Schaltjahr - Kapitel 7

 

Mona Kim Bücher Schaltjahr Roman

Thomas Griesser war zu einem seiner langen und einsamen Spaziergänge aufgebrochen. Er liebte diese Wanderungen, bei denen er sich körperlich abreagieren und seinen Geist, ungehindert durch das Reden anderer Menschen, schweifen lassen konnte.
Früher waren die Kinder manchmal mitgekommen. Heute hatten sie andere Interessen. Mona und Pascal hatte Thomas immer gerne dabeigehabt, seiner Kinder wurde er nie müde. Aber alleine zu sein hatte in seinen Augen durchaus auch Reiz. Ann-Katrin lagen Spaziergänge nicht. Schon gar nicht einsame Spaziergänge mit einem Mann, der kein Wort sprach und bei ihrem Geplapper manchmal den Eindruck erweckte, nicht richtig zuzuhören, sondern mit den Gedanken weit weg zu sein.
Thomas Griesser war einer der wenigen Menschen, die mit sich selbst und mit ihrer Umwelt im Einklang lebten. Aufgewachsen als einziger Sohn von gebildeten Eltern, die ihn über alles liebten und daran auch keinerlei Zweifel aufkommen ließen, hatte er ein Selbstwertgefühl entwickelt, wie es nur geliebten Kindern zu eigen ist und sich in späteren Jahren kaum mehr lernen lässt. Gutaussehend und intelligent, musste er weder beruflich noch privat je gegen größere Probleme ankämpfen. Mädchen, an denen er Gefallen fand, hatte er schon immer ohne besondere Anstrengungen für sich gewinnen können. Den Arztberuf wählte er fast zwangsweise: Es wäre schade gewesen, die guten Abiturnoten zu verschwenden, mit denen er selbst die hohe Hürde des Numerus Clausus, die vielen anderen das Medizinstudium verwehrte, problemlos überwinden konnte. Kurz hatte Thomas zwischen diesem und dem Studium eines naturwissenschaftlichen Faches geschwankt und sich der besseren Berufschancen wegen für die Medizin entschieden. Die Neurologie mit ihren komplizierten biochemischen Abläufen bedeutete in gewisser Weise einen Kompromiss zwischen seinen Neigungen. Menschen zu helfen war nie sein erster Antrieb gewesen und war es vermutlich bei den wenigsten wirklich guten Ärzten. Die Arbeit machte ihm Spaß und seine Kompetenz hatte ihm in Fachkreisen schnell einen Namen geschaffen. Eine gelegentliche Ungeduld mit Patienten, die selbstsüchtig ihre Krankheit allzu offensichtlich genossen, konnte Thomas gut verbergen. Oft entschädigten ihn wirklich interessante Fälle für die Hypochonder. Hin und wieder kamen Patientinnen zu ihm, die eindeutig nicht von seiner ärztlichen Kunst, sondern von seinem guten Aussehen profitieren wollten. Er schaffte es, sie sich vom Hals zu schaffen, ohne sie zu brüskieren. Zu Hilfe kam ihm dabei ein Kollege, dessen Praxis in einer Kleinstadt, fernab aller Hauptverkehrsadern, unter permanentem Patientenmangel litt. Keine seiner eingebildeten Kranken konnte widerstehen, wenn er sie an seinen Kollegen überwies, der zufälligerweise genau auf diesem Gebiet besonders kompetent war.
Als er Ann-Katrin kennenlernte, war er gerade so weit, sich mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern eine eigene Praxis einzurichten. Einer Heirat stand nichts im Wege und das hübsche, liebenswerte Mädchen war eine geeignete Kandidatin. Thomas hatte sich schon lange eingestanden, dass nicht zuletzt der despotische Vater seiner Freundin für ihn ein Grund gewesen war, Ann-Katrin die Heirat vorzuschlagen. Von Anfang an hatte ihn eine tiefe Abneigung gegen diesen selbstgefälligen, dummen Menschen ergriffen und ihm die Tochter wegzunehmen, bereitete Thomas eine eigenartige, fast perverse Befriedigung. Mit seiner unerschütterlichen Höflichkeit und guten Erziehung wies er seinen Schwiegervater schmerzlicher in dessen Grenzen, als es jede Auseinandersetzung vermocht hätte. Thomas genoss diese Zwischenfälle. Er, der seiner Frau gegenüber ein liebevoller und zärtlicher Ehemann war, konnte es nicht lassen, seinen Schwiegervater, wenn er mit diesem alleine war, durch Bemerkungen zu reizen, die diesen glauben ließen, seine über alles geliebte Tochter wäre für den Ehemann nicht gut genug. Thomas' Schwiegermutter genoss diese Zwischenfälle ebenfalls. Zwar hätte sie dies niemals zugegeben, aber ihr Gesichtsausdruck verriet sie. Frau Beck spürte das gute Verhältnis zwischen den Eheleuten und erkannte die Sticheleien als makabres Spiel, das ihr, die von ihrem Mann seit Jahren unterdrückt wurde, eine tiefe Befriedigung bereitete und sie für manche erlittene Schmach entschädigte. Die kleine Schwester seiner Frau wiederum himmelte ihren Schwager ungeniert an und beneidete ihre Schwester Ann-Katrin grenzenlos. Doch Thomas ließ die um zehn Jahre jüngere Andrea gekonnt abblitzen. Sie war ihm unsympathisch und ihrem Vater zu ähnlich. So war das nach außen hin untadelige Verhältnis zwischen den Familien unter der Oberfläche von Abneigungen, Neid, Missgunst und auf Seiten des alten Becks sogar von tiefem Hass geprägt.
Früh spürten die beiden Kinder Patrik und Mona diese Unterströmungen und wandten ihre Zuneigung, obwohl sie vom Großvater mütterlicherseits über alle Maßen finanziell verwöhnt wurden, Thomas Eltern zu, die sie Omi und Opi nannten, während sie zu den Becks immer Großmutter und Großvater sagten. Oft beklagte sich der Großvater bei Ann-Katrin über die negative Beeinflussung der Kinder von Seiten seines Schwiegersohnes. Doch seine Tochter wies diese Anschuldigungen jedes Mal als von ihm nur eingebildet zurück. Um in Thomas' unerschütterlicher Höflichkeit eine Provokation zu sehen, war mehr Einfühlungsvermögen in verborgene Stimmungen nötig, als Ann­-Katrin zu eigen war.

