Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Donnerstag, 31. Mai 2007, Nachmittag
Nachdem Krister Hanna in ihrem Labor zurückgelassen hatte, versuchte er, sich auf eine Mail zu konzentrieren, die ihm ein Kollege von der Montana State University geschickt hatte. Seine und die Forschungsgebiete des anderen Physikers überschnitten sich in manchen Bereichen, deswegen tauschten die beiden Wissenschaftler regelmäßig ihre Erfahrungen aus. Heute aber schweiften Kristers Gedanken ab und er ertappte sich dabei, wie sie sich in seiner Fantasie lieber mit der Frau im Nebenzimmer beschäftigten. Kurz zuvor waren Bernd und Irene hereingeschneit und hatten ihn aufgefordert, mit zum Essen zu gehen. Er verspürte aber keinen Hunger. Auch Hanna hatte das Angebot abgelehnt, wie das Geklapper aus dem Nebenraum verriet, nachdem Bernd und Irene verschwunden waren.
Kristers Telefon klingelte. Nach einem kurzen Blick auf das Display seufzte er. Simone. Er hatte sie seit den gemeinsamen Tagen in Paris nicht mehr wiedergesehen und seltsamerweise auch nie an sie gedacht. Eigentlich hätte er sich über ihren Anruf freuen müssen. Er tat es aber nicht und das deprimierte ihn.
»Hallo Simone, hast du schon Feierabend?«
Simone rief nur in Ausnahmefällen vom Gericht aus an. Denn gewöhnlich konzentrierte sie sich dort voll und ganz auf ihre Arbeit.
»Hallo, Kris, Liebster! Ja, es lief heute alles wunderbar! Anschließend habe ich mir noch ein entzückendes Kleid gekauft. Wenn du mich heute Abend zum Essen ausführst, zeige ich es dir. Es ist aber ein sehr schickes Kleid, geeignet, um meinen Sieg zu feiern. Mit einer Pizzeria kannst du mich da nicht abspeisen.«
Solchermaßen vor vollendete Tatsachen gestellt, fiel Krister nicht sofort eine Antwort ein. Nur eines war ihm klar: Er hatte nicht die geringste Lust, heute Abend mit Simone auszugehen.
»Hey, bist du noch da?« Simones Stimme klang ungeduldig.
Da Krister ja kaum sagen konnte, er habe keine Lust – das war ihm dann doch zu rüde –, entschloss er sich zu einer Notlüge: »Natürlich bin ich noch da. Entschuldige. Aber weißt du, heute Abend habe ich leider schon etwas vor.«
»Komm, das kannst du doch sicher verschieben. Ich habe mich so auf heute Abend gefreut! Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass es meine Schuld war. Du bist doch hoffentlich nicht eingeschnappt? Aber jetzt habe ich endlich ein paar Tage Zeit. Wenn du keine Lust zum Ausgehen hast, können wir ja bei mir zu Hause feiern. Nur wir beide. Da kann ich dir das Kleid noch viel besser vorführen. Oder ich komme zu dir. Ich war noch nie bei dir. Keine Sorge, es macht mir nichts aus, wenn du nicht aufgeräumt hast!«
Simone lachte aufgekratzt.
In den vergangenen Monaten hatte Krister die Frau am anderen Ende der Telefonleitung gut genug kennengelernt, um zu wissen, dass sie sich heute nicht abwimmeln lassen würde. Bei sich zu Hause wollte er sie aber ganz sicher nicht haben. Außerdem, wenn ihre Beziehung sich dem Ende entgegenneigte, dann würde er das Simone von Angesicht zu Angesicht mitteilen, das zumindest war er ihr schuldig. Deshalb lenkte er ein: »Nun gut, gehen wir essen. Ich bestelle einen Tisch im ›Lamm‹. Acht Uhr?«
»Fein, ich freue mich. Bis später, Liebster!«
Sie gab ihm einen Kuss durch den Telefonhörer.
