Lose Enden, Band 1- Kapitel 14

 

Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman

Freitag, 1. Juni 2007

Am Mittwochabend rief Olaf an: »Mein Alter hält was von der Sache. Er hat mit dem Obergruppenführer gesprochen. Du sollst am Freitag mit zum Treffpunkt kommen. Sei um fünf bei uns. Mein Alter nimmt dich dann mit.«

Und nun stand Peter Kälber pünktlich um fünf Uhr vor dem Sozialwohnungsbau, in dem Olaf mit seinen Eltern wohnte. Nach wenigen Minuten erschien Olafs Vater, gekleidet in seine ehemalige Bundeswehrkluft und Kälber ärgerte sich, seine nicht ebenfalls angezogen zu haben. Olaf hätte ihm ja auch einen Tipp geben können! 
Gustav Theil war Vorarbeiter bei der Iveco Magirus AG. Bei der Arbeit war er umgänglich und bei seinen Kollegen und Vorgesetzten einigermaßen angesehen. Viele seiner Kollegen waren Ausländer. Eine besondere Abneigung gegen diese ließ sich Theil nicht anmerken. Vielleicht hätte ein sorgfältiger Beobachter das betont gebrochene »Türkendeutsch«, mit dem er alle ausländischen Arbeiter ansprach, obwohl viele von ihnen die deutsche Sprache muttersprachlich beherrschten, als ausländerfeindlich gedeutet. Davon abgesehen behandelte er sie aber nicht anders als die Deutschen.
Überhaupt hatte Gustav Theil nichts gegen Ausländer, solange diese in ihren Heimatländern blieben. Er selbst flog im Urlaub in die Türkei. Dort fand er die Türken ganz in Ordnung. Er fuhr nach Italien. Dort störten ihn die Italiener nicht. Nur in Deutschland wollte er all diese Fremden nicht haben. Nur durch ihre Schuld war sein Sohn arbeitslos. Im Grunde war Olaf ein guter Junge. In der Schule hatte es leider nicht so besonders geklappt, aber den Hauptschulabschluss hatte er immerhin. Wenn nicht die ganzen Ausländer die Lehrstellen wegschnappen würden, hätte auch Olaf etwas Interessantes bekommen und nicht eine Bäckerlehre anfangen müssen, die er dann nach sechs Wochen geschmissen hatte, weil ihm das frühe Aufstehen nicht lag. Werkzeugmacher oder Automechaniker, das würde Olaf gefallen. Aber dazu brauchte man heute ja schon einen Realschulabschluss. Und wenn er sah, wer in der Magirus AG die Lehrstellen bekam: über die Hälfte Ausländer! Die kramten gefälschte Schulabschlüsse hervor, wenn's um Bewerbungen ging, das wusste man ja. Verbrecherpack! Die Brandschutzmaßnahmen und Sicherheitsanweisungen mussten im Betrieb auf Türkisch ausgehängt werden. Wo gab's denn sowas? Wetten, dass in der Türkei kein einziger Betrieb Sicherheitsanweisungen auf Deutsch aushängen hatte. Wahrscheinlich gab's bei denen ja sowieso keine Sicherheitsanweisungen.
Abfällig musterte Theil den jüngeren Mann, den er heute mitnehmen sollte. Der Typ war bestimmt schon dreißig und hatte wahrscheinlich noch nie eine müde Mark verdient. Studieren, studieren, und das möglichst auf Staatskosten. Was heißt auf Staatskosten: auf die Kosten von anständigen Bürgern wie ihm, Gustav Theil. Schließlich wurden die Universitäten von seinen Steuergeldern finanziert. Vermutlich lebte der Kerl von BAföG. Oder er hatte einen geldigen Papa, der dem Söhnchen jeden Wunsch erfüllte. Die Reichen hatten doch alle Anwälte und Steuerberater, die dafür sorgten, dass ihre feinen Klienten keine Steuern zu zahlen brauchten. Dafür kauften die ihren Kindern dann Ausbildungen, und er selbst musste schauen, wie er über die Runden kam. Wie verweichlicht dieser Junge da jetzt schon aussah! In ein paar Jahren war der total verfettet. Eine ordentliche körperliche Arbeit hätte dem mal gutgetan. Er selbst war noch nie vor körperlicher Arbeit davongelaufen.
Schweigend fuhren die beiden Männer zur Donauhalle. Die Teilnahme eines Außenstehenden an der Versammlung war eine absolute Ausnahme, aber der Obergruppenführer war an der Sache, um die es hier ging, interessiert. Asylanten zu verprügeln war gut und schön, aber noch wichtiger war es, höhere Positionen in Beruf und Gesellschaft in deutschen Händen zu wissen. Dort, wo Entscheidungen gefällt wurden, dort mussten Deutsche sitzen! Leider hatte die Deutschlandfront Ulm in den sogenannten intellektuellen Kreisen nicht so viele Mitglieder, wie es wünschenswert gewesen wäre. Deshalb erfuhr man Dinge wie geplante Stellenbesetzungen oft zu spät und konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren. 
