Das Gewicht der Leere - Kapitel 29

 

Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Wortlos legten Alice und Franka die letzten Meter zum Ferienhaus zurück. Tom und Greg saßen auf der großen Holzterrasse, von der man einen grandiosen Blick auf das Meer hatte. Terence war noch am Strand, wo er mit den Kindern eine Sandburg baute. Als die beiden Frauen so unerwartet früh wieder vor Tom standen, schluckte er die flapsige Bemerkung hinunter, die er sich schon zurechtgelegt hatte, wenn Alice und Franka schwer beladen mit Einkaufstüten wieder zurückkehren würden.
»Was ist passiert?«, fragte er besorgt.
Franka brach in Tränen aus, Alice sagte leise: »Wir haben Victor gesehen! Victor ist in Auckland. Wir haben seine Adresse.« 
Tom starrte Alice verständnislos an. Der Name Victor sagte ihm nicht auf Anhieb etwas. Im Gegensatz zu Greg, der sofort wusste, von wem die Rede war. 
»Was habt ihr zu ihm gesagt? Hat euch jemand gesehen?«, wollte er beunruhigt wissen.
Alice schilderte hastig und leise die Begebenheit, während Franka langsam die Terrassenstufen hinunter zum Strand ging. Von oben konnten sie beobachten, wie Terence aufstand und Franka in die Arme nahm. Lange blieben die beiden eng umschlungen stehen. Auch die Kinder hatten ihr Spiel unterbrochen und standen bei den Erwachsenen. Niemand bewegte sich. Es sah aus, als ob man einen Film angehalten hätte.
Irgendwann lösten sich Mann und Frau wieder voneinander, es schien, als wische Terence sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. Langsam stiegen sie die Stufen vom Strand auf die Terrasse empor. Franka hatte Amy an die Hand genommen, Terence Malcolm. John und Winston folgten.

»Ich muss euch etwas erzählen«, begann Greg, nachdem sie eine Weile mit gedämpften Stimmen darüber beraten hatten, was sie mit Victors Hotel-Adresse in Auckland anfangen sollten. Gab es eine Möglichkeit, gefahrlos für alle Beteiligten Kontakt mit ihm aufzunehmen?
Erwartungsvoll sahen sie Greg an. Dann berichtete er von der Begegnung mit Andreaz Vukinokz und schrieb die Zahlenfolge auf ein Brainboard:

10803123

»Ich grüble seither pausenlos darüber nach, ob diese Zahlenreihe etwas zu bedeuten hat, und wenn ja, was.«
Dann legte Greg ihnen dar, welche möglichen Theorien er bis jetzt entwickelt hatte.
Tom war wie elektrisiert. Endlich tat sich etwas! Die Begegnung mit Frankas Ehemann, so sehr ihm auch Terence leidtat, war eine unglaubliche, eine einschneidende, eine in ihrer Zufälligkeit kaum fassbare Begebenheit. Natürlich konnte nun keiner von ihnen so tun, als habe sich nichts ereignet. Im Gegenteil: Sie mussten handeln. Schon deshalb, weil sie nicht wussten, was Victor machen würde. Zwar hatte er im Moment des Geschehens den Frauen gehorcht, als sie ihn zum Gehen gedrängt hatten. Aber niemand wusste, was er unternehmen würde, wenn er Gelegenheit gehabt hatte, über die Begegnung nachzudenken.
Franka war sich sicher, Victor würde keinesfalls tatenlos bleiben. Das war nicht seine Art. Und er hatte sie nicht vergessen, auch das hatte die Begegnung deutlich gezeigt! Sie mussten also möglichst rasch aktiv werden, bevor Victor in seiner Unwissenheit einen Fehler beging, der ihn und die Kinder in Gefahr bringen würde. Wieder und wieder starrten sie die Zahlen an. Wie Greg waren sie davon überzeugt, Andreaz Vukinokz habe den Zwischenfall mit dem herabfallenden Papier absichtlich herbeigeführt. Die Zahlen mussten eine Bedeutung haben, die entschlüsselt werden konnte. Was aber war der richtige Ansatz für des Rätsels Lösung? Eines schien sehr wahrscheinlich: Greg war nicht deshalb als Empfänger der Nachricht ausgewählt worden, weil Vukinokz ihn am besten kannte, sondern weil er ebenfalls Programmierer war und deshalb am ehesten von ihnen die Fähigkeit besaß, die Zahlenreihe richtig zu deuten.
»Es sieht zunächst wie eine beliebige Zahlenfolge aus. Ein Passwort vielleicht, ein Zahlencode? Aber zu welchem Programm? Und vor allem: Wie sollen wir unbemerkt dieses Programm aufrufen können?«
Grübelnd drehte Franka das Board hin und her.
»Ich bin auch fest davon überzeugt, dass die Zahlen für etwas stehen«, meinte Terence. »Meistens sind Passwörter ja nicht aus beliebigen Zeichenfolgen zusammengewürfelt, sondern haben irgendeine zweite Bedeutungsebene für den, der sie vergibt. Ein Geburtsdatum oft – oder eben irgendetwas anderes, das für die Person, die das Passwort benutzt, von besonderer Wichtigkeit ist.«
Tom spann den Gedanken fort.
»Gehen wir also einmal davon aus, dass wir es mit einem Datum zu tun haben. Greg, du kennst Vukinokz doch. Welches Datum könnte für ihn eine Bedeutung haben? Ein Datum, von dem er weiß, dass auch du damit etwas verknüpfen kannst? Du warst einmal bei ihm zu Hause. Ist da irgendetwas gewesen, habt ihr über etwas gesprochen, auf das er Bezug nehmen könnte? An welchem Tag warst du dort? Was war das für ein Datum?«
Greg hatte daran natürlich auch schon gedacht. Sein Besuch war am 7. Mai gewesen. Das passte nicht zu den Ziffern. Vukinokz hatte vom Geburtstag seiner Enkeltochter Rosa erzählt. Das Mädchen war im Juni vor sieben Jahren drei Jahre alt geworden. Aber auch daraus ließ sich keine Verbindung mit der Zahlenreihe herstellen. Über was hatten sie sonst noch geredet? Greg versuchte sich an jedes einzelne Wort der Begegnung zu erinnern.
Damals war Greg zusammen mit Andreaz nach Atlanta geflogen. Aber auch während des Fluges hatten sie kaum miteinander gesprochen. Der Ältere war müde gewesen und hatte die meiste Zeit geschlafen. Am Zielort waren sie dann von Andreaz' Sohn abgeholt worden und gemeinsam nach Philadelphia gefahren. Im Kurzstreckengleiter hatte sich Andreaz fast ausschließlich mit seinem Sohn unterhalten. Greg hatte nicht zugehört. Falls da also ein Datum erwähnt worden war, dann war es an ihm vorübergegangen. Sie hatten ihr Gepäck bei Andreaz zu Hause abgestellt und waren dann quer über die Straße zu dem Haus gegangen, in dem sein Sohn mit Familie wohnte. Andreaz' Schwiegertochter hatte gekocht, sie hatten gemeinsam gegessen. Die Enkelkinder Rosa und Frank hatten ihren Großvater liebevoll begrüßt und ihn mehr oder weniger in Beschlag genommen, bis sie von der Mutter ins Bett gebracht worden waren. Auch in dieser Zeit war kein besonderes Datum zur Sprache gekommen. Außer Rosas Geburtstag eben, aber der passte einfach nicht zu den Ziffern.
»Ich denke, wir sollten das Problem von einer anderen Seite angehen«, schlug Terence vor. »Angenommen, es ist wirklich ein Passcode, den wir knacken müssen. Was geschieht, wenn wir ihn haben? Was ist dann? Wo sollen wir uns einloggen und wozu? Und vor allem: Wie gehen wir zu Werke, ohne das Überwachungsprogramm zu aktivieren?«
Bei dem Wort »Überwachungsprogramm« blickte Franka Terence verblüfft an: »Das ist es!«, stieß sie hervor. »Das Überwachungsprogramm! Wir sollen uns nirgends einloggen. Du hast doch gesagt, Greg, dass du vermutest, das Überwachungsprogramm sei von Andreaz Vukinokz programmiert worden. Nehmen wir an, du hast Recht und Vukinokz hat etwas in das Programm eingebaut. So wie diese Strings in den Versorgungsprogrammen. Etwas, das die anderen nicht entdecken können, weil eben nur ein Genie auf seinem Gebiet ... « 
Weiter kam Franka nicht.
»Natürlich! Mann, bin ich blöd! Er hat eine Unterbrechung einprogrammiert! Ein Datum und eine Uhrzeit! Genau da schaltet sich das Programm automatisch ab, ohne dass die Überwacher es merken. Vermutlich deswegen, weil ihnen in dieser Zeit irgendwelche alten Sequenzen vorgespielt werden!« Greg war aufgesprungen. »Los, Leute! Wir müssen das Datum und die Uhrzeit herausbekommen. Denn eine Uhrzeit muss auf jeden Fall dabei sein. Er kann das Programm nur für eine sehr begrenzte Zeit unterbrechen!«
Auch Tom, Franka und Terence konnten sich nicht mehr auf ihren Stühlen halten, sie waren nun viel zu aufgewühlt. Die Einzige, die noch saß, war Alice.
»Und dann? Mit wem nehmen wir Kontakt auf, wenn wir wissen, wann das Überwachungsprogramm ausgeschaltet ist?«, fragte sie etwas zweifelnd.
»Natürlich mit Andreaz! Warum hätte er mir sonst den Code zuspielen sollen?«
Alice war immer noch skeptisch. »Aber wenn er weiß, wann das Programm unterbrochen ist, warum ist er dann nicht schon lange mit uns in Verbindung getreten? Ich meine, falls das überhaupt seine Absicht ist.«
»Ganz einfach: Weil wir am Ende der Unterbrechung alle unsere Spuren löschen müssen. Andreaz kann allerdings nur seine Spuren löschen, unsere nicht. Wenn er uns kontaktiert und wir merken es nicht, dann wird seine Nachricht bei uns gespeichert und nach der Unterbrechung automatisch gemeldet. Und damit würde er die Unterbrechung verraten, da zwei Sequenzen die gleiche Uhrzeit hätten: die Nachricht und die Tarnsequenz. Daran würde jeder sofort die Manipulation erkennen.«
Terence hatte sich in der Zwischenzeit die Ziffernfolge unter den neuen Gesichtspunkten angesehen.
»Da er nicht weiß, wann wir auf die Lösung stoßen, wäre es doch am sinnvollsten, die Unterbrechung regelmäßig herbeizuführen. Solange, bis wir's kapiert haben und Kontakt aufnehmen. Eine Jahreszahl wird also nicht dabei sein, denn wir haben jetzt das Jahr 2164. Es ist keine 2 dabei, auch die 4 und die 6 fehlen. Ohne Jahr hätte ein Datum mit Uhrzeit maximal acht Ziffern. Sekunden können wir, glaube ich, ignorieren. Das würde passen.« 
Terence nahm den Stift und schrieb:

XX.YY AA:BB
10.08.    12:33; 13:23; 13:32 
08.10. dieselben Uhrzeit-Kombinationen
03.02.    18:13; 13:18; 11:38 

»Vukinokz ist doch aus Amerika, da zählt man die Stunden doch eigentlich nur bis 12 und kennzeichnet durch a.m. oder p.m., ob die Uhrzeit vor oder nach 12 Uhr mittags liegt. 13 Uhr, 18 Uhr passt nicht dazu,« gab Franka zu bedenken.
Terence nickt: »Da hast du vermutlich recht. Was bleibt dann?«
Er schrieb wieder:

01 Uhr, 02 Uhr, 03 Uhr, 08 Uhr, 10 Uhr, 12 Uhr

Frustriert lehnte er sich zurück. »Wir brauchen irgendeinen Anhaltspunkt. Sonst gibt es viel zu viele Möglichkeiten.« 
»Greg, denk nach! Es muss ein Datum sein, von dem Vukinokz weiß, dass du es kennst und dass du draufkommst, weil es eben irgendeine Bedeutung hat.« Tom lief ungeduldig auf und ab.
»Glaubst du, ich kann mich konzentrieren, wenn du so herumrennst?«, knurrte Greg sichtlich nervös. »Ich gehe jetzt in mein Zimmer und komme erst wieder heraus, wenn ich das Rätsel gelöst habe!«

