Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Montag, 4. Juni 2007
Als Krister am Montagmorgen die Post abholte, war ein Umschlag mit dem Logo des Kinderschutzbundes dabei. Ein Kollege hatte Krister vor drei Jahren angeworben. In Amerika waren ehrenamtliche Tätigkeiten bei weitem verbreiteter als in Deutschland, wo deutlich mehr soziale Bereiche staatlich oder kommunal geregelt sind. Deswegen war Krister nicht schwer zu überreden gewesen. Nun war er Mitglied im Landesverband des Kinderschutzbundes und unterstützte dessen Arbeit durch Spenden und auch durch aktive Mitarbeit. Krister gehörte einem Gremium an, das für die Auswahl all jener Projekte zuständig war, denen sich der Bund in der kommenden Saison besonders widmen wollte. Mehrmals jährlich fanden Sitzungen statt, bei denen verschiedene Förderinitiativen vorgeschlagen und diskutiert wurden. Der Brief, den er jetzt in der Hand hielt, war die Einladung zu einer dieser Sitzungen sowie eine Liste der vorgeschlagenen Fördermaßnahmen. Krister nahm seine Arbeit im Auswahlgremium sehr ernst und befasste sich stets eingehend mit den Vorschlägen, um bei der Sitzung die, seiner Meinung nach, unterstützungsbedürftigsten Ziele zu verteidigen.
Eines davon war schon bei der letzten Zusammenkunft mit viel Für und Wider diskutiert worden. Es ging darum, sich für eine Gesetzesvorlage stark zu machen, die eine Heimunterbringung von Kindern erleichtern sollte, wenn der Verdacht auf Misshandlung vorlag. Bis jetzt war es fast unmöglich, ohne wirklich stichhaltige Beweise, sprich: sichtbare Misshandlungsmale die Kinder vor den eigenen Eltern in Schutz zu nehmen. Bei sexueller Misshandlung, die ja oft ohne für Fremde sichtbare Verletzungen ablief, war das also so gut wie unmöglich. Krister hatte sich in der vergangenen Sitzung aus der Diskussion herausgehalten. Seiner Meinung nach gestaltete sich das Problem deutlich vielschichtiger, als es auf den ersten Blick aussah. Aber bei dem morgigen Treffen musste er klar Position beziehen. Als er Hanna ansah, kam ihm eine Idee.
Nachdem sich alle an ihr Tagwerk gemacht hatten, wandte er sich an sie: »Hast du einen Augenblick Zeit für mich? Ich möchte dich etwas fragen.«
»Klar!«
Erwartungsvoll kam Hanna näher. Kristers Frage hatte nichts mit der Uni zu tun, das spürte sie sofort.
»Ich muss dazu etwas weiter ausholen, damit du mich nicht nur für neugierig hältst.«
Ausführlich erklärte er ihr, um was es ging, dann sagte er: »Du bist doch in einem Heim aufgewachsen. Heute werden auf Betreiben des Jugendamtes hin und wieder Kinder dort vorübergehend untergebracht, bis die Fälle geklärt sind. Im Klartext heißt das meistens: so lange, bis die Eltern einen Gerichtsbeschluss erwirkt haben und die Kinder wieder abholen. Das war vor einigen Jahren sicher nicht anders, du musst solche Fälle miterlebt haben. Ich würde gerne von dir wissen, ob diese Kinder froh waren, von ihren Eltern wegzukommen, ob sie gerne im Heim waren, oder aber, ob sie freiwillig wieder zu ihren Eltern zurückwollten.«
Leicht betroffen sah ihn Hanna an. Eine solche Frage hatte sie nicht erwartet. Sie machte zwar kein Geheimnis daraus, elternlos zu sein und in einem Waisenhaus aufgewachsen zu sein, aber sie hängte es auch nicht gerade an die große Glocke.
