Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Mittwoch, 6. Juni 2007
Nach seinem aufrüttelnden Einblick in das Leben misshandelter Kinder am Montag und den unerfreulichen Szenen mit Hanna gestern hatte Krister am Mittwochmorgen die zweite unruhige Nacht hinter sich und fühlte sich entsprechend mitgenommen.
Außer Bernd und Irene sprach niemand. Eigentlich müsste man eher sagen: Außer Irene sprach niemand. Sie hatte sich gestern Abend zusammen mit ihrem Freund »Zwei Tage in Paris« im Kino angesehen und gab nun Bernd gegenüber eine Filmkritik ab. Gelegentliche Laute des Technikers sollten wohl beweisen, dass er zuhörte. Die anderen drei waren in ihre eigenen Gedanken versunken, bis Arun sich plötzlich räusperte und verkündete:
»Ich werde meine Bewerbung zurückziehen!«
Entgeistert starrten ihn die anderen an. Irene hörte mitten im Satz auf zu sprechen, Krister hatte sichtlich Mühe, aus seinen privaten Gedanken aufzutauchen und Aruns Satz zu erfassen. Bernd setzte sich auf dem Sofa wieder gerade, auf das er sich hingeflegelt hatte, und Hanna stellte ihre Kaffeetasse sorgfältig auf dem kleinen Tischchen ab.
»Heute Morgen lag das hier in unserem Briefkasten.«
Arun holte einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche, faltete ihn auseinander und reichte ihn Krister.
Krister las den Zettel und wurde blass. Dann reichte er ihn an Irene weiter. Nachdem sie den Text überflogen hatte, warf sie das Papier auf den Tisch und schlug entsetzt die Hände vor den Mund. Bernd starrte den Zettel an, als wäre er ein ekelhaftes Insekt. Lange Zeit war kein Wort zu hören. Dann unterbrach Arun leise die Stille:
»Ich bin kein Feigling. Wenn es nur um mich ginge, würde ich diesen Dreck einfach ignorieren. Aber ich kann meine Familie nicht dieser Gefahr aussetzen. Nach dem Überfall auf Leyla bin ich überzeugt, dass die Drohung ernst gemeint ist.«
Unfähig, länger sitzen zu bleiben, stand Bernd auf und lief ziellos auf und ab.
»Wenn i mir vorstell, jemand däd d’Margret on meine Kender so bedroha, wirds mr no schlechder wie's mr jetzd scho isch.«
Wieder sagte lange Zeit niemand etwas, bis Irene ihre Lähmung überwand:
»Sollten wir nicht zur Polizei gehen?«
Arun lachte bitter:
»Und was sollen die tun? Glaubst du, die Polizei beschützt für den Rest unseres Lebens meine Familie rund um die Uhr?«
»Nein, natürlich nicht. Aber dahinter stecken doch dieselben Leute wie die, die Leyla angegriffen haben!«
»Glaubt mir, es widerstrebt mir zutiefst, vor solchen Leuten klein beizugeben. Wenn ihr mir eine Möglichkeit nennt, wie ich meine Familie schützen kann, ohne meine Bewerbung zurückzuziehen, bin ich sofort dabei. Schon weil auf solche Forderungen einzugehen keine Lösung ist. Auf dem nächsten Zettel steht dann, wir sollen unsere Sachen packen und das Land verlassen oder etwas Ähnliches. Wer sagt mir, dass sie meiner Frau und meinen Kindern nicht trotzdem etwas antun? Nur weil es ihnen Spaß macht. Genauso, wie sie eine Katze quälen würden.«
»I frog mi bloß, wie dia auf di kommad.? Woher wissad dia von deira Bewerbung? Dia missad doch irgendwelche Leid an dr Uni han. Dia kennad doch et elle Ausländer en Ulm überwacha, on emmr dann uffträda, wenn ne was ned bassd. So durchorganisierd sen dia ned, des ko i ned glauba!«
Zum ersten Mal mischte sich Krister ein:
»Vielleicht geht es hier um viel direktere Interessen. Weißt du, wer sich sonst noch auf diese Stelle beworben hat?«
»Glaubsch em Ernschd, dass oinr zu sodde Middl greifd, om en Konkurrenda los zu werra?«
»Warum nicht, wenn er oder sie zufällig auch noch einer rechtsextremen Gruppierung angehört? Wir sollten erstens in Erfahrung bringen, wer sich außer dir beworben hat, und zweitens, welche rechtsradikalen Gruppen es in Ulm gibt. Das Erste dürfte kein Problem sein.« Krister hatte einen guten Draht zur Sekretärin des Dekans. »Das Zweite könnten wir vielleicht wirklich von der Polizei erfahren. In dieser Hinsicht stimme ich Irene zu, wir sollten die Polizei einschalten. Schon zum zweiten Mal ist deine Familie das Ziel eines rechtsradikalen Angriffs. Die Beamten werden das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es kann kein Zufall sein. Da steckt eine Organisation dahinter!«
»Ich weiß, wann und wo sich eine Gruppe von Rechtsradikalen trifft.«
Nun starrten alle Hanna verwundert an.
