Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Den ersten Urlaub, seit sie sich in ihrer neuen Heimat niedergelassen hatten, wollten Franka, Terence, Alice, Tom und Greg gemeinsam in einem Ferienhaus auf der Halbinsel Coromandel verbringen. Der Flug von Wellington nach Auckland dauerte mit dem Langstreckengleiter gerade einmal eine halbe Stunde. In Auckland stiegen sie in zwei Kurzstreckengleiter um, und nach einer weiteren halben Stunde waren sie am Ziel. Ihr Ferienhaus lag nahe der Stadt Whitianga direkt am Strand. Das große, vollkommen aus Holz gebaute Haus hatte sechs Schlafzimmer, zwei im Erdgeschoss und vier weitere im Obergeschoss. Dazu drei Badezimmer, was für fünf Erwachsene und vier Kinder komfortabel war. Die Kinder erklärten, sie würden alle zusammen in einem Raum schlafen und wählten ein Zimmer mit einem großen Doppelbett, in dem sie alle Platz fanden. Die Matratze wurde sofort getestet, indem sie alle lachend und kreischend darauf herumhüpften. Ihren Eltern standen dann noch drei Räume im gleichen Stockwerk zur Auswahl. Ein Badezimmer wurde zum Kinderbadezimmer erklärt. Das andere teilten sich Franka, Alice, Tom und Terence. Greg hatte sich sofort im Erdgeschoss einquartiert. Da störte er die anderen am wenigsten, denn er blieb oft die halbe Nacht hindurch auf.
Es hatte Franka einige Mühe gekostet, Greg zum Mitkommen zu überreden. Zwar liebte er die Kinder, aber sie erinnerten ihn auch schmerzlich an seine eigenen. Vor allem deswegen, weil sie damals, als er diese verhängnisvolle Reise angetreten hatte, genau in dem Alter gewesen waren wie nun die Kinder seiner Freunde. Oft dachte Greg darüber nach, wie viel er im Leben seiner Kinder verpasst hatte und was er auch in Zukunft niemals miterleben würde.
Schnell hatte sich Urlaubs-Routine eingespielt. Um Ausflüge, an denen den Kindern das Interesse fehlte oder für die sie zu klein waren, möglich zu machen, stellten sich jeweils im Wechsel zwei Erwachsene zur Verfügung, die mit den Kindern an den Strand gingen. Währenddessen genossen die anderen ihre freie Zeit. Tom und Terence unternahmen zusammen einen Tauchausflug, Alice und Franka erfreuten sich an einer Fahrt mit der historischen Bahn Driving Creek Railway, die tatsächlich noch auf Schienen fuhr und schon über 200 Jahre alt war. Natürlich diente sie nicht mehr vorrangig dem Zweck der Fortbewegung, sondern war eine beliebte Touristenattraktion. Sie zuckelte so langsam dahin, dass Franka und Alice ungestört eine Natur bewundern konnten, an der sie sich immer noch nicht sattsehen konnten.
Heute aber hatten sich die beiden Frauen zu einer Shoppingtour in Auckland entschlossen. Die Millionen-Metropole sollte wohl genügend Möglichkeiten bieten, die Garderobe der Kinder und natürlich auch die eigene ein wenig zu ergänzen. Franka war bereits mit Terence zum Sightseeing in der Stadt gewesen und kannte sich nun schon ein wenig aus. Deshalb verließen sie und Alice den Gleiter an einer Haltestelle in Downtown, von wo aus sie einige ihrer geplanten Ziele zu Fuß erreichen konnten.
Alice war noch mit dem Einsammeln ihrer Habseligkeiten beschäftigt, die sie während der Fahrt auf nicht besetzten Sitzen abgelegt hatte.
»Es ist ziemlich windig! Zum Glück haben wir Jacken mitgenommen. Hast du irgendwo meine Sonnenbrille gesehen?«, fragte sie.
Franka blickte sich prüfend um. Und da, ja, da sah sie ihn. Gut zehn Meter von ihnen entfernt stand Victor! Wie paralysiert starrte Franka den Mann an, der ebenfalls gerade aus einem Gleiter gestiegen war und sich nun mit einer Frau unterhielt, während er ihr aus dem Fluggerät half. Als dann auch noch zwei Mädchen ausstiegen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, schien eine eisige Hand Frankas Herz zusammenzupressen. Sie spürte, wie eine plötzliche Lähmung jede Bewegung ihres Körpers unmöglich machte. Die Zeit stand still. Dann gaben Frankas Beine nach und sie sackte lautlos in sich zusammen.
Alice hatte Franka schon mehrmals angesprochen, aber keine Antwort zu erhalten. Da Franka in die andere Richtung blickte, konnte Alice das Gesicht der Freundin nicht sehen. Aber sie beobachtete erschreckt, wie Franka zusammensank.