»Bis später, Simone.«
Krister legte auf. Während der vergangenen vier Wochen hatte er Simones Existenz fast vergessen. Er versuchte, sich an ihr gemeinsames Wochenende in Paris zu erinnern. Es war doch schön gewesen! Was hatte sich also inzwischen geändert? Simone hatte am Telefon so glücklich geklungen! Offensichtlich freute sie sich sehr auf das Wiedersehen. Sein abrupter Stimmungsumschwung machte Krister zu schaffen. Normalerweise waren seine Liebesabenteuer immer langsam abgekühlt, das Ende war irgendwann abzusehen gewesen. Doch diesmal hatten sich seine Gefühle von vollkommener Zufriedenheit, wie er sie in Paris empfunden hatte, in, ja: beinahe Widerwillen gewandelt, den er jetzt verspürte, wenn er an den bevorstehenden Abend dachte. Er wusste genau, wie das Treffen verlaufen würde. Sie würden essen, danach erwartete Simone, dass er mit zu ihr kam und dort die Nacht verbrachte. Nun, zumindest den zweiten Teil des Programms würde er heute zu verhindern wissen. Er hatte schlicht und einfach keine Lust, mit Simone zu schlafen. Was hatte er in dieser Frau gesehen? Sie war zweifelsfrei wunderschön und sehr intelligent. Nie hatte er sich mit Simone gelangweilt. Meist erzählte sie unterhaltsam von ihrer Arbeit, und sie hatten viel zusammen gelacht. Was also hatte sich seither geändert? Krister wusste es nicht.
Die Tür ging auf. Noch bevor Irene ansetzen konnte, blaffte Krister sie an: »Irene, tu mir einen Gefallen und lass mich in Ruhe!«
Verblüfft verschwand Irene wieder. Krister hörte, wie sie zu Hanna, absichtlich laut, damit er es auch mitbekam, sagte: »Sag mal, welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen? Falls er sich in nächster Zeit wieder einkriegen sollte, kannst du ihm ja sagen, dass wir in ungefähr einer halben Stunde einen Versuch starten. Wenn es ihn interessiert, soll er runterkommen. Er kann's aber auch lassen. Wir schaffen das auch ohne ihn.«
Schon bevor die Tür zu seinem Büro vollständig zugefallen war, hatte Krister ein schlechtes Gewissen überfallen. Irene konnte nun wirklich nichts für seine privaten Probleme. Schnell stand er auf und ging ins Nebenzimmer.
»Entschuldige Irene, du hast mich im falschen Augenblick erwischt.«
Entwaffnet lächelte Irene: »Ist schon okay. Wir fangen gleich an.«
Einträchtig machten sie sich auf den Weg in den Keller. »Du hast vorhin einen Ausdruck verwendet. Kannst du das nochmals wiederholen? Etwas mit einer Laus«, sagte Krister.
Irene lachte: »Wir sagen, jemandem ist eine Laus über die Leber gelaufen, wenn er schlechte Laune hat. Aber frag mich nicht, woher der Ausdruck kommt. Ich habe keine Ahnung!«
»Das muss ich mir merken.«
Krister liebte solche Redewendungen, die er dann auch bei passenden Gelegenheiten ins Gespräch einflocht. Die nächsten zwei Stunden arbeiteten die Wissenschaftler konzentriert und erhielten eine ganze Menge Daten, die Irene mit ihrem selbstentwickelten Programm auswerten konnte. Danach würde sich zeigen, ob und wie sie die Versuchsanordnung variieren mussten.
Pünktlich um Viertel vor acht Uhr holte Krister Simone in ihrer Wohnung ab. Das »Lamm« war ein sehr feines und teures Lokal, er hatte sich dementsprechend gekleidet. Auch wenn er sich in Anzug und Hemd normalerweise durchaus wohlfühlte, hätte er heute Abend Jeans und ein Sweatshirt, vor allem aber die Gesellschaft seiner Freunde bevorzugt. Simone war noch nicht fertig. »Ich bin gleich wieder da. Mach dir was zu trinken«, zwitscherte sie und verschwand im Schlafzimmer.
Krister ignorierte diese Aufforderung und genoss stattdessen den atemberaubenden Blick auf das Ulmer Münster, der sich von der verglasten Giebelseite der Dachwohnung aus bot. Nach wenigen Minuten – für ihre Verhältnisse sehr schnell – erschien Simone wieder, fertig angekleidet und ausgehbereit. Und sie war wunderschön! Strahlend präsentierte sie Krister ihr neues Kleid, indem sie eine kleine Pirouette drehte.
»Ich bin sicher, jeder Mann wird mich heute Abend beneiden«, sagte er in ehrlicher Bewunderung.
Damit war Simone zufrieden. Auch jede Frau würde sie beneiden, um ihr Aussehen und um ihre Begleitung, darüber gab es für sie keinen Zweifel. In ihrer Hochstimmung bemerkte sie Kristers zurückhaltende Art kaum. Im Gegenteil, sie fand die gewisse Reserviertheit, die er schon früher hin und wieder gezeigt hatte, besonders anziehend.
Während der Fahrt zu dem einige Kilometer entfernten Restaurant berichtete Simone von ihrem Aufenthalt in Karlsruhe und von der heutigen Gerichtsverhandlung, Krister hingegen beschränkte sich aufs Fahren und Zuhören.
