Marcia

 

Mona Kim Kurzgeschichten Marcia

Montagmittag, zwölf Uhr. Sie saßen in der Kantine. Jürgen, Rudolf und noch ein paar andere. Doch die waren unwichtig. Jürgen unterhielt sich nur mit Rudolf. Beschrieb ihm die wahnsinnig tolle Frau, die er am Samstagabend in der Disco kennengelernt hatte. Beschrieb sie in allen Einzelheiten, wozu er die Unterstützung seiner Hände brauchte.
»Meine Knie wurden weich wie Gummi, als ich sie auf mich zukommen sah. So habe ich mir immer eine Fata Morgana vorgestellt. Ein wahr gewordener Traum! Sie ist groß, größer als ich. Natürlich nur mit hohen Absätzen. Jedenfalls, das Erste, auf was ich blicke, sind Möpse. Ich sag dir, solche Möpse«, eine Handbewegung verdeutlichte die gemeinte Größe, »verpackt in grüne Seide. Ich hätte nie gedacht, dass ein hochgeschlossenes Kleid so sexy aussehen kann. Ich musste meine Hände in die Hosentaschen stecken, damit sie sich nicht selbstständig machten.«

Rudolf grinste anzüglich. 

»Da ich ihr ja nicht pausenlos auf den Busen starren konnte, wanderte mein Blick – unter Anstrengung, kann ich dir sagen – nach oben. Es hat sich gelohnt. Schwarzes, langes Haar, Augen, so grün wie ihr Seidenkleid, mandelförmig und groß wie Teiche. Bodenlose grüne Teiche. Der Mund ...« Jürgen verdrehte schwärmerisch die Augen nach oben und es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wieder so weit gefasst hatte, um fortzufahren.

»Ja, und dann kommt das Tollste. ›Ich bin Marcia. Hast du Feuer für mich?‹, fragt sie! Kannst du dir das vorstellen? Mich, ausgerechnet mich bittet sie um Feuer! Um mich waren mindestens zehn Kerle, die Marcia alle um Feuer hätte bitten können. Und sie sucht sich mich aus!«

Die Erinnerung an diese ungeheuerliche Begebenheit dämpfte Jürgens Stimme vor Ehrfurcht zu einem Flüstern.

»Ich gab ihr Feuer. Verzweifelt überlegte ich, was ich sagen sollte. Irgendetwas Weltbewegendes musste es sein, das Marcia dazu veranlassen würde, bei mir stehen zu bleiben und nicht einfach wieder im Gedränge unterzutauchen. Am liebsten hätte ich sie festgehalten. Aber mein Gehirn war leer, absolut leer. Nicht ein einziger Gedanke kam zum Vorschein. Ich verfluchte mich. Jeden Augenblick konnte sich dieses Geschöpf umdrehen und entschweben und ich brachte kein einziges Wort heraus. Es war zum Verzweifeln!«

Die Verzweiflung spiegelte sich für kurze Zeit auf Jürgens Gesicht und auf den Gesichtern seiner Zuhörer, die gebannt jedem Wort lauschten. 

»Da fragte sie: ›Tanzen wir?‹ Ich brachte nur ein jämmerliches Nicken zustande. Marcia drückte die gerade angezündete Zigarette wieder aus und zog mich mit auf die Tanzfläche. Weißt du, was das bedeutet? Sie hat die Zigarette wieder ausgedrückt! Sie wollte gar nicht rauchen. Sie wollte mich ansprechen! Marcia hat sich in der Disco umgesehen nach einem Typen, den sie ansprechen könnte, und ihr Blick ist ausgerechnet an mir hängen geblieben.«

Rudolf musterte Jürgen mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie kannten sich schon seit Jahren, sonst hätte er Jürgens Geschichte für Aufschneiderei gehalten. Aber Jürgen war kein Aufschneider. Im Grunde war er ein eher langweiliger Typ. Keiner, den sich eine solche Superbiene aussuchen würde. Um Jürgen zu beschreiben, gab es eigentlich nur einen passenden Ausdruck: Ohne besondere Kennzeichen. Dennoch schien ein Wunder geschehen zu sein, ein Wunder, das sein Freund eben ungläubig und ehrfürchtig beschrieb.

»Und? Hast du sie mit nach Hause genommen?« 

Jürgen hatte für diese plumpe Vorgehensweise nur Verachtung übrig.

