Lose Enden, Band 1 - Kapitel 19

 

Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman

Donnerstag, 7. Juni 2007

Den Angriff auf Leyla noch frisch im Gedächtnis, hatte sich Aruns Frau problemlos überreden lassen, mit den Kindern zusammen zu verreisen. Ja, Nari hatte selbst schon überlegt, wo sie ihre Kinder in Sicherheit bringen könnten. Aber sie hatten in Deutschland keine Familie, und der Kontakt zu ihrer indischen Verwandtschaft war nicht derart, dass Nari sich vorstellen konnte, dort längere Zeit zur Last zu fallen. So verblieb der Familie Kanwar Kristers Angebot als einzige, auch finanziell realisierbare Möglichkeit und befreite Arun und Nari von einer großen Last.

Das Schicksal hatte sich auch insofern als gnädig erwiesen, dass am Donnerstag früh von Stuttgart aus ein Flugzeug nach Amsterdam startete, von wo aus ein Anschlussflug nach New York ging. Dort mussten Nari und die Kinder dann ein paar Stunden auf den Weiterflug nach Denver warten, wo Kristers Vater sie mit der Cessna abholen würde. Alles hatte sich reibungslos durchplanen lassen, sodass die indische Mutter mit ihrer Tochter und den beiden Söhnen sich ohne Verzögerung bereits auf dem Weg nach Amerika befand. Leyla war begeistert von dem Gedanken gewesen, mitten im Schuljahr plötzlich Ferien zu haben. Sie hatte lediglich bedauert, dass ihre Freundinnen nicht mitkommen konnten. Arun hatte Tochter und Sohn in Schule und Kindergarten entschuldigt. In Anbetracht der besonderen Umstände und der Tatsache, dass Leyla eine sehr gute Schülerin war, erhoben weder die Klassenlehrerin noch die Schulleitung Einwände. Auch die Kindergartenleitung hatte sich verständnisvoll gezeigt.

Nach der Mittagspause hatte Hanna, wieder in Begleitung von Krister, die Reaktionsapparatur im Autoklavenraum abgebaut und alles in ihr Labor transportiert. Wie erleichtert war sie gewesen, als die schwere Tür zum letzten Mal zufiel und Krister abschloss!
Von einem bekannten Rechtsanwalt hatte Krister die Adresse einer Ulmer Detektei bekommen. Der Anwalt hatte die Dienste dieses Unternehmens schon hin und wieder in Anspruch genommen und sich sehr zufrieden geäußert. Telefonisch wurde ein Termin für den nächsten Vormittag vereinbart. Mehr konnten sie im Augenblick nicht tun. Mit der Anzeige bei der Polizei wollten sie warten, bis sie mit den Mitarbeitern der Detektei gesprochen hatten. 
Das Gefühl, die Situation im Augenblick – so gut es in Anbetracht der Ereignisse eben ging ging – im Griff zu haben, sorgte für eine erstaunlich gelöste Stimmung, die Irene zu dem Vorschlag veranlasste: 
»Wie wäre es denn, wenn wir mal wieder gemeinsam ins Kino gehen würden? Wir waren schon lange nicht mehr zusammen fort. Arun ist heute Abend sowieso allein. Bernd soll sich einen Babysitter organisieren und Margret mitbringen. Ich weiß auch schon, in welchen Film wir gehen könnten: Im Xinedom läuft ›Der Teufel trägt Prada‹. Soll ganz witzig sein. Das könnten wir jetzt alle gebrauchen.«
»Ich gehe nicht so gerne ins Kino«, sagte Hanna. »Aber ich könnte ja auf Sara und Patrik aufpassen.« 
Da kam sie bei Irene aber schlecht an. 
»Du kommst mit! Du warst noch nie mit uns fort. Ich weiß nicht, wohin du immer so dringend verschwindest, aber einen Abend kannst du sicher mal opfern. Falls du einen Freund hast, der dich nicht alleine fortlässt, kannst du ihn ja mitbringen.« 
Diese Bemerkung machte sie absichtlich, um Kristers Reaktion zu testen, aber der verzog keine Miene. 
»I ben zwar sicher, dass dr Patrik ond Sara mid dir als Babysitter au eiverschdanda wärad, aber d’Irene hod rechd, des schadad dir garnix, wennd amol mit ons mitkommsch.« 
Besonders Arun war froh über die Idee: Er würde dann am Abend nicht alleine sein müssen. Es war sein erster Abend nach der Abreise seiner Familie, und in der Nacht würde er noch genügend Zeit zum Grübeln finden. 
Auch Krister begrüßte Irenes Vorschlag,  hielt sich aber vorsichtshalber in Bezug auf Hannas Zögern zurück. Seine Beziehung zu ihr bewegte sich seit Dienstag auf recht dünnem Eis, das er nicht durch eine unbedachte Bemerkung zum Brechen bringen wollte. Er hatte lange nachgedacht und sich unter anderem die Frage gestellt, warum er ihr nicht kündigte. In der Probezeit wäre das ohne Weiteres möglich gewesen. Abgesehen davon, hatte sie ihm ja reichlich konkrete Gründe geliefert. Zu seiner eigenen Überraschung konnte er aber den Gedanken nicht ertragen, sie morgens nicht mehr beim Kaffee zu sehen und anschließend den Tag über im angrenzenden Labor arbeiten zu hören. Er hatte geglaubt, sie habe seine Unterschrift mit Berechnung geübt, da er sich einfach nicht hatte vorstellen können, wie jemand das ohne Training fertigbrachte. Aber Hanna war ganz offensichtlich dazu in der Lage. Auch das Christus-Bild, das er in Mutter Brigittes Büro gesehen hatte, vor allem aber die Zeichnung des unbekannten Mannes, die Hanna mit lockerer Hand mühelos aufs Papier geworfen hatte, zeugten von einem großen Talent. Und was die Spektren anbetraf: Natürlich konnte man nicht einfach jeden an so ein teures Gerät lassen. Aber auch damit konnte Hanna umgehen, und zwar besser, als manche wissenschaftlich ausgebildeten Leute mit NMR-Schein. Abgesehen davon würden Bernd, Arun und Irene einem Vorschlag, Hanna zu entlassen, niemals zustimmen. Ein Gedanke, der Krister sehr befriedigte.
Was den geplanten Kinobesuch anging, so ließ sich Hanna in Anbetracht der besonderen Umstände von Irene und Bernd dann doch überreden mitzugehen. Ähnlich wie Krister wollte sie den wiedergewonnenen Frieden nicht gefährden und sagte deshalb, entgegen ihrer Überzeugung, zu. Hoffentlich waren nicht so viele Leute im Kino! Wenn sie sich in einem geschlossenen Raum unter möglicherweise lauten Menschen aufhielt, überfiel sie manchmal ein Schwindelgefühl. Zweimal schon war sie plötzlich ohnmächtig geworden. Seither versuchte sie, solche Situationen zu vermeiden. 


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