Auch im Lokal, zwischen Bestellung und unvermeidlicher Wartezeit auf das Essen, bestritt Simone die Unterhaltung. Nach einiger Zeit entspannte sich Krister während ihrer geistreichen, mit lustigen Anekdoten gewürzten Berichterstattung und wusste plötzlich überhaupt nicht mehr, was er heute Mittag für ein Problem gehabt hatte. Hier saß er mit einer wunderschönen, intelligenten Frau. Was gab es daran auszusetzen? Bald beteiligte er sich aktiv am Gespräch – und ganz plötzlich war das fröhliche Einvernehmen ihrer früheren Rendezvous wiederhergestellt.
»Liebling, ich habe etwas für dich!«
Simone kramte in ihrer Handtasche und holte die Einladung zur Geburtstagsfeier ihres Vaters hervor. Strahlend überreichte sie Krister einen edlen Büttenumschlag.
»Mein Vater feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Du bist natürlich herzlich dazu eingeladen. Das ist eine gute Gelegenheit, endlich meine Eltern kennenzulernen. Meinst du nicht, es wird langsam Zeit?«
Krister hielt den Umschlag in der Hand, ohne ihn zu öffnen. Er hätte es wissen müssen! Eine Beziehung blieb nie auf dem gleichen Niveau stehen. Sie wuchs – und für Simone hatte sich ihre Romanze eindeutig in eine Richtung entwickelt, der er nicht folgen wollte. Simones selbstsicheres Wesen und ihr Karrierestreben hatten ihn glauben lassen, sie wäre, genau wie er, nur an einem lockeren Verhältnis ohne irgendwelche weitreichenden Verbindlichkeiten interessiert. Da hatte er sich wohl getäuscht: Simone hatte ihn in ihre Zukunft schon eingeplant!
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«
Vollständig entgeistert starrte Simone ihn an.
»Was hast du denn plötzlich? Was ist los? Geht es dir nicht gut?«
Krister winkte dem Kellner, der sich besorgt erkundigte, ob irgendetwas nicht wunschgemäß gewesen sei. Die nur halb leer gegessenen Teller ließen das vermuten.
»Es war alles bestens. Danke. Die Rechnung bitte!«, antwortete Krister knapp.
Der Kellner, der schon viele Jahre in diesem Job arbeitete und bei seinen Gästen schon so manches gesehen hatte, wusste sofort Bescheid: Bei diesen beiden kriselte es. Hoffentlich fingen sie erst draußen zu streiten an.
Als sie vor dem Lokal standen, war Simones gute Laune wie weggeblasen. Nur ein völlig unvermuteter Anflug von Unsicherheit hatte sie davon abhalten können, Krister schon im Restaurant die Hölle heiß zu machen. Sie hasste es, sich unsicher zu fühlen, deshalb blaffte sie ihn nun an:
»Sag mal, spinnst du? Was ist nur in dich gefahren? Du könntest mich ja wenigstens fragen, ob ich aufbrechen will!«
»Komm, lass uns ein Stück zu Fuß gehen«, antwortete Krister.
Mit langen Schritten entfernte er sich und zwang so Simone, ihm zu folgen.
»Warum willst du mich deinen Eltern vorstellen?«, begann er. Ein Anfang war so schlecht wie der andere.
»Was soll die Frage? Wir kennen uns jetzt schon lange genug. Es ist eher verwunderlich, dass du meine Eltern noch nicht kennst. Bei deinen Eltern ist es ja verständlich, dass du mich ihnen noch nicht vorgestellt hast. Sie wohnen so weit weg, aber meine nicht. Was hast du gegen meine Eltern?«
»Ich habe nichts gegen deine Eltern. Doch wenn du mich deinen Eltern vorstellst, ist das ein Schritt in eine festere Bindung.«
»Ja und? Was stört dich daran? Schließlich kann es ja nicht immer so weitergehen. Ich finde, wir passen hervorragend zusammen. Wir sind beide intelligente Menschen mit einem interessanten Beruf. Das Leben steht uns in jeder Beziehung offen.«
»Simone, ich bin Amerikaner. Meine Zeit hier in Deutschland ist begrenzt. Das weißt du, ich habe nie einen Hehl daraus gemacht. Ich fürchte, meine Zukunftspläne sehen etwas anders aus als deine. Meiner Ansicht nach besteht das Leben nicht nur darin, miteinander ins Theater, in die Oper und ins Bett zu gehen. Da gehört noch sehr viel mehr dazu. Und ich glaube nicht, dass wir in den übrigen Bereichen zusammenpassen. Ich werde in jedem Fall nach Montana zurückkehren. Das war für mich immer selbstverständlich. Vielleicht werde ich mir dort ein physikalisches Labor einrichten. Das weiß ich noch nicht. Aber ganz sicher werde ich die Ranch meiner Eltern übernehmen. Das habe ich mit meinem Vater schon besprochen, als ich sechzehn war, und daran hat sich für mich nie etwas geändert. Wenn ich je heiraten sollte, dann eine Frau, die dieses Leben mit mir teilt und mit der ich Kinder haben möchte. Ich kann mir dich in dieser Rolle, ehrlich gesagt, nicht vorstellen.«
Vollkommen konsterniert war Simone stehen geblieben. Noch vor zehn Minuten hatte sie ihrer beider Zukunft so glänzend vor sich gesehen: Sie, eine angesehene Richterin, er, ein gefeierter Physiker. Auf jeder Gesellschaft wären sie willkommen gewesen. Die Welt hätte ihnen zu Füßen gelegen. Sie konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte!