Ann-Katrin Griesser war uneingeschränkt glücklich. Sie hatte einen wunderbaren Ehemann und zwei wunderbare Kinder. Mehr konnte sich eine Frau ihrer Ansicht nach nicht wünschen. Und die Gesellschaft gab ihr Recht. Wohlhabend, gutaussehend und im Einklang mit der traditionellen Frauenrolle lebend, eckte sie nirgends an. Zahlreiche Freund- und Bekanntschaften ergaben sich zwangsweise aus den vielen Einladungen, die von den Griessers ausgesprochen und von den Eingeladenen erwidert wurden. Tennisklub, Golfklub und Reitverein waren selbstverständlich. Auch zu Hause herrschte Harmonie. Die wohlgeratenen Kinder gaben kaum Anlass zur Sorge oder gar Streit. Finanzielle Probleme gab es keine. Thomas war ein hervorragender Liebhaber und Ann-Katrin sah keine Veranlassung, ihre sowieso eher bescheidenen sexuellen Wünsche außerehelich zu befriedigen.

In dieser Hinsicht war Thomas allerdings anspruchsvoller. Sex mit seiner Frau genoss er, aber nach einigen Ehejahren langweilte es ihn doch etwas und er begann sich ohne Hast oder besondere Anstrengung anderweitig umzusehen. Ärztekongresse und Tagungen boten genügend Möglichkeiten. Dabei genoss er den Nervenkitzel der verbotenen Beziehung ebenso wie den Sex. Von Gewissensbissen wurde Thomas Griesser nicht geplagt. Eine Aufdeckung seiner außerehelichen Eskapaden war eher unwahrscheinlich, da er sich immer verheiratete Frauen aussuchte, denen Geheimhaltung ebenso wichtig war wie ihm. Und niemals ließ er sich mit Patientinnen ein.
Sollte aber tatsächlich einmal, durch unglückliche Umstände, einer seiner Seitensprünge Ann-Katrin zu Ohren kommen, war er sicher, mit einem reumütigen Geständnis und der erforderlichen Zerknirschung die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Der äußere Schein einer heilen Welt war seiner Frau überaus wichtig und sie war sicher zu einigen Zugeständnissen bereit, um diesen zu bewahren.

