten, nicht geglaubt. In ihrer neuen Gruppe fanden sich nun auch alte Leute, dicke Leute, unsportliche Leute und Leute von zweifelhafter Intelligenz. Genau jene natürliche Mischung also, die Maria in der vorherigen Zusammensetzung vermisst hatte. Es wirkte auf sie von Anfang an unglaubhaft, dass die Teilnehmer an der Reise tatsächlich durch Los ermittelt worden waren.
Weder Victor noch Maria zweifelte je an dem Unfall und an Frankas Tod, aber wohl an der Darstellung des Unglücks. Irgendetwas stimmte damit nicht. Mehr und mehr machte sich der Verdacht in ihnen breit, mit der Gruppe seien Experimente durchgeführt worden, von denen die Öffentlichkeit nichts wissen durfte. Eines dieser Experimente war dann wohl schiefgegangen. Maria und Victor begannen Nachforschungen anzustellen.
Kurze Zeit danach wurde Maria auf dem Heimweg von einem Elternabend zusammengeschlagen und ausgeraubt. Zwei Wochen lang lag sie danach im Krankenhaus. Die maskierten Täter hatten ihr allzu deutlich erklärt, wie sie einen weiteren, dann tödlich endenden, Überfall vermeiden konnte.
Auch Victor erhielt unmissverständliche Zeichen: Valerie wurde entführt und zwei Tage lang gefangen gehalten. Danach wurde sie freigelassen, nicht ohne dass die Kidnapper ihrem Vater genaue Instruktionen gegeben hatten.
Nach diesen Vorfällen stellten Maria und Victor ihre Nachforschungen ein.
Aber nun lebte Franka! Durch seine Erfahrungen sensibilisiert, hatte Victor den Beteuerungen der fremden Frau und auch denen Frankas, sie schwebten in Gefahr, sofort geglaubt.
In den Tagen nach der Begegnung versuchte er verzweifelt, den Schein des entspannten Urlaubers und fröhlichen Vaters aufrecht zu erhalten. Die Töchter hatten sich in dem Hotel, in dem sie einquartiert waren, schnell anderen Kindern angeschlossen und waren selten zu sehen. Nach sechs Jahren hatten sie den Tod der Mutter verarbeitet. Die sensible Valerie brauchte dazu etwas länger als die robuste Philippa, aber auch Valerie sah sich die Fotos aus den gemeinsamen vier Jahren nun weniger regelmäßig an und fragte seltener nach Franka. 
Beate bemerkte die Veränderung von Victors Stimmung sehr wohl, auch wenn er auf ihre Fragen ausweichend antwortete. Sie war von vorneherein davon überzeugt, alles hinge damit zusammen, dass eine Fremde den Namen von Victors verstorbener Frau gerufen hatte.
Beate arbeitete als Biologin in derselben Firma, in der Victor Leiter der Forschung und Entwicklung war. Sie war erst vor vier Jahren eingestellt worden und wusste nicht, wie Victor vor Frankas Tod gewesen war. Die Kollegen erzählten ihr aber von den einschneidenden Veränderungen in Victors Wesen. Beate verliebte sich dann in den schwermütigen, gutaussehenden Wissenschaftler. Es dauerte drei Jahre, bis er sie auf privater Ebene überhaupt zur Kenntnis nahm. Dann gingen sie ein paar Mal zum Essen oder sie hörten sich gemeinsam ein Konzert an. Eine oberflächliche Beziehung entwickelte sich. In diesen gemeinsamen Urlaub in Neuseeland nun hatte Beate große Hoffnungen gesetzt. Er war der erste Schritt in eine festere Bindung. Doch jetzt standen sie wieder am Anfang. Allein die Nennung des Namens von Victors Frau hatte genügt, um alle Anstrengung Beates während der letzten Jahre zunichte zu machen. Auch sie sehnte nun das Ende des Urlaubs herbei. Gegen eine Tote hatte sie keine Chance.

