Mona Kim Bücher Schaltjahr Roman
Der Sonntag entwickelte sich zu einem drückend heißen Tag und Rena beschloss, nach einer ausgiebigen Wanderung mit Troop, bei der beide ordentlich ins Schwitzen geraten waren, einen kurzen Abstecher zu dem nahegelegenen Baggersee zu machen und in dem um diese Jahreszeit sicher noch eiskalten Wasser eine Runde zu schwimmen.
Sie war nicht die Einzige, der dieser Gedanke gekommen war. Der See, durch den Bau der Autobahn entstanden, war ein beliebtes Ausflugsziel. Genau genommen handelte es sich um zwei durch einen schmalen Weg getrennte Seen. Der Lärm der Autobahn drang nur bei Westwind störend durch die dichte abgrenzende Baum- und Buschbepflanzung. Zu sehen war die Straße nicht.
Da Rena vernünftigerweise das Fahrrad als Transportmittel gewählt hatte, entging sie dem Gerangel um einen der wenigen Parkplätze. Auf ihrer Fahrt zum See fuhr sie an einigen Leuten vorbei, die sie auf der Party am Samstag kennengelernt hatte und teilte nach rechts und links Grüße aus, auf die sie freundliche Erwiderungen zurückerhielt. Allerdings hoffte Rena, auf der großen Fläche des Sees unbemerkt ihre Runden ziehen zu können. So schön der gestrige Abend auch gewesen war, war sie doch heute lieber alleine. Sorgfältig darauf achtend, keine bekannten Gesichter um sich zu haben, suchte sie sich einen Platz, an dem sie ihre Kleider ablegen konnte und watete ins Wasser. Die Kälte nahm ihr den Atem. Doch nach einigen kräftigen Schwimmzügen fing ihr Blut wieder an zu zirkulieren. Auch bestand jetzt keine Gefahr mehr, Bekannte zu treffen, da die meisten nicht zum Schwimmen, sondern der Gesellschaft wegen gekommen waren. Die glatte Wasseroberfläche war kaum durch Köpfe von Schwimmern durchbrochen. Nur in den ersten flachen und deshalb von der Sonne erwärmten Metern an den Ufern tummelten sich Kinder. Rena schwamm leidenschaftlich gerne. Mitten auf dem See hatte sie eine kleine Insel erspäht, die sie sich zum Ziel nahm.
Erschöpft kam Rena dort an. Die Strecke war doch weiter gewesen, als sie angenommen hatte. Froh, sich vor dem Rückweg etwas ausruhen zu können, ließ Rena sich wohlig aufseufzend auf der zum Wasser abfallenden Grasfläche nieder und wandte die geschlossenen Augen der Sonne zu. Ein paar Minuten noch genoss sie die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer ausgekühlten Haut, dann schlief sie ein.
Vielleicht war es der Schatten auf ihrem Gesicht, der sie weckte. Zuerst glaubte Rena, eine Wolke habe sich vor die Sonne geschoben. Eine Wolke, die aus dem Nichts aufgetaucht sein musste, denn der Himmel war wolkenlos. Doch als sie die Augen aufschlug, stand Thomas Griesser vor ihr und sah auf sie herunter. Verlegen setzte Rena sich auf. Die abrupte Bewegung verursachte einen leichten Schwindel in ihrem Kopf.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken!«
Mit diesen Worten ließ sich Herr Griesser neben Rena im Gras nieder. Er musste schon eine Weile dagestanden haben, denn sein Körper und seine Haare waren zwar feucht, aber nicht so nass, als ob er eben erst aus dem Wasser gestiegen wäre.
»Normalerweise schwimmt außer mir niemand so weit heraus. Schon gar nicht bei dieser Wassertemperatur.«
Rena erwiderte nichts. Wieder war sie sich, wie gestern Abend, seiner Anwesenheit auf eine eigenartige körperliche Art bewusst. Thomas Griesser war ein sehr gut aussehender Mann. Sein großer, schlanker Körper, der in Kleidung leicht schlaksig wirkte, entpuppte sich in der Badehose als muskulös und durchtrainiert. Lange saßen sie schweigend nebeneinander. Es war ein angenehmes Schweigen, nicht das gezwungene nach passenden Worten suchende Schweigen zwischen zwei Fremden, die das Gefühl hatten, Konversation machen zu müssen, sondern ein einvernehmliches Schweigen. Rena hätte stundenlang so sitzen können, wenn da nicht Troop gewesen wäre. Dem Stand der Sonne nach war sie schon mindestens zwei Stunden von zu Hause weg. Mit einem leisen Gefühl des Bedauerns stand sie auf.
»Ich muss zurück. Troop wartet auf mich. Er ist es nicht gewohnt, lange alleine zu bleiben. Auf Wiedersehen!«, verabschiedete sie sich.
»Mona hat schon viel von Ihrem Hund erzählt. Bei Gelegenheit möchte ich ihn auch kennen lernen. Hoffentlich auf ein baldiges Wiedersehen! Ich danke Ihnen.«
Erstaunt sah sie ihn an. »Wofür?«
»Für Ihr angenehmes Schweigen.«
Es hätte Sarkasmus sein können, aber intuitiv wusste Rena, dass er es genau so meinte, wie er es sagte. Deshalb nickte sie nur und lächelte. Auf dem Rückweg ging ihr der Mann nicht aus dem Kopf und auch der Rest des Sonntags brachte wenig Ablenkung.
