Lose Enden, Band 1 - Kapitel 11

 

Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman

Donnerstag, 31. Mai 2007, Vormittag

»Kris, do isch ebbr fir di.«   
In Begleitung eines älteren Herrn betrat Bernd das Kellerlabor. Krister kannte Professor Busch. Der zierliche und immer sehr korrekt in Anzug und Weste gekleidete Herr war Leiter der Sektion NMR-Spektroskopie. Die Kernresonanz-Spektroskopie gehörte zur Naturwissenschaftlichen Fakultät und stand allen Fakultäten gemeinsam zur Verfügung. Etwas überrascht über den Besuch des Kollegen, reichte Krister dem Wissenschaftler die Hand.
»Guten Tag, Herr Kollege. Was führt Sie zu mir? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Mit einer altmodisch höflichen Verbeugung erwiderte Professor Busch Kristers Gruß.
»Es ist mir etwas peinlich«, begann er verlegen, »aber da bei mir eine offizielle Beschwerde eingegangen ist, muss ich mich darum kümmern. Ich bin sicher, die ganze Angelegenheit beruht auf einem Missverständnis. Deshalb komme ich auch persönlich zu Ihnen. Ich möchte damit die Hochachtung zum Ausdruck bringen, die ich Ihnen und der Arbeit Ihres Teams entgegenbringe.«
Nur Arun verbarg seine Neugierde erfolgreich und arbeitete weiter. Irene und Bernd hingegen spitzten angestrengt die Ohren.
»Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass die Spektrometer dem wissenschaftlichen Personal und entsprechend geschulten Studenten vorbehalten sind«, fuhr Professor Busch zögernd fort. Krister nickte.
»Dann wissen Sie sicher nichts von der Übertretung dieser Regel durch die junge Dame, die seit Kurzem als chemisch-technische Assistentin für Sie arbeitet und die, wie mir zu Ohren gekommen ist, das NMR-Spektrometer benutzt. Zugegebenermaßen scheint sie sich damit auszukennen. Einer der organischen Chemiker, Herr Leutze, hat sich sehr lobend über ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet geäußert, aber es gibt nun einmal die Vorschrift, die nichtwissenschaftlichem Personal und Studenten ohne NMR-Schein die Benutzung dieses doch sehr teuren und empfindlichen Gerätes untersagt. Leider hat sich jetzt eine der Doktorandinnen der Organischen Chemie offiziell beschwert. Damit bin ich zum Handeln gezwungen. Ich möchte Sie bitten, Ihre Mitarbeiterin anzuweisen, das Gerät in Zukunft nicht mehr zu benutzen. Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen steht unsere Ausrüstung natürlich jederzeit zur Verfügung!«
Krister hatte erstaunt zugehört. Von Hannas Aktivitäten hatte er keine Ahnung gehabt. Nach ihrer morgendlichen Besprechungsrunde verschwand sie in ihrem Labor. Anscheinend kam sie mit ihrer Arbeit gut voran. Ralf Leutze nahm sein Versprechen, Hanna unter die Arme zu greifen, offensichtlich ernst, da er häufig bei ihr vorbeischaute. Allerdings hegte Krister den Verdacht, dass diesen Besuchen durchaus nicht nur reine Hilfsbereitschaft zugrunde lag.
Nun aber antwortete er Professor Busch: »Das wusste ich nicht.  Ich werde umgehend mit Frau Berkheim sprechen und es wird nicht wieder vorkommen.«
Froh, die heikle Mission erfolgreich hinter sich gebracht zu haben und nach einigen höflichen Erkundigungen über das Fortschreiten der Arbeit, verabschiedete sich Professor Busch.
Irene kicherte: »Der verschluckt sich noch mal an sich selbst! Aber du bist auch nicht schlecht. Hast du wirklich nicht gewusst, dass Hanna das Spektrometer benutzt? Ich hätte nicht gedacht, dass das zur normalen Ausbildung einer CTA gehört!«
