Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Franka und Terence hatten sich mit ihren Kindern in Johnsonville, einem Vorort von Wellington auf der Nordinsel von Neuseeland niedergelassen, ebenso Alice und Tom. Auch Greg hatte sich ihnen angeschlossen. Da Franka Deutsche war, Terence und Tom US-Amerikaner und Alice und Greg Kanadier, waren die Bedingungen des Vertrags erfüllt. Derek und Melanie wurde der Aufenthalt in Neuseeland nicht gestattet, denn Melanie hatte früher in Australien gelebt.
Terence hatte eine Professur als Physiker an der Victoria University of Wellington bekommen. Franka und Greg kamen bei Datacom als Informatiker unter, einem weltweit operierenden Softwareunternehmen mit Sitz in Wellington. Tom musste sich mit einem zeitlich begrenzten Job als Maschinenbauingenieur bei einem kleinen, zu Bosch gehörenden Hersteller von chemischen Industrieanlagen begnügen. Alice arbeitete aushilfsweise als Ärztin im Wellington Hospital. Durch die Entschädigungssumme, die sie von World Science bekommen hatten, waren sie allerdings finanziell unabhängig.
Der eine Tag, der ihnen von den Wissenschaftlern zum Überlegen zugestanden worden war, hatte nicht viele Möglichkeiten offengelassen. Die Androhung der Inhaftierung genügte als Einschüchterung. Außerdem waren viele einfach froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Und manche fühlten sich sogar erleichtert, sich mit den Konflikten, die sie mit ihren früheren Familien gehabt hatten, nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Zwar bedauerten sie, keinen Kontakt zu ihren Eltern, Geschwistern, Freunden und Bekannten aufnehmen zu dürfen, aber diesen Nachteil mussten sie eben in Kauf nehmen.
Tom, Franka und Greg konnten sich mit ihrer Situation nicht abfinden. Toms Wut, hereingelegt und manipuliert worden zu sein, nahm im Laufe der Zeit eher zu. Seine kranke Mutter war ganz allein gestorben, im Stich gelassen von ihrem einzigen Sohn. Auch wenn er nichts dafür konnte, verzeihen würde er sich das nie. Und noch weniger vergeben würde er diesen aufgeblasenen Affen von World Science.
Für Franka war das Wissen, dass Victor und ihre Kinder lebten, sie aber keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen durfte, schwerer zu ertragen als der Gedanke an den Tod ihrer Familie, an den sich zu gewöhnen sie fünf Jahre lang Zeit gehabt hatte. Sie liebte Terence und Malcolm und Amy, aber sie sehnte sich nach ihren beiden Töchtern Philippa und Valerie. Ihre Gefühle Victor gegenüber konnte sie nicht mehr definieren. Ob sie ihn noch genauso liebte, ob sie ihn mehr liebte als Terence, das könnte nur eine persönliche Begegnung zeigen.
Gregs Gefühle waren gespalten: auf der einen Seite Wut über den menschenverachtenden Versuch, an dem mitzuwirken er gegen seinen Willen gezwungen worden war, auf der anderen Seite maßlose Enttäuschung darüber, dass sein Idol Andreaz Vukinokz an all diesen Gräueltaten ebenfalls beteiligt war. Gregs Sehnsucht nach seiner Frau und seinen Kindern allerdings wurde nicht durch das Vorhandensein einer neuen Familie gebremst. Vielleicht lebte sogar der Hund noch!
Die Arbeit, die Greg bei Datacom zugewiesen bekam, erledigte er mit links. Da gab es nichts, was seine Aufmerksamkeit irgendwie gefesselt hätte. Die meisten seiner Überlegungen drehten sich hingegen darum, wie er doch Kontakt mit seiner Familie aufnehmen könnte, ohne diese und sich selbst zu gefährden. Auch kehrten seine Gedanken ständig zu einer kleinen Begebenheit zurück, die an jenem Tag stattgefunden hatte, an dem sie alle zur Unterschrift der Geheimhaltungsverträge gezwungen worden waren.
Greg hatte sich schon die ganze Zeit von Andreaz Vukinokz beobachtet gefühlt. Tatsächlich sah er den Programmierer auf sich zukommen, als er nach einem Besuch des Waschraums den langen ringförmigen Flur passierte. Vukinokz war nicht alleine. Professor Karlson war bei ihm, beide waren in ein Gespräch miteinander vertieft. Als Vukinokz an Greg vorüberging, streiften die Männer einander versehentlich. Dabei fielen die Papiere, die Vukinokz in der Hand gehalten hatte, zu Boden. Greg bückte sich automatisch, um Andreaz Vukinokz beim Aufsammeln behilflich zu sein, dabei wechselten sie kein Wort miteinander. Vukinokz' Begleiter stand dabei, machte aber keine Anstalten, ebenfalls zu helfen, sondern sprach ungerührt weiter. Auch Andreaz war noch völlig auf das Gespräch konzentriert, er reagierte auf Karlsons Ausführungen und schien gar nicht so recht zu bemerken, dass er da gerade herabgefallene Papiere vom Boden auflas. Doch Greg bemerkte, wie Andreaz seinen Hemdärmel ein wenig nach oben schob und damit eine Reihe von Ziffern: 10803123 sichtbar wurde.