»Jeden Freitagmorgen, gegen halb sechs in der Friedrichsau.«
»Was tust du morgens um halb sechs in der Friedrichsau?«, stieß Krister überrascht hervor.
»Ich laufe. Normalerweise ist um diese Zeit niemand unterwegs, aber freitags bin ich schon öfter Skinheads begegnet, die sich in dieser Gegend herumgetrieben haben. Ich habe gehört, wie sie sich mit ›Heil Hitler‹ begrüßt haben. Einmal haben sie mich angepöbelt. Seither laufe ich auf der anderen Seite der Donau. Aber selbst von dort kann man sehen, dass sie sich in einem der Gebäude treffen.«
Bernd musterte Hanna irritiert:
»Musch eigentlich obedenkd morgens om halb sexe durch d’Gegend laufa? S’gibd au no andre Spennr, ned bloß Glatzkepf!«
»Ich finde auch, das solltest du nicht tun, Hanna«, stimmte Irene dem Freund zu. »Das ist viel zu gefährlich!.«
Hanna setzte zu einer Erwiderung an, bemerkte dann aber die besorgten Gesichter ihrer Freunde und ließ es bleiben. Wieder herrschte lange Zeit Schweigen. Keiner konnte sich vorstellen, zur Tagesarbeit überzugehen, als sei nichts geschehen.
Plötzlich meldete sich Krister wieder zu Wort:
»Arun, du musst deine Frau und deine Kinder in Sicherheit bringen. Das ist jetzt das Wichtigste. Was hältst du davon, wenn wir sie zu meinen Eltern nach Montana schicken, zumindest so lange, bis die Stellenentscheidung getroffen ist? Unabhängig davon, ob du deine Bewerbung zurückziehst oder nicht, sind sie in Gefahr. Da stimme ich dir zu. Ich denke auch, wir sollten selbst jemanden beauftragen, der Nachforschungen anstellt. Natürlich wird die Polizei das tun, aber für sie hat es nicht die Priorität, die es für uns hat. Es muss doch möglich sein, herauszufinden, wer hinter dieser Drohung steckt, und eventuell auch, ob eine Verbindung zur Uni und einem der anderen Bewerber existiert.«
Wieder sorgte Hanna für Erstaunen:
»Vergangenen Freitag war ein Mann dabei, den ich hier an der Uni auch schon gesehen habe. Er ist mir aufgefallen, weil er normale Jeans trug und nicht, wie die anderen, Bundeswehrkleidung.«
»Kannst du das von der anderen Seite der Donau aus sehen? Um diese Zeit ist es doch noch fast dunkel!«
»Das stimmt. Zwar wird ein Strahler an dem Gebäude durch einen Bewegungsmelder ausgelöst und die Personen stehen dort wie auf dem Präsentierteller, aber es ist tatsächlich zu weit weg, um Gesichter unterscheiden zu können. Ich habe den Mann nur deshalb wiedererkannt, weil ich kurz zuvor an ihm vorbeigelaufen bin, als er, zusammen mit einem zweiten, auf dem Weg zu dem Gebäude war. Wartet!«
Hanna verließ das Zimmer und holte sich ein Blatt Papier und einen Bleistift aus dem Nebenraum. Dann setzte sie sich an Kristers Schreibtisch und begann zu zeichnen. Die anderen traten nach und nach näher und sahen ihr fasziniert zu. Auf dem Papier entstand ein Gesicht.
»Mensch, kannst du zeichnen!«, staunte Irene.
