Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Tom hatte seine Suite relativ schnell nach ihrer Ankunft wieder verlassen und ausgetestet, welche Freiheiten ihnen nun gewährt wurden. Er konnte sich im gesamten Hotelbereich ungehindert bewegen, aber alle Aus- und Eingänge waren schwer bewacht. Bei einem probeweisen Versuch, durch eine solche Tür zu gehen, waren sofort Waffen auf ihn gerichtet worden und man forderte ihn unmissverständlich auf, unverzüglich umzukehren.
Schon lange vor 18 Uhr waren alle im Speisesaal versammelt. Inzwischen war die allgemeine Fassungslosigkeit einem Gemisch aus Wut und Erleichterung gewichen. Ja, sie waren hereingelegt worden. Aber nun befanden sie sich zweifelsfrei wieder auf der Erde, ihrem vertrauten Heimatplaneten, der nicht zerstört worden war.
Als eine kleine Personengruppe in den Raum kam, blieb dies anfangs unbemerkt. Zu aufgeregt redeten die Menschen durcheinander. Erst als die Fremden das Podium im Speisesaal betraten, erstarb der Lärm.
»Das ist Andreaz Vukinokz!«, flüsterte Greg Franka zu und deutete auf einen kleinen, zierlichen Mann in den Siebzigern, der neben Professor Davidson stand. Außer diesen beiden gab es noch fünf weitere Männer und zwei Frauen. Davidson ergriff das Wort:
»Ich habe mir lange überlegt, wie ich Sie ansprechen soll. Raumfahrer? Reisende? Gäste? Crewmitglieder der Conquest? Alle Bezeichnungen müssen in Ihren Ohren wie Hohn klingen. Deshalb: Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder. Mich kennen Sie inzwischen. Nun möchte ich Ihnen die Personen vorstellen, die hier mit mir auf der Bühne stehen, mich bei meiner Aufgabe unterstützt haben und dies auch weiter tun werden. Ladies first: Hier neben mir sehen Sie Anja Klingler, Professorin für Raumfahrttechnik, die Dame daneben ist Sonja Speranski, Professorin für Physik mit dem Spezialgebiet Gravitation. Der Herr auf meiner rechten Seite ist manchen von Ihnen bereits bekannt: Andreaz Vukinokz hat sich einen hervorragenden Ruf als Programmierer erworben, rechts neben ihm steht Professor Edvard Karlson, ein Experte für Soziologie und Verhaltensforschung.«
Bei der Nennung dieses Spezialgebiets ging ein Raunen durch die Menge. Das Wort »Verhaltensforschung« hatte jeden Erwachsenen im Raum sofort daran erinnert, dass und in welcher Weise sie die letzten fünf Jahre beobachtet worden waren.
»Die Herren neben Frau Speranski sind Aang Sun, Wirtschaftswissenschaftler, Ngatsetungue Maova, einer der führenden Raketenabwehrspezialisten, und die beiden Vorstände des World Science Secret Service Pierre Langot und Tarik Prasad.
Wir alle, die wir hier auf der Bühne stehen, sind als verantwortliche Mitglieder von World Science in irgendeiner Weise an Ihrem Schicksal beteiligt.
Sie fühlen sich angelogen, Sie fühlen sich betrogen, Sie fühlen sich manipuliert. Das ist aus Ihrer Betrachtungsperspektive verständlich. Doch nun werde ich Ihnen die Hintergründe erläutern und Sie werden erkennen, an welch großartigem Projekt Sie beteiligt sein durften.«
Unruhe breitete sich im Publikum aus. Einzelne waren aufgestanden. Bevor die Lage eskalieren konnte, fuhr Davidson fort:
»Sicher erinnern Sie sich an die Geschichte, die Ihnen Captain Hunter erzählt hat, nachdem er mit Ihnen zusammen die verstörenden Bilder vom Untergang der Erde betrachtete. Diese Geschichte ist zu fünfundneunzig Prozent wahr.«
Wieder ging ein Raunen durch die Menge.