Fortan waren diese Zahlen unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt. Dabei war Greg sich nicht einmal sicher, ob ihm der Programmierer eine Botschaft übermitteln wollte oder ob alles reiner Zufall war und das Vorkommnis überhaupt nichts zu bedeuten hatte. Dennoch überlegte er ununterbrochen, was sich hinter der Zahlenreihe verbergen könnte. Vielleicht handelte es sich um ein Passwort? Aber zu welchem Login?
Erschwerend kam hinzu, dass Gregs Computer natürlich ebenfalls überwacht wurde. Greg konnte sich nirgendwo einloggen ohne dadurch seine Beobachter zu alarmieren. Vermutlich hatte Andreaz dieses Überwachungsprogramm sogar selbst geschrieben. Lange überlegte Greg, ob er Franka von der eigenartigen Begebenheit berichten sollte. Sie fand oft intuitive Problemlösungen, die ihm selbst nicht – oder zumindest nicht so schnell – eingefallen wären. Durfte er sie in diese Angelegenheit hineinziehen? Denn eines war klar: Zu verlieren hatte Franka deutlich mehr als er.
Die Freundschaft zwischen den fünf Erwachsenen war bisher toleriert worden. Sie trafen sich häufig abends nach der Arbeit, wenn die Kinder im Bett waren. Oder sie planten an den Wochenenden gemeinsame Unternehmungen. Über ihre Jahre in der Rakete unterhielten sie sich nur außerhalb ihrer Häuser, beispielsweise auf Wanderungen, wenn sie sich in einer Umgebung wussten, die nicht abgehört werden konnte. Bei diesen Gelegenheiten diskutierten Franka und Tom oft über Möglichkeiten, wie sie die Machenschaften Davidsons und seiner Gefolgsleute aufdecken und die Verbrecher zur Rechenschaft ziehen könnten. Meist drehten sich diese Gespräche aber im Kreis. Und oft waren es Terence, Greg oder Alice, die die Schwachstellen der erwogenen Pläne aufzeigten. Aber Franka und Tom ließen nicht locker. Greg hatte sich vorgenommen, noch ein Jahr lang abzuwarten. Wenn sie dann immer noch entschlossen waren, gegen ihre Entführer vorzugehen, dann würde er ihnen von der Zeichenfolge berichten. In der Zwischenzeit dachte er selbst in aller Ruhe weiter darüber nach.
Für Greg gab es zwei Theorien: Andreaz hatte ihm die Zeichen absichtlich gezeigt, dann hatten sie eine Bedeutung. Oder war das Fallenlassen der Papiere wirklich eine Ungeschicklichkeit? Dann war der Anblick der Ziffernreihe nicht für Greg bestimmt gewesen, sondern der Programmierer hatte sich irgendetwas notiert, damit er es nicht vergaß.
Die zweite Möglichkeit war schon deshalb eher unwahrscheinlich, weil Andreaz nie etwas vergaß. Also konzentrierte sich Greg auf die These, Andreaz wollte ihm etwas mitteilen. Das wiederum ließ eigentlich nur einen Schluss zu: Andreaz war selbst mit dem Test nicht so einverstanden gewesen, wie es den Anschein hatte. Sollte dem so sein, so gab es an dieser Stelle wieder zwei Erklärungs-Varianten: Andreaz war zum Mitmachen gezwungen worden, oder er war mit von der Partie, weil er eine Absicht verfolgte. Zwang war natürlich nicht unwahrscheinlich. Greg und seine Mitreisenden hatten am eigenen Leib erfahren, wozu die Gruppe, die sich World Science nannte, fähig war. Andreaz für seinen Teil würde alles tun, um seine Enkel vor Schaden zu bewahren. Das schloss aber nicht aus, dass er auch eigene Ziele verfolgte. Schon die Trojaner, die er in die Programme eingeschleust hatte, waren fragwürdig. Es gab weit unauffälligere Methoden, die den gleichen Zweck erfüllten. Andreaz Vukinokz hatte es Greg also ganz offenbar absichtlich leicht gemacht, damit er ihm auf die Schliche kommen konnte.