 »Natürlich habe ich es nicht gewusst, sonst hätte ich es kaum zugelassen. Zumindest hätte ich mich zuerst vergewissert, ob sie sich damit auskennt. Unser Etat erlaubt kaum die Reparatur eines kaputten NMR-Spektrometers.«
»Wenn d’Hanna Schpektra machd, no ko ses au!«, sagte Bernd entschieden. 
Bernd hielt viel von Hannas Fähigkeiten. Er hatte die junge Kollegin schon bei der Auswertung eines NMR-Spektrums angetroffen und wusste also von ihrem Regelverstoß.
Seit fast vier Wochen gehörte Hanna nun zu dem kleinen Forschungsteam. Schnell hatte sie sich in die Routine der Abteilung eingegliedert und alle hatten inzwischen das Gefühl, sie gehöre schon ewig zu ihnen. Da sich die anderen vier häufig im Keller aufhielten, bekamen sie Hanna während des Vormittags wenig zu Gesicht. Arbeitete Krister in seinem Büro, so empfand er die Geräusche aus dem angrenzenden Labor als angenehm vertraut. Die Beschaffung der notwendigen Gerätschaften und Substanzen hatte einige Zeit in Anspruch genommen, die Hanna genutzt hatte, um sich auf die kommenden Aufgaben vorzubereiten, die sich von ihrer bisherigen Arbeit in der Chemischen Fabrik Grünau sehr unterschieden. Dort hatte sie an der Produktion von Emulgatoren für Backwaren gearbeitet. Über sich selbst erzählte Hanna nicht viel. Die Kollegen wussten inzwischen, dass sie weder Eltern noch Geschwister hatte und vermutlich auch sonst keine Verwandten.
Ein Blick auf die Uhr zeigte Krister, dass es schon halb zwölf war. Wenn er Hanna noch erwischen wollte, bevor sie nach Hause ging, musste er sich beeilen. Beinahe hatte er ein schlechtes Gewissen. Da sie mit ihrer Arbeit gut allein zurechtkam, hatte er sich kaum um Hanna gekümmert. Privat hatten sie seit dem ersten Mittagessen bei Bernd nichts mehr zusammen unternommen. Er nahm sich vor, seinen Kollegen an einem der nächsten Abende eine gemeinsame Unternehmung vorzuschlagen. Es lag ihm viel daran, Hanna in ihre Gemeinschaft mit einzubeziehen.
»Ich gehe kurz nach oben«, sagte er zu den anderen. »In einer halben Stunde bin ich wieder da.«
Als Krister das Labor betrat, saß Hanna am Tisch und schrieb etwas in ein gewöhnliches kariertes Schulheft. Sehr gewissenhaft führte sie ein Laborjournal und übertrug ihre handschriftlichen Eintragungen später in den Computer, wobei sie diese sorgfältig ausarbeitete. Nun blickte sie erstaunt auf. Krister war schon seit einiger Zeit nicht mehr in ihrem Labor gewesen. Die Kontakte mit ihm hatten sich auf die Kaffeestunden am Morgen und manchmal, falls Hanna um diese Zeit noch da war, am Nachmittag beschränkt.
»Ich hatte eben Besuch von Professor Busch, dem Leiter der Kernresonanzspektroskopie«, begann Krister.
Hanna verzog das Gesicht. Natürlich wusste sie sofort, worum es ging.
»Darf ich deine Spektren mal sehen?«
Kommentarlos griff sich Hanna einen Leitz-Ordner vom Regal und legte ihn vor Krister auf den Tisch. Er blätterte die Spektren durch. An ihnen war nichts auszusetzen, sowohl was die Durchführung, also die Geräteparameter, als auch was die Interpretation der Peaks betraf.
»Wo hast du das gelernt?« Krister war beeindruckt.
»In der Grünau hat es mir einer der Chemiker beigebracht und hat mir auch die entsprechenden Bücher geliehen«, antwortete Hanna.
»Willst du damit sagen, die NMR-Spektroskopie gehört inzwischen zur Ausbildung einer CTA?«
Kristers Stimme klang zweifelnd. Die NMR-Spektroskopie ist eine sehr anspruchsvolle Technik. Manche seiner Studienkollegen hatten nie ein ordentliches Spektrum zustande gebracht.
»Nicht offiziell. Das haben wir nach der Arbeit gemacht. Da hat es niemand mitbekommen.«