Noch am gleichen Tag ihrer Rückkehr vom Neuseeland rief Victor Maria an und erzählte ihr das Unglaubliche. Nun warteten sie gemeinsam auf die versprochene Kontaktaufnahme. Als sie endlich erfolgte, war Victor zunächst sehr enttäuscht darüber, dass sie nicht von Franka direkt kam. Durch einen Unbekannten wurde Victor dann nach und nach über die Hintergründe informiert.
Die Nachricht über Frankas Beziehung zu Terence und über die Tatsache, dass aus dieser Verbindung auch zwei Kinder existierten, traf Victor schwer. Seit er Franka wiedergesehen hatte, träumte er von dem Tag, an dem er seine Frau endlich wieder in die Arme schließen konnte. Aber nun gab es einen anderen Mann und andere Kinder in Frankas Leben. Mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet. Sie war ihm einfach nicht in den Sinn gekommen. Wie Edmond Dantès von Mercédès*, so war Victor enttäuscht von Franka.
Doch je mehr Informationen ihm zugespielt wurden, desto weniger konnte er Franka Vorwürfe machen. Im Gegensatz zu der untreuen Mercédès, die nie einen Beweis für den Tod ihres Verlobten erhalten hatte, war Franka und den anderen im Raumschiff die Zerstörung der Erde vorgegaukelt worden. Sein, Victors, Tod und der Tod ihrer beiden Kinder war für sie Gewissheit gewesen, so wie er an Frankas Tod geglaubt hatte. Dazu hatte sie in einer Umgebung gelebt, die er sich zwar nur sehr eingeschränkt vorstellen konnte, die aber weit mehr Gefahren barg als das Leben auf der Erde und die deshalb die Menschen, die diese Gefahren teilten, aneinander band. Dennoch traf ihn die neue Erkenntnis. Frankas Tod hatte Victor nach langer Zeit zumindest halbwegs verkraftet. Nun aber fühlte er sich wieder einem Schmerz ausgesetzt, der dem vor sechs Jahren doch ähnlich war. Denn Victor war sich im Klaren darüber: Selbst dann, wenn es tatsächlich gelingen sollte, die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen und Franka zu befreien, konnten sie und er nicht an ihr früheres Leben anknüpfen.
Tatsächlich stellte er sich eine Zeitlang ernsthaft die Frage, ob er nicht einfach alles auf sich beruhen lassen sollte. Aber dann erwachte sein Kampfgeist. Diese Menschen hatten sein Leben und das Leben seiner Kinder zerstört. Sie waren vor Entführung und Körperverletzung nicht zurückgeschreckt. Und sie hatten zweiundachtzig Menschen fünf Jahre lang gefangen gehalten. Solche Machenschaften gingen nicht nur ihn und seine Kinder, sondern auch die Öffentlichkeit etwas an. Maria teilte seine Meinung. Beate und den Kindern erzählte er nichts. Es gab keinen Grund, sie unnötig in Gefahr zu bringen und das Leben der Mädchen vielleicht zum zweiten Mal zu zerstören.
Maria ihrerseits wurde schon lange nicht mehr überwacht. Mehr als sechs Jahre nach dem verhängnisvollen Ereignis waren die Verantwortlichen davon überzeugt, die Lehrerin stelle keine Gefahr mehr dar. Sie hatte ja keine weitergehenden persönlichen Beziehungen zu den anderen Reisenden gehabt. Wie sich nun herausstellte, war diese Einschätzung falsch, denn Maria war Franka zwar nur kurz begegnet, konnte aber ihr Misstrauen der ganzen damaligen Situation gegenüber auch Jahre später nicht ablegen. Dann ihr Besuch bei Victor, Frankas Ehemann, der Überfall und die Entführung von Victors Tochter. Victor, seiner Kinder und auch ihrer eigenen Kinder zuliebe, hatte sie von weiteren Nachforschungen abgesehen. Aber nun erwachte Marias Kampfgeist wieder. Über Victors Kontaktmann war sie in den Kreis derjenigen aufgenommen worden, die die notwenigen Informationen erhielten, um aktiv an dem Ziel, die Verantwortlichen von World Science vor Gericht zu bringen, mitzuarbeiten. Marias Kinder waren inzwischen erwachsen, ihr Mann wollte von der ganzen Sache zwar nichts wissen, behinderte Maria aber auch nicht. Für ihn schien seine Frau an eine Verschwörungstheorie zu glauben, die er nicht ernst nehmen konnte. Den Überfall auf Maria hatte er natürlich hautnah miterlebt, hielt das verstörende Erlebnis aber für einen, ja, Überfall eben. So etwas kam leider immer wieder vor. 