»Franka! Was hast du?«, rief Alice laut und lief um den Gleiter herum. Sie sah nicht, wie der Mann bei dem Ausruf »Franka!« zusammenzuckte. Wie vom Donner gerührt starrte auch er Franka an, dann setzte er sich hastig in Bewegung. Er kannte die Frau nicht, die soeben diesen vertrauten Namen gerufen hatte, auch hatte sie Englisch gesprochen. Seine Begleiterin und die Kinder riefen ihm etwas nach. Er jedoch hörte sie nicht.
Als Franka wieder zu sich kam, knieten Alice und Victor neben ihr.
»Vielen Dank!«, sagte Alice freundlich zu dem Unbekannten. »Aber ich glaube, wir ...« Ihre Stimme erstarb, als sie den schmerzvollen Ausdruck im Gesicht des Mannes sah.
»Franka!«, stieß er hervor.
»Victor!«
Da verstand Alice. Und sie reagierte blitzschnell. Eindringlich und leise sprach sie auf den Fremden ein.
»Sie müssen sofort verschwinden. Wir werden überwacht! Bitte gehen Sie, es ist extrem gefährlich für Sie und für uns. Tun Sie es für Ihre Kinder, auch wenn Sie nun gerade die Zusammenhänge nicht verstehen können.« Hektisch kramte Alice in ihrer Handtasche und holte ein Brainboard hervor. »Schreiben Sie uns hier Ihre Adresse auf, unter der wir Sie erreichen können. Aber dann gehen Sie, und zwar so, als wäre gerade nichts gewesen, schnell! Wir versuchen auf jeden Fall, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen!«
Victor starrte die unbekannte Frau verständnislos an. Woher kannte sie seine Kinder? Franka murmelte auf Deutsch: »Bitte, Victor! Tu um Himmels Willen, was Alice sagt, und dann geh. Bitte sag Valerie und Philippa nichts. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, uns mit euch in Verbindung zu setzen, aber wir werden alles daransetzen. Wenn man uns hier zusammen sieht, dann ist das für dich, für die Kinder und auch für mich lebensbedrohlich.« Da kritzelte er wie in Trance ein paar Zahlen und Worte auf das Board, wobei er Franka nicht aus den Augen ließ. Dann erhob er sich, wandte sich um und schleppte sich zögernd und unsicher wie ein Schlafwandler zu der Frau und den beiden Mädchen zurück.
Alice zog Franka rasch mit sich in den Gleiter, programmierte ihre Heimfahrt ein und drückte auf den Startknopf. Der Gleiter startete und klinkte sich in die entsprechende Magnettrasse ein. In drei Metern Höhe überflogen sie die vier Personen, von denen eine Frankas Ehemann und zwei Frankas Töchter waren.
Auch Victor fühlte sich wie unter Schock. Hatte er all das gerade geträumt? War er überhaupt wach, halluzinierte er vielleicht?
»Papa! Was ist denn los?« Philippa blickte ihren Vater prüfend an.
»Was hast du, Papa? Du bist ja ganz blass! Ist dir schlecht?«, fragte Valerie besorgt.
Victor betrachtete mit stumpfem Blick und wie aus der Ferne seine beiden Töchter. »Ich habe eben eure Mutter gesehen«, wollte er sagen. Dann fielen ihm die Warnungen ein, die er gerade gehört hatte. Sein Gehirn lief auf Hochtouren, während er bleich und zitternd vor den beiden Mädchen und seiner Freundin Beate stand. Schließlich riss er sich mit fast übermenschlicher Kraft zusammen.
»Entschuldigt! Ich habe gesehen, wie die Frau neben dem Gleiter zusammengeklappt ist und wollte helfen. Sie hatte ein von Brandwunden so völlig entstelltes Gesicht, das hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Es geht gleich wieder. Macht euch keine Sorgen.«
Philippa und Valerie glaubten ihrem Vater sofort. Klar, dass ihn ein solcher Anblick erschütterte. Die arme Frau! Aber dann vergaßen sie den Vorfall rasch wieder und schlenderten zusammen mit Beate und ihrem Vater Richtung Stadtzentrum, um ihre Einkaufstour zu beginnen.
Als die Mädchen, die beschwingt vorausliefen, etwas Vorsprung gewonnen hatten, fragte Beate leise: »War sie es? War das Franka, deine Frau?«
Beate hatte gesehen, welche Wirkung der Ruf »Franka« auf Victor gehabt hatte. Sekunden des Schweigens vergingen. Wieder focht Victor in sich einen Kampf aus, der ihm stundenlang vorkam. Dann schüttelte er energisch den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Franka ist tot.«
Beate sah Victor zweifelnd an, beschloss aber, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen.
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