»Du spinnst wohl! Wir haben den ganzen Abend getanzt. Dann hat Marcia sich mit mir verabredet. Nächsten Samstag. In derselben Disco. Und dann war sie plötzlich verschwunden!« 

Jürgen hatte sein Essen nicht angerührt. Ein seliger Ausdruck der Vorfreude ließ seine Gesichtszüge aufleuchten.

»Von mir aus könnte es jetzt einen Schlag tun und wieder Samstag sein!«

Einen Schlag tat es nicht, aber der Gong, der die Mittagspause für die erste Schicht beendete, erklang. Widerwillig stapelten sie das Geschirr auf die Tabletts, warfen die zerknüllten Servietten obendrauf und schoben sich in Richtung Tablett-Rückgabeband. 

Rudolf stieß Jürgen an: »Da drüben ist sie wieder. Sie starrt dich die ganze Zeit an!«

Jürgen war in Gedanken immer noch bei seiner neuen Eroberung und blickte deshalb hoffnungsvoll ungläubig in die von seinem Freund angedeutete Richtung. Worauf die Hoffnung schlagartig von Enttäuschung abgelöst wurde.

»Ach, die meinst du! Einen Augenblick dachte ich, SIE wäre hier.«

Die war eine Mitarbeiterin der Buchhaltung. Bei der letzten Weihnachtsfeier hatte der Zufall sie neben Jürgen platziert. Seither verfolgte sie ihn mit schmachtenden Blicken. Seine Freunde zogen ihn ständig damit auf. Manchmal war es ihm lästig. Meistens bemerkte er sie gar nicht. Wenn Jürgen aufstand, um sich an der Theke noch etwas zu holen, stand sie auch auf und stellte sich hinter ihm an. Seine Kollegen amüsierten sich köstlich darüber. Sie sprach ihn dann mit ihrer vor Verlegenheit leisen und leicht zittrigen Stimme an. Etwas Belangloses. Jürgen antwortete höflich, aber kurz. Irgendwie genoss er es, Zielscheibe ihrer Begierde zu sein, auch wenn sie nicht viel hermachte. Den dünnen, eckigen Körper immer in Hosen gehüllt, Busen: nicht der Rede wert! Dunkles, glattes und ziemlich feines Haar, das ihr, wenn sie es hinten zusammenband, etwas  Lehrerinnenhaftes verlieh. Den Lehrerinnentyp unterstrich sie noch durch eine dicke, altmodische Brille. Buchhaltung eben. Nein, er genoss zwar ihre Aufmerksamkeit, hütete sich aber, sie in irgendeiner Weise zu ermutigen. Auch jetzt sah er geflissentlich in eine andere Richtung, als ob er sie nicht gesehen hätte. Bei dem Gedränge war das kein Problem.

Auch die längste Woche ist irgendwann zu Ende und es wurde wieder Samstag. Den ganzen Tag überlegte Jürgen, was er anziehen sollte. Unter den aus dem Schrank gerissenen Hosen und Hemden war nichts annähernd Befriedigendes und so entschloss er sich, einkaufen zu gehen. Aber was? Eine schwarze Lederhose? Ziemlich angeberisch. Neue Jeans? Da konnte er gleich die alten anziehen, bei der schummrigen Beleuchtung in der Disco sah man den Unterschied sowieso nicht. Er entschied sich für eine weiße Leinenhose. In dem fluoreszierenden Licht würde sie blauviolett schimmern. Und für ein dunkelblaues Hemd. Die Ärmel krempelte er halb hoch. Das sah irgendwie männlich aus. Die Farbe ließ seine Augen blauer erscheinen, bildete er sich ein, als er fertig angekleidet, zwei Stunden zu früh, vor dem Spiegel stand. Auch ein neues Rasierwasser hatte Jürgen sich gegönnt: ›Elements‹ von Hugo Boss. 

Jürgens geheime Befürchtung bewahrheitete sich nicht: Marcia kam. Sie tanzten den ganzen Abend. Er durfte sie küssen. Und er durfte sie nach Hause begleiten. Ein Stück weit wenigstens. Am Bahnhof stieg Marcia in ein Taxi und fuhr davon. Bis zum nächsten Samstag. Auf Jürgens Anregung, sich während der Woche zu treffen, reagierte sie nicht, lächelte nur.