»Auch wenn es Ihnen heute schwerfällt, das zu glauben: Begonnen hat alles mit der Nachricht eines Astrophysikers aus Sidney, der einen Meteoriten entdeckt hatte. Dieser befand sich allen Berechnungen nach auf Kollisionskurs mit der Erde. Alles, was Ihnen Captain Hunter zu Beginn Ihrer Odyssee erzählt hat, entsprach also eigentlich der Wahrheit. Nur: Die Entdeckung dieses Meteoriten liegt schon zweiundzwanzig Jahre zurück! Die einzige Chance, die Menschheit zu retten, sah man damals darin, den Meteoriten dazu zu bringen, seine Bahn zu ändern. Nur der Bruchteil eines Grades seiner Flugrichtung würde dafür genügen, vorausgesetzt, diese Korrektur würde weit genug von der Erde entfernt vorgenommen werden. Den Berechnungen zufolge könnte eine gigantische Nuklearexplosion die Bahn des Materieklumpens eventuell so beeinflussen, dass er die Erde im Abstand von ungefähr 50 Millionen Kilometern passieren würde. Glücklicherweise befanden sich sowohl Venus als auch Mars zum Zeitpunkt dieser Passage des Meteoriten auf ihrer Bahn um die Sonne deutlich weiter entfernt, so dass eine Kollision mit diesen Planeten durch die herbeigeführte Ablenkung nicht zu befürchten war. Kurzum: Die Aktion war erfolgreich. Der Meteorit passierte die Erde vor zwölf Jahren und drei Monaten im Abstand von 51,86 Millionen Kilometern. Über dieses Ereignis wurde in den Medien berichtet, vielleicht erinnern Sie sich daran. Aus den Medien heraushalten konnten wir allerdings, dass sich der Meteorit ursprünglich auf Kollisionskurs mit der Erde befunden hatte.
Ein solches Vorkommnis könnte jederzeit erneut auftreten. Oder eine andere Katastrophe, die die Erde zerstören oder unbewohnbar machen würde. Leider gibt es auch heute noch kleine, unabhängige Staaten, die mit Nuklearwaffen herumspielen.
Damals also wurde ein neuer Plan geboren. Wir bereiteten uns ganz gezielt darauf vor, einer kleinen, ausgewählten Gruppe von Menschen das Überleben im All zu ermöglichen. Dies sollte ein rein wissenschaftliches Projekt werden. Die Einmischung der Politik und der Öffentlichkeit musste auf jeden Fall verhindert werden. Eine Überlebenschance bestünde für die Spezies Mensch nur, wenn die Auswahl der Personen an Bord nach rein wissenschaftlichen Kriterien erfolgen würde. Viele Jahre lang habe ich zusammen mit Professor Karlson und einem weltweiten Team daran gearbeitet, diese Parameter auf der Grundlage meiner bisherigen Forschung festzulegen. Während dieser Zeit widmete sich Frau Professor Klingler der technischen Seite, Frau Professor Speranski der physikalisch-astronomischen Entwicklung, und nicht zuletzt musste die Finanzierung des Vorhabens geklärt werden. Der Freizeitpark Futura 3000 hatte von Anfang an einzig die Aufgabe, dieses ehrgeizige Ziel zu ermöglichen. Was, wie ich unbescheiden zugeben muss, ausgezeichnet gelungen ist. Zudem garantierte der Erlebnispark die nötige Abgeschiedenheit und den erforderlichen Platz, an dem, geheim gehalten vor allen Regierungen der Welt, eine Rakete gebaut werden konnte.