Als sie vor einem halben Jahr ihrer Familie und dann nach und nach auch ihren Freunden und Bekannten mitgeteilt hatte, dass sie vorhabe, ein neues Leben zu beginnen, war diese Ankündigung für alle Beteiligten vollkommen unerwartet gekommen und hatte eine entsprechend schockierte und verständnislose Reaktion ausgelöst. Für Rena selbst war es ein logischer Schritt nach jahrelangem Zögern gewesen, in denen sie ganze Nächte und Tage grübelnd verbracht hatte. Sie hatten vor zwanzig Jahren nach nur kurzer Bekanntschaft geheiratet, weil – warum auch sonst? – ein Kind unterwegs gewesen war. Obwohl ein Kind auch damals schon lange kein zwingender Grund mehr für eine Ehe gewesen war, hatte sie sich der Verantwortung alleine nicht gewachsen gefühlt. Rena stammte aus einer lieblosen, zänkischen und ständig in finanziellen Schwierigkeiten steckenden Familie. Ein uneheliches Kind alleine aufzuziehen, hätte für sie bedeutet, in dieser sozialen Schiene zu bleiben. Die wenigen Male, bei denen sie mit ihren zukünftigen Schwiegereltern zusammengetroffen war, hatten in ihr die Hoffnung geweckt, in eine liebevolle, intakte und finanziell gutstehende Familie hineinzuheiraten. Dies hatte sie bald als Irrtum erkannt. Die Familie ihres Mannes hatte sie nie akzeptiert. Nach außen hin war das Verhältnis untadelig, aber es war keinerlei Nähe und Vertrauen entstanden. Heute, da sie selbst zwei neunzehnjährige Söhne hatte, konnte sie ihre Schwiegereltern besser verstehen. Sie hatten die hoffnungsvolle Zukunft ihres Sohnes in Scherben gesehen und Rena die Schuld daran gegeben. Und Rena war es von Kind an gewohnt, die Schuldige zu sein. Sie hatte die Rolle akzeptiert und ihre eigenen Wünsche immer hintenangestellt.
Schnell und ereignisreich waren die Jahre vergangen. Zum Grübeln fand sie nach Ankunft der Zwillinge, mit einem Mann, der sich noch in der Ausbildung befand und nur am Wochenende nach Hause kam, wenig Zeit. Die einsamen Abende und halbe Nächte widmete sie ihrem Studium. Lange hatte es gedauert, bis sie sich eingestand, dass es für ihre Ehe keinerlei gemeinsame Basis gab. Sie hatten sich nichts zu geben und nichts zu sagen. Keinerlei Zärtlichkeit herrschte zwischen ihnen. Sex war ein einmal wöchentlich praktiziertes Ritual, das nur die Aufgabe hatte, das offizielle Scheitern der Ehe noch etwas hinauszuschieben. Rena empfand nichts dabei. Es war eine mehr oder weniger lästige gymnastische Übung, der unweigerlich Enttäuschung folgte.
Doch auch da hatte sie es, um der Zwillinge willen, noch einige Zeit ausgehalten. Sie liebte ihre Kinder, ohne deshalb an sie Erwartungen zu stellen. Sie gestand ihnen ein Recht auf Egoismus zu. Solange das Essen jeden Tag auf dem Tisch stand und die Wäsche gewaschen und gebügelt im Schrank lag, machten sich die Jungs keinerlei Gedanken über ihre Eltern. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn sie mit ihrem Mann gestritten hätte. Aber sie hatten sich nicht einmal genügend zu sagen, um zu streiten. Gelegentliche verletzende Bemerkungen, nach denen sich jeder sofort wieder in sein Schneckenhaus zurückzog, waren das Äußerste an Auseinandersetzung. Erst als die Kinder kaum mehr zu Hause waren, zog Rena die Konsequenzen. Verletzend gelassen nahmen es die beiden Söhne auf. Natürlich würden sie beim Vater wohnen bleiben. Dort hatten sie große, bequeme Zimmer. Sie hätten es ganz günstig gefunden, wenn die Mutter sich in der Nähe niedergelassen hätte, damit die Wäsche weiterhin versorgt und vielleicht eine tägliche Mahlzeit gekocht werden würde. Aber ihre diesbezügliche Weigerung akzeptierten sie anstandslos. Natürlich kannten sie die neue Adresse ihrer Mutter und sicher würden sie eines Tages vor der Tür stehen, um sie zu besuchen, wenn es gerade in ihre Freizeitplanung passte. Rena freute sich darauf ohne damit Erwartungen zu verbinden.
Seit sie einen Schlussstrich unter ihr früheres Leben gezogen hatte, fühlte Rena sich erleichtert. Ihr neues Leben würde bestimmt nicht einfach werden, aber es war wenigstens nicht auf Lügen aufgebaut. Sie war mit sich selbst im Reinen. Von der Zärtlichkeit und Liebe, die sie zu geben hatte, profitierte Troop.
Doch nun war Thomas Griesser in Renas Leben getreten. Ein Mann, dessen bloße Anwesenheit ein Kribbeln auf ihrer Haut verursachte und ein warmes Gefühl in ihrem Bauch. Empfindungen, die sie schon lange abgeschrieben hatte. Und er empfand genauso. Rena spürte die Elektrizität zwischen ihnen. Sie würde ihn wiedersehen. Und dieses Wiedersehen würde auf die Dauer Probleme nach sich ziehen. Dennoch waren es im Augenblick noch angenehme Gedanken! Rena hatte keine Lust, über Probleme nachzudenken, die noch gar nicht aktuell waren.
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