Der Kuss half Jürgen über die Woche hinweg. Seine Kollegen hänselten ihn gutmütig, wenn er mit abwesendem Gesichtsausdruck vor dem Montageband stand, das Werkzeug in der Hand, aber unfähig, auch nur eine Schraube anzuziehen. Ein paar hatten mit am Tisch gesessen. Jürgens Verliebtheit hatte sich herumgesprochen. Sie erledigten seine Arbeit mit, warnten ihn, wenn der Meister nahte, und achteten darauf, dass er wenigstens dann den Anschein von intensiver Tätigkeit erweckte.

Endlich war wieder war Samstagabend und auch diesmal marterte Jürgen die Vorstellung, Marcia könnte nicht erscheinen. Doch sie kam. Sie tanzten. Sie küssten sich. Normalerweise trank Jürgen nur mäßig Alkohol, doch in Marcias Gesellschaft trank er deutlich mehr, da sie ständig mit ihm anstieß und ihm zutrank. Als der Abend vorüber war und sie ihn mit ihrer rauchigen Stimme fragte: »Kann ich mit zu dir kommen?«, bekam Jürgen feuchte Handflächen. Es reichte wieder nur zu einem Nicken. Er rief ein Taxi, obwohl es zu seiner Wohnung nicht weit war. Er konnte sie ja kaum auffordern, zu Fuß zu gehen! Zum Glück hatte er aufgeräumt und die Bettwäsche gewechselt. Jürgen hatte es sich zwar kaum vorstellen können, wollte aber auf Nummer sicher gehen. Nun beglückwünschte er sich zu seiner Voraussicht. 

Bei Jürgen zu Hause tranken sie Whisky - etwas Anderes hatte er nicht zu bieten - und saßen ganz eng nebeneinander auf dem Sofa. Der Alkohol machte Jürgen mutig. Seine Hand glitt versuchsweise an ihrem langen schlanken Bein nach oben. Marcia hatte nichts dagegen. Seine Hand glitt über diesen herrlichen Busen. Marcia gebot der Hand keinen Einhalt.

»Lass uns ins Schlafzimmer gehen«, forderte Marcia ihn mit vor Erregung vibrierender Stimme auf. »Lass uns ein Spiel spielen! Wir machen es ganz dunkel. Kein einziger Schimmer Licht, als ob wir beide blind wären. Nichts sehen, nur fühlen. Alles ist erlaubt, nur nicht sehen.«

Das Spiel gefiel Jürgen. Er war nun nicht gerade ein Adonis. So unrecht war es ihm also nicht, wenn er Marcias Blicke nicht abwägend oder vergleichend auf seinem Körper spüren musste. 

»Ich gehe noch kurz ins Bad. Fünf Minuten.« 

Marcia verschwand. Fünf Minuten bis zum Beginn des Himmelreiches. Jürgens Nervosität hatte durch ihre Spielregeln etwas abgenommen. Und durch den Alkohol. Er ließ die Rollläden herunter und zog zusätzlich noch die Vorhänge zu. Die Kleider legte er sorgfältig auf einen Stuhl. Dann knipste Jürgen das Licht aus und schlüpfte ins Bett. Es dauerte wirklich nur fünf Minuten. Jürgen hörte die Badezimmertüre. Er hörte Marcia auf nackten Sohlen zum Bett kommen. Dann lag sie neben ihm. Ihre Hände strichen über seinen Körper. Ihre Lippen. Alles ist erlaubt, nur nicht sehen. Auch seine Hände, seine Lippen. Ihr erstaunlich schlanker, biegsamer Körper reagierte auf alle seine Berührungen. Ihr herrlicher Busen – als er seine Hände darum schloss, kam er ihm zwar kleiner vor als erwartet, aber das störte ihn nicht, schließlich hatte er auch ziemlich große Hände. Das lange Haar, feiner als erwartet. Nichts störte ihn in der wachsenden Erregung. Marcias Bild war in sein Gehirn eingebrannt, wozu brauchte er da seine Augen?

Danach lagen sie erschöpft nebeneinander. 

»Ich liebe dich!«, flüsterte Jürgen.

»Ich muss gehen«, flüsterte Marcia. »Bis nächsten Samstag!«

Er hörte sie aus dem Bett schlüpfen, ihre nackten Füße auf dem Boden.