Also: Angenommen, die Zeichen hatten etwas zu bedeuten. Was könnte das sein? Am wahrscheinlichsten schien Greg der Versuch einer direkten Kontaktaufnahme. Aber wie? Sie wurden rund um die Uhr überwacht. Greg konnte nicht eine einzige Seite im Netz aufrufen, ohne dass seine Bewacher dies sofort wussten. Er konnte keinen einzigen Befehl schreiben, ohne dass sie mitlasen. Sollte das Überwachungsprogramm wirklich von Andreaz Vukinokz programmiert worden sein, dann hätte er die Möglichkeit gehabt, auch hier Sequenzen einzufügen, deren Bedeutung nur ihm klar war. Aber was nützte das? Greg hatte ja auf das Überwachungsprogramm keinen Zugriff! Egal also, was Andreaz eingebaut hatte, Greg würde es nicht sehen.
Die Zeit schritt voran. Die fünf Wahl-Neuseeländer richteten sich ihr Leben ein. Und sie mussten zugeben: Es war kein schlechtes Leben. Sie hatten Arbeit, genügend Geld, Freunde und Bekannte. Auch in ihrem Wohnviertel knüpften sie Kontakte. Gesprächen über ihre Vergangenheit versuchten sie allerdings nach Kräften auszuweichen. Zwar waren sie von den Initiatoren des Tests mit detaillierten »Lebensläufen« ausgestattet worden, aber es widerstrebte ihnen, diese zu verwenden.
Für Terence ergab sich ein zusätzliches Problem: Als Astrophysiker hatte er sich in seinem früheren Leben einen hervorragenden Ruf erworben. Unter seinen Kollegen in aller Welt war sein Name bekannt, sie kannten seine Veröffentlichungen und seinen Schreibstil. Manche waren ihm natürlich auch persönlich begegnet. Diesen Kontakten musste er nun strikt aus dem Weg gehen.
Die Kinder waren glücklich. Sie hatten die erste Zeit ihres Lebens auf sehr beengtem Raum verbracht, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein oder etwas vermisst zu haben. Nun aber lernten John und Malcolm – Amy und Winston waren zu klein, um einen Unterschied wahrzunehmen – die Natur kennen, und zwar eine völlig andere Natur, als sie ihnen der Park auf dem obersten Deck des Schiffes hatte bieten können. Vor allem Tiere begeisterten die Kinder. Die einzigen, die sie in ihrem bislang kurzen Leben kennengelernt hatten, waren die Mäuse Tick, Trick und Track gewesen. Nun gab es Pferde, Hunde, Katzen, Vögel, Fische und vieles mehr.
Als einzige Erwachsene dieser Fünfergruppe fühlte sich Alice wunschlos glücklich. Sie hatte durch das schreckliche Experiment keinen geliebten Menschen verloren, ihre Eltern waren schon lange tot. Mit ihren Verwandten hatte sie ohnehin wenig Umgang gehabt, ihren Bruder, mit dem sie sich nicht gut verstanden hatte, vermisste sie nicht. Finanziell ging es ihr besser als je zuvor. In der Klinik knüpfte sie schnell Kontakte zum medizinischen Personal – und nicht zuletzt liebte sie Tom und die Kinder John und Winston über alles. Es war ihr nie besser gegangen als jetzt, am liebsten hätte sie ihr neues Leben einfach genossen. Sie konnte nicht verstehen, warum Tom nicht genauso empfand. Warum diese Wut? Gerade er hatte das Abenteuer Raumfahrt doch am meisten geschätzt. Warum hasste er diejenigen so sehr, die ihm dieses Abenteuer geboten hatten? Nun ja, das Raumschiff hatte die Erde nie verlassen, aber bedeutete das denn wirklich einen so großen Unterschied? Natürlich war auch Alice klar, dass man Menschen nicht unter einem Vorwand und gegen ihren Willen zu einem derartigen Experiment zwingen durfte. Aber es war hier nun einmal so gewesen. Das ließ sich nicht ändern. Gerade Tom wäre doch der Erste gewesen, der sich freiwillig zu solch einer Expedition gemeldet hätte.
Dazu kam noch, dass Tom und sie sich auf dem Raumschiff kennen und lieben gelernt hatten. Ohne diese Grenzerfahrung wären sie sich vielleicht nie begegnet. Diesem Umstand maß Tom viel zu wenig Bedeutung bei, fand Alice. Melanie hätte ihre Gefühle verstanden, aber Melanie war weit weg. Und mit Franka darüber zu diskutieren, das hatte keinen Zweck. Frankas Gedanken bewegten sich in den gleichen Bahnen wie Toms. Terence war in diesem Punkt zwar ein besserer Gesprächspartner, aber auch er empfand Wut auf ihre Entführer, wenngleich er nicht ein derart dringendes Bedürfnis verspürte, ihnen die Suppe zu versalzen. Vermutlich legte Terence sowieso keinen großen Wert auf ein Zusammentreffen mit Frankas früherer Familie. Das konnte Alice gut verstehen. Ihr blieb also nur die Hoffnung, Tom würde im Laufe der Zeit ruhiger werden und ihr jetziges Leben doch noch genießen lernen.
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