Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
»Vielleicht habe ich etwas gefunden, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich damit anfangen soll«, platzte Greg in die große Küche, wo die anderen am Tisch saßen und aßen. Obwohl Terence über beeindruckende Kochkünste verfügte, waren die Kinder die einzigen, die das Essen uneingeschränkt genießen konnten. Franka brachte kaum einen Bissen herunter und bemühte sich nur, um Terence einen Gefallen zu tun. Tom vertilgte zwar eine ordentliche Portion, doch schien er nicht zu schmecken, was er da gerade auf dem Teller hatte. Sein Blick, der meistens ins Leere gerichtet war, verkündete allzu deutlich, woran Tom ununterbrochen dachte. Alice wiederum sah ihre heile Welt in Gefahr, was auch ihr den Appetit verdarb.
»Ich bin im Geist nochmals sämtliche Gespräche durchgegangen, die ich jemals mit Andreaz geführt habe«, begann Greg und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »So viele waren es ja nicht. Während der Arbeit redete er kein privates Wort, äußerte lediglich Kritik oder gab Anweisungen. Die wenigen Male, die ich mit ihm außerhalb der Arbeitszeit Kontakt hatte, sind überschaubar. Ich habe mich in meinen Überlegungen inzwischen von der Vorstellung eines Datums und einer Uhrzeit gelöst und einfach nur darüber nachgedacht, ob Andreaz irgendwann irgendeine persönliche Vorliebe erwähnt hat. Irgendetwas, das ihm besonders gefiel – oder eventuell auch besonders missfiel, das könnte ja auch sein. Dabei ist mir eingefallen, dass wir beide alte Thriller-Klassiker liebten. Bücher, die man heute nur noch in Antiquariaten bekommt. Einmal haben wir uns über ein Buch aus den siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts unterhalten. Der Titel lautet: The Taking of Pelham 123. Wir haben das Buch beide gelesen und waren uns einig, dass wir es sehr gut und packend fanden. Und nun haltet euch fest: Ich habe die Postleitzahl von Pelham recherchiert. Sie lautet 10803!«
Tom war wie elektrisiert: »Und 123 haben wir auch! Das kann kein Zufall sein! Erinnerst du dich noch genauer an das Buch? Gibt es darin ein besonderes Datum und eine besondere Uhrzeit?«
»Eben das ist das Problem! Es geht in dem Buch um die Entführung einer U-Bahn im Staat New York. Aber ich kann mich nicht erinnern, ob ein Datum und eine Uhrzeit erwähnt wurden. Wir müssen uns den Text irgendwie besorgen. Ich habe es schon versucht, aber das Buch gibt es nicht mehr.«
»Ich kenne das Buch! Der deutsche Titel lautet ›Abfahrt Pelham 1 Uhr 23‹!« Frankas Stimme war die Aufregung anzuhören. »Damit wäre die Uhrzeit geklärt. Ein Datum brauchen wir meiner Meinung nach nicht. Denn ein Datum würde bedeuten, wir könnten nur einmal im Jahr Kontakt aufnehmen. Das ist viel zu wenig. Wenn die anderen Ziffern eine Postleitzahl bedeuten, haben wir alle Zeichen zugeordnet!«
»Eine Frage gibt es aber noch: Ist mittags oder nachts gemeint?« Auch Terence hatte sich von der Aufregung anstecken lassen.
»Mittags!«, antwortete Greg ohne jedes Zögern. »In dem Buch wurde die U-Bahn während der Hauptverkehrszeit entführt, und die ist nicht nachts um 1 Uhr 23.«
»Richtig!«, pflichtete ihm Franka bei. »Das würde bedeuten, wir können jeden Tag um 1 Uhr 23 mittags Kontakt mit Andreaz aufnehmen.«
»Es gibt noch etwas«, gab Terence zu bedenken. »Wir dürfen die Zeitverschiebung nicht außer Acht lassen. 1 Uhr 23 bei uns muss nicht 1 Uhr 23 bei dem Programmierer sein, denn wir wissen ja nicht, wo er sich aufhält. Das könnte ein Problem darstellen. Meint er seine oder unsere Zeit?«
»Seine!« Greg war sich wieder ganz sicher. »Zu dem Zeitpunkt, als er mir die Ziffern zeigte, wusste er noch nicht, wo wir uns niederlassen würden. Die einzige Konstante ist also sein damaliger Wohnort. Dort, wo er und seine Kinder und Enkel wohnen. Es gab für ihn keinen Grund, eine andere Zeitzone zu wählen.«
»Und wenn ihr euch nun irrt? Wenn die Ziffern etwas völlig anderes oder gar nichts zu bedeuten haben?« Alice hatte sich als Einzige nicht von der fieberhaften Aufgeregtheit ihrer Freunde mitreißen lassen. »Das Risiko ist meines Erachtens zu groß, zumindest für mich! Da mach' ich nicht mit! Ich werde nicht das Leben meiner Kinder aufs Spiel setzen, damit Franka ihren Mann und ihre Kinder wiedersehen kann.«
Sie war aufgestanden.