»Bleib hier!«

»Bis nächsten Samstag!«

Marcia verschwand im Bad. Kurz darauf kam sie vollständig angezogen wieder heraus. Er konnte nur ihre Silhouette erkennen gegen das grelle Licht, das ihren Körper durch die Badezimmertür hindurch von hinten anstrahlte. Kurz winkte Marcia ihm noch zu, dann war sie weg.

»Soll ich dir ein Taxi bestellen?«, rief er ihr nach, aber Marcia hörte ihn nicht mehr.

So ging es ein paar Wochen lang. Jeden Samstag. Sie tanzten. Sie schliefen miteinander. Bei ihm. In völliger Dunkelheit. Der Rest der Woche verging wie im Traum. Seine Kollegen hänselten ihn. Jürgen lächelte nur. Rudolf musterte den Freund besorgt. So viel Glückseligkeit war nicht normal! Er versuchte, Jürgen aus seinen Tagträumen zu reißen. Die Meister wurden schon aufmerksam. Rudolf wies ihn auf die schmachtenden Blicke der Buchhaltungsangestellten hin. Jürgen wandte nicht einmal den Kopf.

Es war Samstag. Sie lagen nebeneinander. 

»Ich liebe dich!« 

Jürgen hatte es schon mehrmals gesagt. Nie zuvor war Marcia darauf eingegangen. Hatte es immer ignoriert.

»Ich liebe dich auch!« 

Sein Herz hüpfte vor Freude. Er wagte es: »Willst du mich heiraten?« 

In der nachfolgenden Stille hielt Jürgen den Atem an. Fast erwartete er, Marcia würde, wie so oft zuvor, sagen: »Ich muss gehen!« Aber diesmal sagte sie einfach: »Ja! Ich will dich sehr gerne heiraten.«

Er nahm sie in die Arme. Nie im Leben hatte er sich so glücklich gefühlt. Dann knipste er das Licht an. Und sah in die hellbraunen Augen von Martha, der Buchhaltungsangestellten!

Jürgen sprang aus dem Bett. Er zitterte am ganzen Leib. In einer lächerlichen Geste griff er nach dem Betttuch und schlang es sich um den Körper. Fassungslos musterte er den dünnen Körper, den kleinen Busen, das dünne, dunkle Haar. Er brachte keinen Ton heraus.

»Ich will dich sehr gerne heiraten«, wiederholte Marthha und sah ihn dabei zärtlich an. 

Jürgen stürzte ins Bad. Ihm war schlecht. Geräuschvoll erbrach er sich. Dann starrte er auf die Kleider, die Marcia, wie immer, im Bad abgelegt hatte. Sah den dick ausgepolsterten BH, die Perücke mit dem langen schwarzen Haar, den Slip, ausgepolstert wie der BH. Auf der Ablage: die langen Wimpern, die grünen Kontaktlinsen und der dunkelrote Lippenstift. Martha kam ihm nach.

»Geht es dir besser?«, fragte sie, lehnte dabei ihren schmalen Körper an den Türrahmen. 

Er wich zurück, so weit es der enge Raum erlaubte.

»Verschwinde!«, brachte er heiser und unter unglaublicher Anstrengung hervor. 

Martha griff nach ihren Kleidern, zog sich vor seinen Augen an. Verwandelte sich vor seinen Augen wieder in die wundervolle Frau aus der Diskothek. Dabei sah sie ihn unverwandt an. Sie klebte die falschen Wimpern an, malte sich einen üppigen roten Mund und setzte zuletzt die Kontaktlinsen ein und die Perücke auf. Jürgen starrte die Frau an wie ein Kaninchen den Fuchs. So fühlte er sich auch: wie in einer Falle. Sie ging. Aufatmend setzte er sich auf sein Bett. Dann kam der Zorn. Dann die Verzweiflung. Und die Scham. Was sollte er nur seinen Kollegen erzählen? Die Wahrheit würde ihn zum Gespött der ganzen Firma machen! Er hatte unzählige Male mit dieser Frau geschlafen und den Unterschied nicht bemerkt! Beim ersten Mal schon hätte es ihm auffallen müssen. Er hatte mit einem Phantom geschlafen. Was, wenn sie ihn bloßstellte? Der Schweiß brach Jürgen aus bei der Vorstellung, am Montag wie üblich in die Kantine zu gehen und Martha auf sich zukommen zu sehen ...