Terence begann, das Abendessen zuzubereiten. Zwar gab es selbstverständlich einen Speise- und Getränkeautomaten im Haus, der auch eine fast unbegrenzte Anzahl schmackhafter Gerichte zur Wahl anbot, aber Kochen beruhigte Terence. Außerdem hatte er dabei das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Kochen war in letzter Zeit ein sehr verbreitetes Hobby geworden, dem fast ausschließlich Männer nachgingen. Auch war es auf die wohlhabenden Schichten begrenzt, da Nahrungsmittel sehr teuer waren. Vor allem, wenn es sich um echte – im Gegensatz zu den synthetisch hergestellten – handelte. Allerdings waren solche natürlich produzierten Lebensmittel, also beispielsweise Fleisch- oder Milchprodukte und auch Getreide- oder Pflanzenerzeugnisse, in Neuseeland im Vergleich zu vielen anderen Ländern halbwegs erschwinglich. Das war eine Folge der geringen Besiedelung, wodurch große Flächen für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung standen.
Frankas Begegnung mit ihrem Ehemann war für Terence mindestens ebenso aufwühlend wie für Franka selbst. So sehr er auch gegen die Angst ankämpfte, die ihn bei dem Gedanken, Franka könnte ihn verlassen und zu Victor zurückkehren, überfiel, schaffte er es nicht, seine Besorgnis vollständig einzudämmen. Franka hatte ihm zwar versichert, ihn nie zu verlassen. Aber konnte sie sich da wirklich so sicher sein? Was, wenn sie nur bei ihm blieb, weil sie sich an ihr Versprechen gebunden fühlte, sich aber nach dem anderen Mann und ihren anderen Kindern sehnte? Mit einer solchen Situation könnte Terence nicht leben. Er müsste Franka freigeben.
Allerdings fühlte er sich nach dem anfänglichen Schock auch etwas erleichtert. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Möglichkeit, Franka müsse sich irgendwann doch noch zwischen ihrem früheren und ihrem jetzigen Leben entscheiden, war seit ihrer »Rückkehr« zur Erde stets wie ein Damoklesschwert über ihrer Beziehung geschwebt. Nun war wenigstens das qualvolle Warten vorüber. Es würde sehr wahrscheinlich eine weitere Begegnung zwischen Franka und Victor geben, die Verhältnisse würden geklärt werden. So oder so.
Aber auch noch einen anderen Grund gab es, weshalb Terence die neue Entwicklung auch positiv betrachten konnte: Obwohl er es nie so offen zeigte wie Tom, konnte er dieser Gruppe von Menschen, die sich World Science nannten und sich in ihrer maßlosen Selbstüberschätzung zu Göttern über andere aufgeschwungen hatten, nicht verzeihen. Die Untat, die sie begangen hatten, musste geahndet werden, egal wer darin verwickelt war. Terence war seinerzeit in die US-Army eingetreten, weil er bereit war, für seine Überzeugung selbst sein Leben zu riskieren. Und genau dieses Opfer würde er auch jetzt bringen, wenn er das Krebsgeschwür, das da ihrer aller Leben um ein Haar zerstört hätte, vernichten könnte.

Franka war zu einer Strandwanderung aufgebrochen. Sie musste eine Weile allein sein. Das Wiedersehen mit Victor hatte eine ihrer großen Fragen beantwortet: Sie liebte ihn immer noch genauso wie früher. Auch Victor hatte sie nicht vergessen, das hatte die kurze Begegnung deutlich gezeigt. Ihre beiden Mädchen! Am liebsten hätte sie sich auf sie gestürzt und sie in die Arme genommen. Aber ihr Körper war ganz offensichtlich vernünftiger gewesen als ihr Geist. Ein Schwächeanfall hatte diese gefährliche Unvorsichtigkeit verhindert.
Franka liebte Terence und Malcolm und Amy genauso wie sie Victor und Philippa und Valerie liebte. Wie sollte sie nur diesen Konflikt lösen, selbst wenn das absolute Kontaktverbot nicht bestünde? Auf diese Frage konnte sie keine Antwort finden und würde wohl auch in hundert Jahren zu keiner kommen. Ausgelaugt, erschöpft und voller tiefer Traurigkeit kehrte sie schließlich zu den anderen zurück.

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