Es war Mittwochvormittag. Mittwochs war die Praxis geschlossen. Am Nachmittag hatte Thomas im Kreiskrankenhaus ambulante Sprechstunde, aber der Vormittag stand zu seiner freien Verfügung. Mona war in der Schule und Ann-Katrin im Fitnessklub. Pascal arbeitete. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr hatte der Junge in allen Sommerferien wenigstens zwei Wochen gejobbt. Es gab immer Wünsche, die er sich mit diesem zusätzlichen Geld erfüllen konnte. Obwohl er seinem Großvater gegenüber diese Wünsche nur hätte andeuten müssen, zog er es vor, sie sich selbst zu erwirtschaften. 
Thomas hatte lange und genüsslich ausgeschlafen, war ein paar Runden im eigenen Schwimmbad geschwommen und dann, nach dem Frühstück, zu seiner Wanderung aufgebrochen, die er bis zum Mittagessen auszudehnen beabsichtigte.
Dabei dachte Thomas Griesser an Rena Walter. Seit sie damals an ihm vorbeigelaufen war, dachte er auf jeder seiner Wanderungen an diese Frau. Ihre kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen hatten damals schon eine starke erotische Wirkung auf ihn ausgeübt. Seitdem war er noch mehrmals mit Rena zusammengetroffen. Zuerst auf der Party in seinem Haus, dann, am nächsten Tag am See und manchmal, wenn er abends früher nach Hause kam, konnte er beobachten, wie sie mit seiner Frau zusammen im Schwimmbad ihre Bahnen zog. 
Schon am Abend der Party hatte er sich zu seinen Gastgeberpflichten, die ihm sonst wie selbstverständlich von der Hand liefen, zwingen müssen. Am liebsten hätte er sich den ganzen Abend nur mit Rena beschäftigt, um exakt zu sein: in einem Bett mit Rena beschäftigt. Doch außer ein paar Blicken, die er ihr zuwarf, und ein paar Worten, die er mit ihr wechselte, hatte er sich nichts erlaubt.
Tags darauf, am Baggersee, kostete es ihn große Überwindung, sie nicht einfach in die Arme zu nehmen und zu küssen. Einige Zeit hatte er sie betrachtet, bevor sie aufgewacht war. In Gedanken hatte er schon unzählige Male mit ihr geschlafen, waren seine Hände über ihre Brüste und Hüften geglitten. Rena würde seine Hände nicht abwehren, dessen war er sich sicher. Das Anziehungsfeld zwischen ihnen war magnetisch stark und er wunderte sich jedes Mal, warum seine Frau diese Spannung nicht fühlte. Für ihn war es nur noch eine Frage der passenden Gelegenheit.
Als er die laufende Gestalt näherkommen sah, an der Seite den Hund, blieb er stehen. Er hatte gehofft, Rena zu begegnen. Mona hatte ihm von ihrem vormittäglichen Lauftraining erzählt. Troop war inzwischen groß und schnell genug, um mithalten zu können. Als Rena ihn erkannte, blieb sie zuerst abrupt stehen und kam dann langsam, fast zögernd näher. Troop hatte diese Hemmungen nicht. Enthusiastisch begrüßte er den Mann. Spaziergänge mit Mona und Thomas waren seinem Hundegehirn in angenehmer Erinnerung geblieben und dieser Mensch stand in seiner Gunst ganz weit oben. Thomas liebte alle Tiere, aber ganz besonders Hunde. Gerne hätte er selbst einen gehabt, aber Ann­-Katrin sträubte sich und da er oft lange von zu Hause abwesend war, empfand er es als ungerecht, sich einen Hund anzuschaffen und ihn dann seiner Frau zur Pflege aufzuhalsen. Mona bezog er in seine Überlegungen nicht ein. Es war abzusehen, wann auch sie nur noch an den Wochenenden zu Hause sein und der Hauptteil der Arbeit wieder an Ann-Katrin hängen bleiben würde. Den Leonberger hatte er sofort ins Herz geschlossen. Durch ihn hatte er die Gelegenheit, hin und wieder mit einem Hund spazieren zu gehen, ohne die Nachteile des Hundehaltens in Kauf nehmen zu müssen. Außerdem stellte er eine Verbindung zu Rena dar.
Bis Rena herangekommen war und auf ihn heruntersah, beschäftigte er sich mit dem Hund. Dann stand er auf und ohne zu zögern oder ein Wort zu sprechen nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Rena enttäuschte ihn nicht. Leidenschaftlich erwiderte sie den Kuss und als sich ihre Lippen trennten, atmeten beide schwer.
»Hier ist nicht der richtige Ort«, meinte Thomas bedauernd und schob Rena widerstrebend von sich. Sie waren keine Teenager, die sich auf dem Waldboden vergnügten und die Gefahr der Entdeckung durch Spaziergänger als zusätzlichen Reiz empfanden. »Aber die richtige Zeit und der richtige Ort werden kommen, darauf kannst du dich verlassen.«
Er strich ihr sanft über die Wange und entfernte sich dann schnell in die Richtung, aus der sie gekommen war. Unsicher lief ihm Troop ein Stück nach, blieb dann aber, als Rena nicht mitkam, zögernd und unschlüssig stehen. Erst als Rena »Komm!« rief und in die Gegenrichtung zu laufen begann, beeilte er sich, aufzuholen.

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