Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Seit drei Tagen war Greg wieder zu Hause in Johnsonville. Seinen Impuls, unmittelbar nach seiner Rückkehr Kontakt mit Andreaz aufzunehmen, hatte er unterdrückt und stattdessen einen genauen Plan ausgearbeitet, wie er vorgehen wollte. Er würde seine Nachricht an ihn so formulieren, dass Andreaz nichts vorgeworfen werden konnte, falls sie sich irrten und die Zahlenfolge doch nichts oder etwas anderes bedeutete. Im nächsten Schritt würde er es dem Programmierer überlassen, entsprechend zu antworten. Auch hatte er das Löschen des möglicherweise stattfindenden Informations-Austausches sorgfältig durchdacht. Dafür war eine mehrere Schritte erfordernde Prozedur nötig, bei der ihm kein Fehler unterlaufen durfte.
Heute nun war es soweit. Um 5 Uhr 25 Ortszeit – diese Uhrzeit hatte Greg anhand der Ortszeit an Andreaz' Wohnort in Philadelphia berechnet – plus zwei Minuten Sicherheitspuffer gab er die folgenden Worte in seinen Computer ein und sandte sie an Andreaz Vukinokz' private Hypernetzadresse:
Hallo Andreaz! Wie geht es dir? Was machen deine Enkel? Gruß Greg
Während er im Anschluss auf eine Antwort wartete, wurde ihm abwechselnd eiskalt und so heiß, dass ihm Schweißperlen in den Nacken tropften.
Nach einer gefühlt endlosen Minute tauchte auf seinem Bildschirm diese Antwort auf:
Greg! Na endlich! Du hast aber lange gebraucht! Wir haben noch sechs Minuten Zeit, danach bleiben für dich noch zwei Minuten, um deine Spuren zu löschen. Verwende das Jokolew-Prinzip, das ist am sichersten! Ich schicke dir einen Anhang. Druck ihn aus. Da stehen alle Informationen drin, die wir bis jetzt haben. Das reicht für den Anfang.
Greg schrieb in fieberhafter Eile:
Okay! Franka ist Victor, ihrem früheren Mann, in Auckland begegnet. Er ist dort im Grand Millennium Auckland abgestiegen. Falls er schon wieder nach Hause geflogen ist: Heinrich-von-Kleist-Straße 25, 79106 Freiburg, Deutschland. Sorge dafür, dass er keinen Blödsinn macht.
Verdammt! Mach ich
kam die Antwort umgehend zurück.
Greg druckte den Anhang aus und löschte danach alle Dateien. Er schaffte es vier Minuten vor Ablauf der Zeit und war hinterher schweißgebadet. Mit zitternden Händen nahm er die Blätter aus dem Drucker.
Hallo Greg!
Ich halte mich nicht mit Entschuldigungen auf, nur so viel: Ich wurde lange Zeit getäuscht, genau wie ihr. Auch ich war der Überzeugung, die Erde würde durch einen Meteoriten zerstört und ich könnte dabei helfen, euch ein Überleben im All zu ermöglichen.
Professor James Davidson war mein Idol. Er hat tausenden von Menschen das Leben gerettet und ihnen eine lebenswerte Zukunft geboten. Als er mich fragte, ob ich für ihn arbeiten wollte, konnte ich es kaum fassen. Er beschäftigt nur die Besten. World Science faszinierte mich. Wissenschaft ohne Grenzen, ohne auf Fördergelder angewiesen zu sein oder seine Seele an einen Geldgeber verkaufen zu müssen – all das verfehlte seine Wirkung auf mich nicht. Zu spät habe ich erkannt, dass James eine Grenze überschritten hatte. Früher glaubte er, Gott zu dienen, heute glaubt er, Gott ebenbürtig zu sein. Als mir klar wurde, dass er das Projekt trotz der nicht mehr drohenden Gefahr als Simulation durchzuführen gedachte, wollte ich aussteigen. Unvorsichtigerweise kündigte ich an, ihn anzuzeigen. Du kannst dir denken, was dann passierte: Er bedrohte meine Familie und zwang mich, weiter mitzumachen. Ich wurde überwacht. Der wiederkehrende String war das Einzige, was ich einbauen konnte. Sie haben mir geglaubt, als ich ihn als für die Überwachung notwendig darstellte. Und das war ja auch nicht falsch. Ich hoffte, ihr würdet euch irgendwann fragen, wozu eine Überwachung notwendig sein sollte, wenn die Erde zerstört und ihr die einzigen Überlebenden seid. Das Entfernen der Raumanzüge und Raumgleiter diente nur dazu, einen Ausstieg, bei dem ihr natürlich unweigerlich entdeckt hättet, dass ihr euch nicht im Weltraum befindet, hinauszuzögern. Ich habe davon erst nach dem »Start« erfahren.