Jürgen hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Martha kam am nächsten Tag nicht und auch nicht an den folgenden Tagen. Jürgens wochenlange Träumerei war einer tiefen Depression gewichen. Rudolf hatte es kommen sehen. Es hatte so ja nicht weitergehen können. Doch mehr als »Es ist aus« bekam er aus dem Freund nicht heraus. Alle Versuche, Jürgen aufzuheitern, scheiterten. Die Kollegen hielten schnell den Mund, als sie merkten, wie humorlos ihre Späße aufgenommen wurden. Nicht einmal mit der Buchhaltungsangestellten konnten sie ihn aufheitern. Sie war seit Tagen nicht in der Kantine gewesen. Vermutlich war sie krank. Wieder konnte sich Jürgen nur schwer auf die Arbeit konzentrieren. Wieder schirmten ihn die anderen von den Blicken der Vorgesetzten ab. Lange konnte es nicht mehr so weitergehen. Der eine oder andere fing schon an zu murren. Nur Jürgens von Tag zu Tag schlechteres Aussehen hielt sie bei der Stange. 

Wie sollte Jürgen auch morgens ausgeschlafen in der Firma erscheinen, wenn er sich die Nächte über schlaflos im Bett wälzte und sich ein ums andere Mal jeden einzelnen der vergangenen Samstagabende ins Gedächtnis rief. Noch immer war er überwältigt von dem entsetzlichen Schamgefühl, es nicht bemerkt zu haben. Und von Hass, weil Martha ihn so hereingelegt, so gedemütigt hatte. Irgendwie hatte Jürgen das Gefühl, Martha hätte Marcia, seine Traumfrau, ermordet. Dass es nie eine Marcia gegeben hatte, schien ihm unvorstellbar. Er hatte sie doch gesehen, mit ihr getanzt, sie geküsst. Und mit ihr geschlafen, flüsterte eine hämische Stimme in seinen Gedanken.

Die Zeit verging. Jürgen wurde langsam wieder der Alte. Etwas ruhiger vielleicht, aber sonst wie immer. Die Buchhaltungsangestellte war auch wieder gesund. Ihre Krankheit schien sie von ihrem Liebeskummer kuriert zu haben. Sie sah nicht mehr zu ihnen herüber und folgte Jürgen auch nicht mehr zur Theke. Nun war es Jürgen, der ständig zu Martha hinüberblickte. Rüdiger fiel es zuerst auf.

»Der Spatz auf der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach!«, stichelte er.

Jürgen ging nicht darauf ein. 

Nachdem die Scham verblasst war, überwältigte ihn die Verzweiflung. Alles war zu Ende! Er konnte es einfach nicht akzeptieren. Marcia gab es überhaupt nicht! Oder eigentlich gab es sie doch. Er hatte mit ihr geschlafen, das war real gewesen, keine Einbildung. Und im Bett war sie ja nie verkleidet gewesen. Natürlich hatte er den überraschend schlanken Körper und den kleinen Busen bemerkt, er war ja schließlich nicht blöd! Er hatte sich nur nichts dabei gedacht. Und die Leidenschaft war echt gewesen. So etwas konnte keine Frau spielen. Immer häufiger ertappte er sich, wie sein Blick in der Kantine zu ihr hinüberglitt. Er vermisste ihre schmachtenden Blicke. Eigentlich hatte ihn nie zuvor jemand so kritiklos bewundert. Und so hässlich war Martha eigentlich auch nicht. Besser schlank als fett. Dicke Frauen hatte er noch nie leiden können. Martha hatte große Augen. Braun zwar, nicht grün, aber gegen braune Augen war nichts einzuwenden. Und die langen schlanken Beine waren auch echt gewesen. An den Beinen konnte man nichts ändern! 