»Willst du allen Ernstes behaupten, du willst deine Physikerkarriere aufgeben, um Bauer zu werden?«, stieß sie schließlich hervor. »Bauer auf irgendeinem Hinterwäldler-Bauernhof, meilenweit von der nächsten Zivilisation entfernt? Und dann willst du eine Brutmaschine heiraten, die Bälger produziert und in der übrigen Zeit den Stall ausmistet? Du bist ja völlig übergeschnappt! Bring mich sofort nach Hause!«
Wutschnaubend stakte Simone auf ihren hohen Absätzen in Richtung Auto. Krister folgte ihr kommentarlos. Er hatte gesagt, was er sagen musste, auch wenn er es vorgezogen hätte, dies etwas schonender zu tun. Doch in manchen Dingen gab es eben keinen Kompromiss. Simone war einfach nicht die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Daran ließ sich nichts ändern und auch nichts beschönigen. Nun musste er ihr Zeit lassen, diese Botschaft zu verarbeiten.
Auf der Rückfahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Doch als sie vor Simones Wohnung angekommen waren, legte Krister Simone die Hand auf den Arm und sagte besänftigend: »Es tut mir leid. Ich weiß, du hast mehr von mir erwartet. Aber diesen Ansprüchen kann ich nicht gerecht werden.«
Zornig stieß ihn Simone weg, sprang wortlos aus dem Auto und lief ins Haus. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie Schwierigkeiten hatte, mit dem Schlüssel das Schlüsselloch zu treffen. Tränen verschleierten ihren Blick. In ihrer Wohnung warf sie sich aufs Bett und weinte bitterlich. Schamröte stieg ihr ins Gesicht, wenn sie daran dachte, was sie sich von diesem Abend versprochen hatte. Dieser Dreckskerl hatte sie ausgenutzt! Um vor anderen mit ihr anzugeben und hin und wieder für eine Nummer im Bett, dafür war sie gut genug gewesen. Aber jetzt wollte er sie loswerden. Dieses Märchen von der Farm in Montana konnte er seiner Großmutter erzählen. Eine andere Frau! Ganz klar, natürlich steckte eine andere Frau dahinter! Aber so einfach ließ sie sich nicht abschieben. Diesem Schweinehund würde sie es heimzahlen! Simone sprang auf und lief wie ein gefangenes Tier in ihrer Wohnung umher. Mit jedem Schritt steigerte sich ihre Wut, bis sie sich einen Aschenbecher aus Glas vom Tisch schnappte und ihn mit voller Wucht gegen die Wand schleuderte. Er ging nicht einmal zu Bruch. Erst nachdem sie den Aschenbecher noch ein paar Mal gegen die Wand geschlagen hatte, in dem sinnlosen Verlangen, etwas kaputtzumachen, nahm sie den Schlüsselbund wahr, der dort unter dem Sofatisch auf dem Boden lag: Kristers Schlüssel. Es waren, wie Simone sofort an dem Schlüsselbund erkannte, den sie schon öfter bei Krister gesehen hatte, die Schlüssel zur Universität. Er musste sie bei ihr verloren haben.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Hinweis
Mit dem Abschicken deines Kommentars bestätigst du, dass du die Datenschutzerklärung gelesen hast und diese akzeptierst.
Weiterhin erklärst du dich mit der Speicherung und der Verarbeitung deiner Daten (Name, ggf. Website, Zeitstempel des Kommentars) sowie deines Kommentartextes durch diese Website einverstanden.Dein Einverständnis kannst du jederzeit über die Kontaktmöglichkeiten im Impressum widerrufen.Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Weitere Informationen findest du hier:
Datenschutzerklärung von Google