Aber nun lassen wir die Vergangenheit vorerst ruhen und wenden uns der Zukunft zu. Was können wir tun? Ich habe dir die Zahlen auf meinem Arm gezeigt in der Hoffnung, du würdest sie richtig interpretieren. Wenn du dies hier nun liest, dann hat zumindest dieser Teil meines Plans geklappt. Ich habe eine Unterbrechung in das Überwachungsprogramm eingebaut. Jeden Tag von 1 Uhr 23 bis 1 Uhr 33. In dieser Zeit können wir gefahrlos kommunizieren, sofern bis um 1 Uhr 33 alle Spuren getilgt sind.
Unser Bestreben sollte es sein, die Führungsgruppe, die ursprünglich aus zehn Personen bestand und sich die Ritter der Tafelrunde nennt (du kennst bestimmt die Sage um König Artus), zur Verantwortung zu ziehen. Ich trug in dieser Gruppe den Namen Lancelot, bevor ich dann ausgestiegen bin. Ein Kollege, der ebenfalls aussteigen wollte, wurde ermordet. Warum ich noch am Leben bin, das weiß ich nicht. Vermutlich brauchen sie mich für das Überwachungsprogramm. Die übrigen noch lebenden acht Personen, aus denen sich die Tafelrunde zusammensetzt, sind die einzigen Menschen, die von Davidsons Plänen wussten und diese gutgeheißen haben. Ihr habt sie bereits kennengelernt. Hier nochmals die Namen, Fachgebiete und Nationalitäten:
Sir James Davidson (König Artus), Volkswirtschaftler, Großbritannien
Anja Klinger (Tristan), Raumfahrttechnik, Deutschland
Aang Sun (Parceval), Wirtschaftswissenschaft, China
Ngatsetungue Maova (Galahad), Maschinenbauingenieur, Spezialgebiet Raketenabwehrtechnik, Namibia
Edvard Karlson (Iwein), Soziologie und Verhaltensforschung, Norwegen
Pierre Langot (Gawan), Geheimdienst und Staatssicherheit, Frankreich
Tarik Prasad (Mordred), ebenfalls Staatssicherheit, Indien
Sonja Speranski (Bors), Physik, Spezialgebiet Gravitation, Russland
Unser erstes Ziel muss sein, genügend belastendes Material gegen die Ritter (ich nenne sie der Einfachheit halber so) zusammenzubekommen und eine Klage vor dem Weltgerichtshof anzustrengen. Seit ich mich gegen diese Führungsgruppe positioniert habe, wurde ich natürlich kaltgestellt und nur noch zu den Aufgaben herangezogen, für die ich unentbehrlich war. Dennoch ist es mir gelungen, Material zu sammeln und auch ein paar Wissenschaftler von World Science, die nicht direkt an dem Projekt beteiligt waren, zu überzeugen und auf meine Seite zu ziehen.