Martha hatte zwei Wochen Urlaub genommen. Unvorstellbar, Jürgen jetzt in der Firma zu begegnen! Zu tief war die Verletzung, die er ihr durch seine Reaktion auf ihre wahre Identität zugefügt hatte. Ein klein wenig hatte Martha auch ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, wie sie ihn hereingelegt hatte, aber was hätte sie denn tun sollen? Lange hatte sie versucht, Jürgen auf sich aufmerksam zu machen. Ein freundliches Wort von ihm zu hören oder vielleicht sogar eine Verabredung mit ihm zu treffen. Er hatte einfach durch sie hindurchgesehen! Bis ihr diese Idee kam. Martha hatte sich selbst kaum wiedererkannt, als sie zum ersten Mal in ihrem grünen Seidenkleid vor dem Spiegel stand. Noch heute amüsierte es sie, wie Jürgen sie angestarrt hatte, als sie ihn in der Diskothek um Feuer bat. Es war so einfach gewesen. Das veränderte Aussehen, die bewundernden Blicke der Männer hatten ihr auch die nötige Selbstsicherheit gegeben, ihren Plan durchzuziehen. Nicht einmal im Bett hatte er etwas gemerkt! Martha seufzte. Nun war alles aus. Sie hatte hoch gespielt, zu hoch, und hatte verloren! 

Nachdem ihr Urlaub vorüber war, musste Martha in den sauren Apfel beißen. In der Kantine mied sie Jürgens Blick. Nach einigen Tagen war es nicht mehr so schlimm. Und nach einigen Wochen war alles wieder fast beim Alten. Leider! Auch die einsamen Abende alleine zu Hause. Manchmal zog Martha das grüne Kleid an und überlegte, ob sie in die Disco gehen und sich einfach irgendeinen Mann anlachen sollte. Sie brachte es nicht über sich. Sie wollte nicht irgendeinen Mann, sie wollte Jürgen. 

Es klingelte. Die ersten Tage nach dem verhängnisvollen Samstag hatte Marthas Herz bei jedem Klingeln, ob Haustüre oder Telefon, einen Satz gemacht in der Hoffnung, er wäre es. Jürgen würde zu ihr kommen und alles wäre gut. Aber nach einer Weile war die Hoffnung erloschen. Heute kam ihr nicht einmal in den Sinn, er könnte es sein. In der sicheren Erwartung, durch das Guckloch ihre Wohnungsnachbarin zu sehen, die mal wieder keinen Zucker hatte oder kein Ei, oder war ihr das Mehl ausgegangen wie schon so oft, ging sie zur Tür. 

Es war Jürgen. 

»Darf ich hereinkommen?« 


Sie saßen in der Kantine. Rudolf musterte seinen Freund. Heute war Jürgen sogar besonders gut gelaunt. Ständig grinste er vor sich hin. Die Episode mit Superwoman schien er endgültig überwunden zu haben. Diese Frau hatte doch auch wirklich nicht zu ihm gepasst! Das konnte sich doch ein Blinder an fünf Fingern ausrechnen. 

Plötzlich sperrte Rudolf den Mund auf in fassungslosem Erstaunen. Aufgeregt stieß er den Freund an. 

»Jürgen!«, drängte er. »Sieh mal, wer da kommt!« 

Jürgen hatte sie ihm so genau beschrieben, das musste Marcia sein. Sogar das enge grüne Kleid hatte sie an, obwohl es wohl eher für den Abend gedacht war. Die Frau kam direkt auf ihren Tisch zu, auf endlos langen Beinen, schwarzes Haar bis zur Hüfte. Die grünen Augen, beschattet von langen, schwarzen Wimpern, blickten jedem am Tisch tief in die Seele. Es war totenstill geworden. Zuerst an ihrem Tisch, dann im ganzen Raum. Kurt, der neben Jürgen gesessen hatte, sprang auf, rückte ihr den Stuhl zurecht.

»Hallo Jürgen!« Die Erscheinung küsste Jürgen zärtlich auf den Mund. Jürgen strahlte sie an.

 »Du bist sicher Rudolf!« Das Timbre in Marcias Stimme spürte Rudolf bis in die Zehen. »Jürgen hat schon so viel von dir erzählt. Es freut mich, dich endlich persönlich kennen zu lernen.« 

Marcia reichte ihm ihre schmale Hand mit den langen, blutrot lackierten Fingernägeln. Rudolf erhob sich halb und deutete eine Verbeugung an. Fast hätte er ihre Hand geküsst. 

»Hast du deine Freunde schon zu unserer Verlobungsfeier eingeladen, Jürgen?«

»Nein. Ich wollte warten, bis du da bist. Es ist nur eine kleine Feier. Am Freitag, acht Uhr in meiner Wohnung. Wir möchten so bald wie möglich heiraten.«

Das war ein Ding! Überrascht und auch ein klein wenig neidisch, gratulierten die Kollegen Jürgen und Marcia, sagten ihre Teilnahme am Freitag zu, mit Freude, und ließen die beiden dann alleine. Der Gong war schon vor fünf Minuten ertönt. An den Ausgabeschaltern stand schon die nächste Schicht. 