Das Treffen lief wie gewohnt ab. Gustav Theil hatte Peter angewiesen, sich im Hintergrund zu halten, bis er vom Obergruppenführer aufgerufen wurde. So stand der Chemiker hinter der Reihe der Gruppenführer und lauschte deren Berichten. Ein seltsames Gefühl, fehl am Platz zu sein, beschlich ihn. Diese Leute berichteten von Gewalttaten, die sie und ihre Leute begangen hatten. Richtige Gewalt gegen echte Menschen. Irgendwie hatte er sich das immer anders vorgestellt. Mit Transparenten durch die Straßen zu laufen und Parolen zu brüllen, das fühlte sich richtig an. Schließlich konnte ja nicht einfach jeder nach Deutschland kommen und die Hand aufhalten. Aber das hier? Sie würden dem Vater der Kleinen doch nicht wirklich etwas antun? Bevor Peter seine Gefühle ausreichend analysieren konnte, war der Wochenrapport abgeschlossen und der Obergruppenführer rief Peter nach vorne. Er stellte ihn den anderen vor. Danach forderte er den Besucher auf, zu berichten, worum es ging.
Nun gab es kein Zurück mehr. Niemals würde Peter vor diesen Leuten den Schwanz einziehen. Wer weiß, was sie dann mit ihm anstellen würden. Er war hier in den innersten Kreis vorgedrungen. Die würden ihn niemals einfach gehen lassen. Und außerdem: Der Inder hatte überhaupt kein Recht auf diese Stelle! Schon allein dass er hier arbeiten durfte, das war doch eigentlich eine Sauerei. Wie viele deutsche Physiker hätten auch gerne an der Uni Karriere gemacht und fuhren jetzt wahrscheinlich Taxi? Nee, das war schon richtig, was er gerade tat.
Aufgeregt wie vor einer seiner Diplomprüfungen trat Peter Kälber vor und bemühte sich um militärische Haltung. Gott sei Dank hatte er seinen Wehrdienst abgeleistet! Möglichst knapp und präzise versuchte er, sein Anliegen zusammenzufassen, wobei er ein leichtes Stottern manchmal nicht unterdrücken konnte. Klaus Merkels Name nannte er nicht, der war nur der »deutsche Physiker«. Nachdem Kälber geendet hatte, wartete er in Habacht-Stellung, bis der Obergruppenführer »Rühren!« bellte.
»Kameraden, ihr habt gehört, worum es geht. Um jeden Preis müssen wir verhindern, dass wieder ein Ausländer so eine wichtige Position besetzt. Wir wissen ja, wie das läuft: Sitzt er erst fest im Sattel, holt er seine ganze Familie nach und verschafft denen allen entsprechende Posten. Aber nicht mit uns. Wer hat einen Vorschlag, wie wir dieses Projekt angehen könnten?«
»Die Aktion sollte in jedem Fall nicht von der Gruppe Eselsberg durchgeführt werden, mein Sohn und seine beiden Kumpels müssen ein wasserdichtes Alibi haben. An sie denkt die Polizei doch zuerst«, gab Theil zu bedenken. Es war ihm wichtig, Olaf aus der Sache herauszuhalten.
Einer der Männer meldete sich: »Ich stelle meine Gruppe zur Verfügung. Wir könnten die Zielperson abfangen und ihr eine kleine Abreibung verpassen, verbunden mit der Drohung, uns das nächste Mal die Göre vorzunehmen, wenn er seine Bewerbung nicht zurückzieht.«
Bei dem Wort »Abreibung« zuckte Peter zusammen. Er sah es ganz deutlich vor seinem inneren Auge: Ein Mann lag am Boden und ein paar vermummte Gestalten traten auf den Blutenden und schließlich Bewusstlosen ein, immer und immer wieder. Das Bild war so realistisch, dass der Chemiker sich zurückhalten musste, um nicht »aufhören, aufhören!« zu schreien.
Zum Glück achtete niemand auf Kälber. Aller Augen waren auf den Mann gerichtet, der soeben diesen Vorschlag unterbreitet hatte.
Der Obergruppenführer überlegte kurz. »Eine Abreibung heben wir uns für später auf. Für den Anfang halte ich einen Drohbrief für ausreichend. Falls er wirkt – und im Hinblick auf die Ankündigung mit der Tochter, denke ich, wird er wirken –, sparen wir uns den direkten Personeneinsatz, der immer mit der Gefahr der Identifizierung verbunden ist«.
Erleichtert atmete Peter auf. Na also, niemand würde dem Curryfresser etwas tut. Sie jagten ihm lediglich ein wenig Angst ein. Er würde seine Bewerbung zurückziehen und alles war, wie es sein sollte.

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