Wenn wir genügend Beweise haben, brauchen wir Leute aus eurer Gruppe, die bereit sind, beim Weltgerichtshof Anzeige zu erstatten. Ich hoffe, es finden sich welche, die dieses Risiko auf sich nehmen. Es ist ungefähr so, als ob wir es mit der Mafia des Zwanzigsten Jahrhunderts aufnehmen würden. Die Arme dieser Ritter sind lang, ihre Netzwerke verzweigt. Da heißt es dann wirklich, so lange am Leben zu bleiben, bis die Verhandlung stattfindet. Klingt nicht sehr ermutigend, ich weiß.
Genug für heute.
Natürlich bin ich jeden Tag zur verabredeten Zeit online. Da die Zeit begrenzt ist, stellt am besten auch alles als Dokumentendateien zusammen, die ihr mir schicken könnt.
Bis demnächst
Andreaz
Greg atmete so heftig, als hätte er einen Marathon hinter sich. Seine Freunde würden übermorgen wieder nach Hause zurückkehren. Vorher konnte er mit ihnen keinen Kontakt aufnehmen. Den Rest des Tages verbrachte er mit Überlegungen, was er Andreaz antworten sollte.
Alices Reaktion war heftig und vorhersehbar.
»Du wirst auf keinen Fall derjenige sein, der Anzeige erstattet!«, ließ sie Tom wissen.
»Aber natürlich werde ich das!«, entgegnete Tom scharf. »Sobald wir genügend Material zusammen haben, ist der Moment gekommen. Und dann müssen wir versuchen, alle anderen der Raumschiffbesatzung davon zu überzeugen, sich uns anzuschießen. Je mehr wir sind, desto größer ist unsere Chance!«
Terence warf Alice einen entschuldigenden Blick zu und pflichtete dann Tom bei:
»Wenn wir nur wenige sind, haben wir keine Aussicht auf Erfolg. Die sogenannten Ritter der Tafelrunde werden nicht davor zurückschrecken, möglichst viele durch Drohungen zur Aussage zu bringen, sie hätten alle freiwillig bei dem Test mitgemacht. Wir müssen zahlreich sein, um das Gericht zu überzeugen.«
»Ich mach' nicht mit!«, schrie Alice. »Ihr opfert die Sicherheit eurer Kinder einem abstrakten Gerechtigkeitsgefühl. Mir sind meine Kinder wichtiger. Eure Gerechtigkeit ist mir scheißegal.«
Wieder stürmte sie aus dem Raum, wieder knallte sie die Tür heftig hinter sich zu. Die anderen blickten einander betreten an.
Franka reagierte als erste: »Tom, du musst sie überzeugen! In ihrem momentanen Zustand ist sie gefährlich. Sie könnte uns verraten!«
»Das würde sie niemals tun!«, behauptete Tom, jedoch ließ seine Stimme erkennen, dass er sich in Wirklichkeit da doch nicht so sicher war. Er seufzte und folgte dann seiner Frau.
Bedrückt meinte Franka: »So wird es bei den meisten sein. Die unangenehmen Erinnerungen und die Wut sind inzwischen verblasst. Nun gibt es ein neues Leben in Wohlstand und Sicherheit, vielen geht es heute besser als je zuvor.«
»Ich bin bei der Sache dabei, du, Tom und Terence ebenfalls«, widersprach Greg. »Derek macht bestimmt auch mit. Bei Melanie bin ich mir nicht so sicher. Sie wird wohl eher Alice unterstützen, könnte ich mir vorstellen.«
»Warten wir's ab! Bevor wir in die Offensive gehen, dürfen wir sowieso nicht zu den anderen Kontakt aufnehmen. Wie sie dann reagieren werden, wird sich zeigen.«
Terences gewohnt beruhigende Art verfehlte ihre Wirkung auf Franka nicht.
»Allerdings hat Alice nicht ganz unrecht«, sagte er. »Wir müssen uns einen Plan zurechtlegen, wie wir die Sicherheit unserer Kinder gewährleisten können. Wenn die Bande auch nur eines von ihnen in die Finger bekommt, dann sind wir geliefert. Keiner von uns wird ein Kind opfern, um Gerechtigkeit zu bekommen!«
Schon bei dem Gedanken schauderte Franka.
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