Eine Weile musterte Krister seine neue Angestellte schweigend. Sie hielt seinem Blick stand. Schließlich sagte er: »Hier hat es leider jemand mitbekommen. Anscheinend wusste Ralf auch davon. Hat er dich nicht darüber aufgeklärt, dass du da nicht ran darfst?«
»Doch, aber er meinte, ich solle mich einfach nicht erwischen lassen.«
»Hast Du eine Idee, wer sich denn über dich beschwert hat? Normalerweise kümmert sich doch niemand darum, wer die Geräte benutzt, solange nichts kaputt geht.«
»Ich kann mir vorstellen, wer das war. Wie sie heißt, weiß ich allerdings nicht. Jedenfalls hat sie keine Ahnung von NMR-Spektroskopie«, antwortete Hanna kurz angebunden.
Krister seufzte: »Und das hast du ihr vermutlich unter die Nase gerieben. Diplomatie ist wohl nicht gerade deine Stärke?«
»So, wie sie das Gerät behandelt, wird niemals ein brauchbares Spektrum herauskommen.« 
»Jedenfalls bitte ich dich, in Zukunft die Finger vom NMR-Spektrometer zu lassen. Wenn du ein Spektrum brauchst, sag es mir oder Arun oder Ralf. Wir haben zu der Kernresonanzspektroskopie ein sehr gutes Verhältnis und es wäre mir recht, wenn das auch so bliebe.« Krister stand auf. »Aber interessieren würde mich schon, wer dich bei Professor Busch verpetzt hat.« 
Er ging in sein Büro und griff zum Telefon.
»Hi, Ralf, hier ist Krister. Ich hatte eben Besuch von Professor Busch.«
»Shit! Ich wollte dich noch vorwarnen! Ich dachte nicht, dass der Alte so schnell ist«, sagte Ralf.
»Wer hat sich denn bei ihm über Hanna beschwert? Weißt du das?«
»Ja, natürlich! Und wenn ich ehrlich bin, ist es sogar meine Schuld. Kennst du Carola Fredberg, eine unserer Doktorandinnen? Die Frau hat von Chemie im Allgemeinen und von der NMR-Spektroskopie im Besonderen keinen blassen Schimmer. Wie die ihr Diplom geschafft hat, das ist mir schleierhaft. Wenn sie wenigstens gut aussehen würde, hätt' ich da ja so meine Vermutungen, aber diese Möglichkeit fällt bei ihr auch flach. Deine Hanna hat, nachdem sie sich eine Weile angesehen hat, wie diese Frau das Gerät misshandelte, versucht, ihr ein paar nützliche Tipps zu gegeben. Dummerweise hab ich mir dann die Bemerkung nicht verkneifen können, dass an unserer Uni anscheinend die CTAs intelligenter sind als manche Diplom-Chemiker. Das hat Carola mir dann doch etwas übelgenommen, das Resultat war ihre Beschwerde. Tut mir leid, wenn du deshalb Ärger hattest. Wenn ihr Spektren braucht, soll Hanna zu mir kommen. Ich mach' sie dann für euch.«
»Danke, darauf werden wir vielleicht zurückkommen. Tschüss einstweilen!«
Krister legte auf. Im Nebenraum baute Hanna eine Destillationsapparatur auf.
»Ralf Leutze hat angeboten, in Zukunft für dich Spektren zu machen. Anscheinend hat er ein schlechtes Gewissen. Es wäre mir recht, wenn du dieses Angebot in Anspruch nehmen würdest«, bat Krister.
»Meine Spektren sind aber besser. Ralf versteht nicht übermäßig viel von NMR-Spektroskopie«, entgegnete Hanna unbescheiden.
Krister seufzte: »Dann komm das nächste Mal zu mir. Hoffentlich werde ich deinen Ansprüchen gerecht.«
Gekonnt wechselte Hanna das Thema: »Die nächste Reaktionsstufe muss 16 Stunden lang bei 210 Grad gehalten werden. Ich nehme an, das kann ich nicht einfach hier aufbauen?«
»Bestimmt nicht! Seit dem Brand vor acht Jahren sind in dieser Beziehung alle etwas nervös. Du musst die Apparatur im Autoklavenraum aufbauen. Sag mir, wenn du so weit bist. Ich zeig' ihn dir dann.«
 

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