Die Verlobungsfeier bei Jürgen wurde ein tolles Fest. Marcia bezauberte alle Männer. Rudolfs und Herrmanns Ehefrauen waren nicht ganz so begeistert. Zum Glück waren alle anderen Kollegen noch Junggesellen, denn Marcia hatte ein paar Freundinnen mitgebracht. Lauter nette junge Mädchen. Nicht so toll wie Marcia, aber nett. Verwandte waren keine dabei. Marcia hatte anscheinend keine. Jürgens Verwandte würden zur Hochzeit kommen, hieß es. Zweimal zu erscheinen, so kurz nacheinander, dazu war ihnen der Weg zu weit. Obwohl Jürgens Eltern nur eine Stunde entfernt wohnten, wie Rudolf wusste. Wer weiß, vielleicht waren sie mit Marcia nicht einverstanden. Vielleicht wäre ihnen eine unauffälligere Schwiegertochter lieber gewesen. Zum Beispiel die Buchhaltungsangestellte. Bei der Vorstellung musste Rudolf in sich hineinkichern. Obwohl er früher immer gedacht hatte, die beiden würden ganz gut zusammenpassen. Aber wenn einem so etwas wie Marcia auf dem Tablett serviert wurde, war der Gedanke an diese graue Maus lächerlich. 

Der Hochzeitstermin war auf Ende Februar festgelegt worden. Das Leben nahm wieder seinen geordneten Gang. Hauptgesprächsthema in der Kantine war nun der alljährliche Firmenfaschingsball. Die Organisation lag vollständig in den Händen der Mitarbeiter und die einzelnen Abteilungen übertrumpften sich mit Vorschlägen. 

Rosenmontag. Zum letzten Mal stand Martha vor dem Spiegel und verwandelte sich in Marcia. Jürgen war schon fertig. Er hatte sich als Pirat verkleidet. Etwas einfallslos, aber Fasching lag ihm nicht so sehr. 

Der Abend wurde ein voller Erfolg. Marcia tanzte mit der halben Belegschaft. Auf Rudolfs galante Bemerkung: »Wer so aussieht wie du, braucht sich nicht zu verkleiden«, erwiderte Jürgen zum Erstaunen seiner Kollegen: »Marcia hat ihre Verkleidung mitgebracht. Um zwölf Uhr, wenn alle anderen sich demaskieren, wird sie sich ebenfalls umziehen. Ihr werdet staunen!«

Alle waren gespannt. In welcher Verkleidung Marcia wohl auftauchen würde? Wilde Spekulationen wurden laut. Hoffentlich bestand die Verkleidung aus möglichst wenig Stoff! Die Frauen fanden das alles ziemlich affig. Was manche sich einfallen ließen, nur um Aufsehen zu erregen!

Der große Augenblick war gekommen! Die Demaskierungen wurden zwar mit Beifall und Gelächter aufgenommen, aber es war klar: Alle warteten auf Marcia! Jürgen war mit ihr in der Damentoilette verschwunden. Er musste ihr beim Umkleiden helfen. Endlich ging die Tür auf.

»Darf ich euch Martha vorstellen, meine Verlobte? Die meisten kennen sie ja schon.«

Fassungslos starrten alle auf das Paar. Natürlich kannten sie Martha. Sie arbeitete schon seit Jahren in der Buchhaltung. Manche kapierten schnell, andere brauchten etwas länger und einige hätten es nie kapiert, wenn Martha nicht das grüne Kleid und die Perücke über dem Arm mit herausgebracht hätte. 

Ihre Kolleginnen fassten sich zuerst: »Martha! Ich glaub es nicht! Herzlichen Glückwunsch!«

»Niemals hätte ich dich erkannt!«

»Das hätte ich dir nie zugetraut!«

»Wahnsinnig!« 

»Unglaublich!« 

»Ich glaub, ich spinn’!«

Plötzlich hallte der Saal wider von dem Gelächter und den Glückwünschen der Kolleginnen und Kollegen. Auch die Vorgesetzten schlossen sich an. Martha wurde der erste Preis verliehen, für die beste Verkleidung. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Jahren gab es niemanden, der ihr diesen Preis nicht gegönnt hätte. 

 


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