»Und du«, wandte sie sich zornig an Tom »könntest auch ein wenig an deine Kinder und an mich denken. Wir scheinen dir ja völlig egal zu sein!«
Mit diesen Worten verließ sie den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Verlegene Stille breitete sich aus.
»Warum ist Mami böse?«
Der dreijährige John war dem Gespräch aufmerksam gefolgt, ohne dessen Inhalt zu verstehen.
Sein Vater beruhigte ihn: »Nichts Schlimmes! Kommt Kinder, Zeit ins Bett zu gehen. Ich lese euch eine Geschichte vor!«
Nachdem die Kinder endlich eingeschlafen waren, kamen die Erwachsenen wieder zusammen. Auch Alice war dabei, was Franka dazu veranlasste, an jenem Punkt anzuknüpfen, an dem sie das Gespräch abgebrochen hatten.
»Wenn es nur darum ginge, Victor, Philippa und Valerie wiederzusehen, dann würde ich dir Recht geben, Alice. Ich dachte aber, es geht um mehr. Ich dachte, es geht darum, diese Leute nicht davonkommen zu lassen.«
»Natürlich geht es um mehr! Es geht um einen wichtigen Teil unseres Lebens. Sie haben uns unser Leben geklaut. Sie haben uns benutzt und manipuliert. Sie haben uns fünf Jahre lang wie Bakterien unter dem Mikroskop betrachtet, haben uns analysiert und sich Notizen gemacht. Und jetzt sind sie dabei, all das, was wir in diesen fünf Jahren erlebt haben, auszuwerten. Und dann? Was, wenn sie dann eine neue Gruppe zusammenstellen? Eine auf Grund der in unserem Experiment erhobenen Daten optimierte Gruppe? Diese Leute sind größenwahnsinnig und genau deshalb müssen sie gestoppt werden!«
Tom hatte sich in Rage geredet. Die Bereitschaft Alices, sich mit der Situation abzufinden, ja sie sogar gutzuheißen, enttäuschte ihn. Er liebte seine Kinder. Aber genau aus diesem Grund durften Menschen, die sich anderen Menschen gegenüber so verhielten wie diese Gruppe aus World Science, nicht davonkommen. Seine Kinder sollten in einer Welt aufwachsen, in der so etwas nicht geduldet wurde. Diese persönliche Grundeinstellung hatte er mit Alice schon häufig diskutiert. Prinzipiell gab sie ihm zwar recht, aber sie hatte Angst vor den Konsequenzen. Nicht für sich – wenn es nur um sie ginge, hätte sie nicht die geringsten Zweifel. Aber hier ging es um ihre Familie, um ihre Kinder. Andererseits liebte sie Tom. Sie konnte ihn nicht überzeugen, konnte sich aber auch nicht gegen ihn stellen. Deshalb schwieg sie nun.
»Ich stimme dir zu, Tom«, sagte Greg beschwichtigend. »Aber Alice hat auch recht. Wir müssen die Gefahr für uns und auch für unsere früheren Verwandten, Freunde und Bekannten so gering wie möglich halten. Deshalb werden wir nicht gemeinsam und von hier aus agieren. Ich reise zurück nach Johnsonville. Von dort aus nehme ich Kontakt mit Andreaz auf. Falls es schief geht, seid ihr außen vor. Dann erwischen sie nur mich. Ich habe hier keine Familie, die ich mit ins Verderben ziehen könnte. Andererseits glaube ich nicht, dass sie meiner Frau und meinen Kindern schaden werden. Ihnen wird es genügen, wenn sie mich aus dem Verkehr ziehen. Es liegt ihnen viel daran, Aufsehen zu vermeiden.«
Terence hatte sich bis jetzt zurückgehalten. Nun schaltete er sich ein: »Das halte ich für eine gute Idee. Der Kontakt muss sowieso von dir ausgehen. Das erwartet Vukinokz. Außerdem bist du der Einzige, der hinterher seine Spuren so tilgen kann, dass uns keiner auf die Schliche kommt.«
Franka nickte. Sie traute sich das vollständige Vernichten der Daten zwar auch zu, aber erstens kannte sie Vukinokz nicht und zweitens schuldete sie es Terence und ihren Kindern, sich zurückzuhalten. Alices Vorwürfe hatten sie schwer getroffen.
Dennoch erinnerte sie Greg: »Denk an Victor. Er erwartet eine Kontaktaufnahme von uns. Wenn er nichts von uns hört, wird er etwas unternehmen. Egal was er dann macht, es wird Staub aufwirbeln. Und das könnte gefährlich werden. Der Programmierer muss Victor rechtzeitig warnen.«
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