Bernd und Arun waren sprachlos. Krister, der bei Mutter Brigitte ein Bild Hannas gesehen hatte und außerdem bereits Bekanntschaft mit der Fälschung seiner eigenen Handschrift gemacht hatte, war nicht ganz so überrascht. Solange sie ihr Talent auf diese Weise anwandte und nicht für betrügerische Tricks, war er schon dankbar. Doch keiner konnte sich daran erinnern, den Mann, den Hanna da aufs Papier zauberte, schon einmal gesehen zu haben.
»Ich werde versuchen herauszufinden, wer sich außer Arun noch auf die Stelle beworben hat. Allerdings denke ich nicht, dass dieser Mann dabei ist. Ich kenne eigentlich alle aus der physikalischen Fakultät, die in Frage kommen könnten. Aber trotzdem ist es sicherlich nützlich, die Namen der anderen Bewerber zu kennen. Ich bin gleich wieder zurück.«
Mit diesen Worten verließ Krister den Raum. In düstere Gedanken versunken warteten die anderen schweigend und Kaffee trinkend. Schon nach zehn Minuten war Krister wieder da.
»Es haben sich insgesamt vier Leute beworben, die hier an der Uni beschäftigt sind: Silvia Ambaum aus der Theoretischen Physik, Klaus Merkel, ebenfalls aus der Theoretischen Physik, Theo Hofmann aus der Quantenphysik und du, Arun. Sowohl Merkel als auch Hofmann sehen vollkommen anders aus, als der Mann auf der Zeichnung. Was meinst du, Arun? Schicken wir Nari und die Kinder nach Montana? Dort sind sie sicher. So lang ist der Arm dieser Kleinganoven garantiert nicht. Sprich mit deiner Frau, denn wir sollten so schnell wie möglich handeln.«
»Du kannst doch deinen Eltern nicht einfach vier wildfremde Menschen schicken und das auch noch auf längere Zeit«, zweifelte Arun.
»Da mach dir mal keine Sorgen«, entgegnete Krister. »Meine Eltern freuen sich immer über Besuch und Platz haben wir genug.«
Immer noch etwas skeptisch, aber angesichts des Drucks, den die dramatischen Ereignisse in ihm aufbauten, verspürte Arun doch eine gewisse Erleichterung.
»Wenn meine Familie in Sicherheit ist, werde ich meine Bewerbung aufrechterhalten. Ich denke nicht daran, diesen Dreckskerlen nachzugeben. Angst habe ich, das gebe ich zu, aber ich werde trotzdem nicht einknicken, nicht vor diesen verachtenswerten Menschen. Und meine Frau wird das genauso sehen, davon bin ich überzeugt. Um der Kinder Willen wird sie deinen großzügigen Vorschlag sicherlich annehmen. Sie hat heute Morgen, als wir den ekelhaften Zettel fanden, selbst schon davon gesprochen, die Kinder irgendwo in Sicherheit zu bringen. Ich danke dir, Krister. Du nimmst uns eine große Last von den Schultern.«
»Dein Mut en elle Ehra, aber des gfelld mr trotzdem ned. Dia hen scho meh als oin dodgschlaga. No missa mr em Arun abr a Leibwache verschaffa. Du derfsch koin Schrid meh alloi doa!«
»Bernd hat Recht. Wir müssen jemanden beauftragen, der dir auf Schritt und Tritt folgt. Hier an der Uni ist die Gefahr relativ gering, aber zu Hause bist du dann jede Nacht allein. Am liebsten wäre mir, du würdest so lange zu mir ziehen.«
»Danke Krister. Ich bin einverstanden, jemanden zu beauftragen, mich zu beschützen, aber zu dir ziehen werde ich nicht. Ich will dich nicht auch noch gefährden. Wenn diese Gruppe tatsächlich einen Angriff wagt, dann haben professionell ausgebildete Leute die Chance, einen oder mehrere von ihnen zu erwischen. Es nützt nichts, zu warten, bis die Stellenentscheidung getroffen ist. Sollte ich die Stelle bekommen, ist die Gefahr für meine Familie noch größer. Wir können Nari und die Kinder ja nicht für immer in Montana lassen.«
»Da hast du leider Recht. Gut, du fährst jetzt nach Hause und überzeugst deine Frau. Ich benachrichtige meine Eltern und kümmere mich dann um den Flug. Sobald Nari und die Kinder unterwegs sind, beauftragen wir eine Detektei mit den Nachforschungen und verpassen dir einen Leibwächter. Ich kenne jemanden, der mir sicher eine seriöse Detektei empfehlen kann.«
Dann wandte sich Krister an Hanna:
»Übermorgen ist Freitag. Wir beide werden dann zusammen laufen gehen und du zeigst mir die Stelle, wo sich die Skinheads treffen.«
In Montana war es jetzt früher Morgen, Krister würde seinen Vater oder seine Mutter zu Hause erreichen. Das Netz für Mobiltelefone wies im bevölkerungsarmen Montana im Vergleich zu Deutschland gravierende Mängel auf. Menschen im Freien waren oft unerreichbar. Krister hatte die Zeichnung, die auf dem seinem Schreibtisch liegengeblieben war, in die Hand genommen und betrachtete sie.