Maria hatte es zu ihrer Aufgabe gemacht, möglichst viele der »früheren« Familien zur Unterstützung zu bewegen. Um dies zu bewältigen, hatte sie bei ihrem Arbeitgeber ein Sabbatjahr beantragt, das ihr auch gewährt wurde. Daraufhin arbeitete sie eine Reiseroute aus, die sie in verschiedene Länder der Welt führte. Viele der Menschen, mit denen Maria dort in Verbindung trat, teilten ihre Empörung. Manche hatten freilich ein neues Leben angefangen und waren an der Vergangenheit nicht mehr interessiert. Einige hatten inzwischen, genau wie Franka, neue Partner, waren sie doch vom endgültigen Verlust der vorigen ausgegangen. Jedoch gab es eine Gemeinsamkeit, die diese Menschen miteinander verband: Alle hatten Angst. Maria ließ sie nicht im Zweifel darüber, wozu die Organisation fähig war. Aber trotz dieser Furcht, die viele einschüchterte, gelang es Maria, einige Menschen zu finden, die bereit waren, bei dem geplanten Feldzug mitzumachen. Gregs Frau beispielsweise zögerte keine Sekunde. Terences Sohn Joshua, der sich zwar an seinen Vater kaum erinnern konnte, wurde ein wichtiger Kontaktmann. In den Dienst an der Sache stellte sich auch Muhammeds einflussreiche und weit verzweigte Familie: Für sie war es eine Frage der Ehre, den Sohn, Bruder oder Vetter in die Familie zurückzuholen und zu rächen.
So verging ein weiteres Jahr.

Zwischen Tom und Alice stand es schlecht. Zwar hatte Alice empört die Sorge der anderen zurückgewiesen, sie könne, um das Projekt zu torpedieren, zur Verräterin werden. Tom aber nahm sie seine Haltung sehr übel. Alice war der Meinung, er müsste ihr und seinen Kindern eine höhere Wichtigkeit beimessen als seinem, wie sie es nannte, abstrakten Gerechtigkeitsgefühl. Toms Versuche, sich zu rechtfertigen, scheiterten an Alices Weigerung, ihm zuzuhören. So redeten sie kaum mehr miteinander, gingen sich aus dem Weg und schliefen in getrennten Zimmern. Alice versuchte, die Kinder von ihrem Vater fernzuhalten – und auch von Malcolm und Amy, weil sie dort automatisch mit Franka zusammengetroffen wären und zudem mit Tom, der sich mehr und mehr bei seinen Nachbarn aufhielt. Stattdessen knüpfte sie Kontakte zu anderen Frauen mit Kindern. John und Winston litten sehr unter der angespannten Atmosphäre. Sie wollten mit Malcolm und Amy spielen, vor allem aber sehnten sie sich nach ihrem Papa.
Auf Franka war Alice besonders schlecht zu sprechen. Frankas Wunsch, mit ihrer früheren Familie Kontakt aufzunehmen, sah sie als Ursache allen Übels an. Sie beschuldigte Franka offen, Terence, Malcolm und Amy damit genauso zu verraten, wie Tom sie und ihre Kinder verriet.
Franka hatte irgendwann damit aufgehört, sich zu verteidigen. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob Alice nicht doch recht hatte. Das Problem schien nicht lösbar. Nahm sie Kontakt zu Victor, Philippa und Valerie auf, verriet sie Terence, Malcolm und Amy. Nahm sie keinen Kontakt auf, verriet sie ihre frühere Familie. Victor wusste inzwischen, dass sie lebte, er konnte kein neues Leben aufbauen in der Gewissheit ihres Todes. Rechtlich war Franka immer noch mit Victor verheiratet. Gerade diese Tatsache sprachen Franka und Terence nie an, denn sie war ihnen beiden ganz besonders schmerzlich bewusst.

*Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo

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