Krister, der Hannas überraschten Gesichtsausdruck falsch deutete, berührte Hanna leicht am Arm. »Wenn du nicht darüber reden willst, verstehe ich das natürlich sehr gut, dann finde ich bestimmt einen anderen Weg ...«
»Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen. Die Frage ist allerdings nicht einfach zu beantworten. Es stimmt, wir hatten oft solche Kinder. Sie kamen zu uns, blieben ein paar Tage, manchmal auch einige Wochen, und waren dann wieder verschwunden. Wir hatten kaum Gelegenheit, sie näher kennenzulernen. Vor allem, weil sie meistens in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung waren. Viele kamen aus dem Krankenhaus zu uns. Du kannst dir nicht vorstellen, was manche Eltern ihren Kindern antun! Keine Eltern zu haben ist nicht immer das schlechteste Los.«
Nach kurzer Überlegung fuhr sie fort: »Soweit ich es mitbekommen habe, war das Ganze ein Prozess, der in mehreren Phasen ablief. Anfangs waren die Kinder froh, von zu Hause weg und in Sicherheit zu sein. Wenn dann die körperlichen Wunden geheilt und die Erinnerungen etwas verblasst waren, gerieten sie meist in einen Zustand, bei dem sie hin- und hergerissen waren zwischen der Angst vor ihrem Zuhause und dem Wunsch, das Heim zu verlassen. Letztendlich wollten fast alle Kinder wieder nach Hause. Manchmal haben wir sie nach einiger Zeit allerdings wiedergesehen, manchmal aber auch nicht.«
Kurze Zeit schwieg sie, in ihre Gedanken versunken, dann sagte sie plötzlich: »Du solltest mit Mutter Brigitte reden. Sie ist die Heimleiterin der Paulinenpflege und weiß über dieses Thema sicher besser Bescheid als jeder andere.«
»Hast du denn noch Kontakt zu ihr?«
»Natürlich! Wenn du willst, frage ich sie, ob sie mit dir sprechen will. Wann ist denn die Sitzung?«
»Leider schon morgen Abend. Meinst du, sie empfängt mich so schnell?«
»Wir können es auf alle Fälle versuchen. Und zwar gleich. Um diese Zeit müsste sie in ihrem Büro sein. Ich rufe sie an.«
Hanna verschwand und kam bereits nach wenigen Minuten wieder. »Wäre dir heute Nachmittag um vier Uhr recht?«
»Ja, natürlich, das ist großartig!«
»Mutter Brigitte sagte allerdings, sie würde sich freuen, wenn du mich mitbringen würdest ...«
»Aber das ist doch selbstverständlich! Nichts lieber als das! Gerne!«
Krister ergriff Hannas Hände.
»Danke! Es tut mir leid, wenn ich Erinnerungen wecke, die du lieber vergessen würdest.«
»Das ist für mich kein Problem. Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob ich dir einen Gefallen tue. Was dir Mutter Brigitte erzählen wird, ist sicher noch um einiges schlimmer als das, was ich damals mitbekommen habe.«
Sie entzog ihm ihre Hände und wandte sich zum Gehen.
»Ich hole dich um Viertel vor vier bei dir ab», rief Krister ihr nach.
Am gleichen Tag, Mittag
Kaum saßen sich Peter Kälber und Klaus Merkel an einem der weißen Tische der Mensa zum Mittagessen gegenüber, sagte Peter betont beiläufig: »Ich glaube, dein Problem, die Stelle betreffend, kannst du als erledigt betrachten.«
Klaus starrte ihn an. »Was meinst du damit?«
Kälber gab sich nonchalant: »Ich hab dir doch schon gesagt, ich lasse meine Verbindungen spielen.«
Auf so eine Gelegenheit hatte er lange gewartet. Der leicht verächtliche Ausdruck in Klaus' Augen, wenn er von seinen Verbindungen gesprochen hatte, war ihm schon länger gegen den Strich gegangen. Jetzt würde Klaus merken, dass das nicht bloß Angeberei war!
»Was hast du vor? Du, ich will da aber in nichts Kriminelles hineingezogen werden, dass das klar ist!«
Leichte Panik schwang in Klaus' Stimme mit.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Peter herablassend. »Du hast mit der ganzen Sache nichts zu tun. Dein Name ist bis jetzt nicht einmal gefallen.«
Das konnte Peter besonders leiden: Kaum wurde es ernst, kniffen sie, diese Weißhemdenverbrecher. Zu jeder Schandtat waren sie bereit, solange man ihnen bloß nichts nachweisen konnte. Da waren er und seine Freunde ganz anders. Sie kämpften an der vordersten Linie. Ohne die Deutschlandfront würde es in Ulm schlecht aussehen. Kein Deutscher könnte da mehr unbesorgt auf die Straße gehen. Alles wäre von Ausländerpack überschwemmt!
Vergessen war sein eigenes mulmiges Gefühl während der Zusammenkunft in der Donauhalle.
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