Von Bernd gefolgt, machte sich Irene auf den Weg ins Kellerlabor. Gemeinsam benutzten sie die enge Treppe, die vom Erdgeschoss hinunter führte. Wenn Irene allein war, mied sie diese Treppe und fuhr lieber mit dem Fahrstuhl. Sie fand es unheimlich, wie die Schritte in dem kahlen, engen Schacht des Treppenabgangs laut hallten und das Echo den Eindruck erweckte, man würde verfolgt. Mit Bernd zusammen fühlte sie sich hingegen sicher..
»Weißt du, was ich glaube?«, fing sie plötzlich an. Irene hatte die glückliche Gabe, bedrückende Gedanken zur Seite schieben zu können. »Krister ist in Hanna verknallt!«
Bernd warf ihr einen ironischen Blick zu.
»Den Eidruck han i geschdern ned ked«, erwiderte er trocken.
Davon ließ sich Irene nicht beirren: »Hast du nicht bemerkt, wie sich sein Tonfall ändert, wenn er Hanna anspricht? Hoffentlich lässt sie ihn eine Weile zappeln.«
»Moinsch ed, dass di des garnix ogod? Wenn, no isch des doch alloi denne ihr Sach.«
»Siehst du, dir ist es also auch schon aufgefallen!«
»Mir isch garnix uffgfalla.«
»Verdirb mir nicht den ganzen Spaß! Weißt du, ich liebe Krister. Ich finde es ganz toll, wie er sich für Arun einsetzt, und ich weiß genau, dass er das für jeden von uns tun würde. Aber was Frauen anbetrifft, hat er es einfach zu leicht.« Wieder grinste sie.: »An Hanna beißt er sich die Zähne aus. Hoffentlich! Ich bezweifle ja nicht, dass er sie am Ende doch kriegt, aber zumindest macht sie es ihm nicht so leicht.«
»Du bisch a gehässigs Weibsbild!«
Irene lachte.
»Was ist eigentlich aus seiner Staatsanwältin geworden? Hat er der auch schon wieder den Laufpass gegeben?«
»Vielleicht hod ja au dui ehm da Laufpass gebba.«
»Das glaubst du doch selbst nicht! Für die schöne, intelligente und reiche Simone ist Krister doch das Tüpfelchen auf dem i. So eine fette Beute würde sie nie freiwillig aufgeben. Also, wenn das aus wäre, dann wäre das kein großer Verlust. Diese Frau ist überhaupt nicht mein Fall. Ich finde, sie ist eine eingebildete Ziege.«
»No, do wird'r ja froh sei, wenn du seine Entscheidunga billigsch.«
Resigniert ließ Irene das Thema fallen.
»Mit dir kann man überhaupt nicht tratschen, dabei macht das solchen Spaß! Aber heute ist mir eigentlich sowieso nicht nach Spaß zumute.«
Bernd zerzauste ihr freundschaftlich das Haar und sie betraten in bestem Einvernehmen das Kellerlabor.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Hinweis
Mit dem Abschicken deines Kommentars bestätigst du, dass du die Datenschutzerklärung gelesen hast und diese akzeptierst.
Weiterhin erklärst du dich mit der Speicherung und der Verarbeitung deiner Daten (Name, ggf. Website, Zeitstempel des Kommentars) sowie deines Kommentartextes durch diese Website einverstanden.Dein Einverständnis kannst du jederzeit über die Kontaktmöglichkeiten im Impressum widerrufen.Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Weitere Informationen findest du hier:
Datenschutzerklärung von Google