Vor acht Jahren waren dann alle Vorbereitungen abgeschlossen. Es fehlte nur noch eines: ein Test. Ein Test, der zeigen würde, ob die Auswahl der Personen nach den richtigen Kriterien erfolgt war. Wie bei allen Projekten ist der Mensch der größte Unsicherheitsfaktor. Jedes technische, jedes wissenschaftliche Problem kann gelöst werden. Aber das menschliche Individuum ist unberechenbar. Man kann seine Reaktionen mit relativ hoher Genauigkeit voraussagen, aber ein kleiner Rest Ungewissheit bleibt. Um auch dieses Restrisiko zu minimieren, musste wenigstens ein Versuch unter realen Bedingungen durchgeführt werden. Die Ergebnisse dieses Tests würden die Überlebenschancen im Ernstfall entscheidend verbessern.«
Immer noch war im ganzen Raum kein Laut zu hören. Auch Professor Davidson hielt kurz inne. Er hatte seine Zuhörer wie stets in Bann gezogen, davon war er überzeugt. Selbst die Kinder gaben nicht einen einzigen Mucks von sich, obwohl sie kein Wort verstanden: Die Starre, die sich über die Gruppe gelegt hatte, umschloss auch sie.
Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, fuhr Professor Davidson fort: »Wir haben die weltweite Umfrage mit einer Gewinnchance verbunden: ein vierzehntägiger Aufenthalt in Futura 3000. Natürlich hatte der Test den einzigen Zweck, aus den Teilnehmern eine Gruppe von Menschen herauszufiltern, die eine reale Chance auf ein Überleben im All hatte. Aus den zweihundert an sich geeigneten Personen mussten wir sodann die Endgruppe von vierzig Gästen auswählen. Zusammen mit den zweiundvierzig Besatzungsmitgliedern, die natürlich ebenso wenig über den eigentlichen Zweck des Unternehmens unterrichtet sein durften, ergab sich die perfekte Anzahl von zweiundachtzig Personen. Stets war für uns die ideale Verteilung der Begabungen, Berufe, Eigenschaften und Fähigkeiten das höchste Ziel. Tja, und das Ergebnis dieses Verfahrens waren Sie alle. Jeder Einzelne von Ihnen kann also sehr stolz darauf sein, zu dieser Elite zu gehören. Sie alle haben Fähigkeiten und Eigenschaften, die es Ihnen ermöglicht haben, diese lange Zeit unbeschadet zu überstehen.«
Die Ungeheuerlichkeit dieses Lobes löste die Starre der Zuhörer. Laute Rufe übertönten das rasch anschwellende Stimmengewirr:
»Unbeschadet! Sehen wir unbeschadet aus?«
»Super! Ich bin sicher, meine auf der Erde allein und in Ungewissheit zurückgelassene Familie ist unglaublich stolz auf mich!«
»Das ist eine nicht zu überbietende Unverschämtheit!«
Professor Davidson wartete, bis sich die Menge ein wenig beruhigt hatte, bevor er fortfuhr: »Ich verstehen Ihren Zorn durchaus. Aber lassen Sie mich bitte weiterreden. Natürlich kam es zu Zwischenfällen. Natürlich ergaben sich unter dem unglaublichen Stress Situationen, die Ihre Gemeinschaft vor Schwierigkeiten stellte und die auch bestimmt nicht klein geredet werden sollen. Genau aus diesem Grund haben wir uns ja zu diesem Test entschlossen.«
Er holte tief Luft, um sich in dem nicht mehr aufzuhaltenden Tumult Gehör zu verschaffen.
»Nein, trotz allem, was in Ihren Augen schiefgelaufen ist: unsere Absicht, unser Plan war richtig! Er bietet die einzige Möglichkeit für die Spezies Mensch, im Katastrophenfall zu überleben. Die Erkenntnisse, die wir aus der Auswertung des Tests ziehen können, wird diesem Überleben eine noch weit größere Chance geben.«
Seine letzten Worte waren vollständig im Lärm untergegangen.
Alle waren aufgesprungen, auch die, die vor Empörung und Entsetzen kein Wort herausbrachten.
Professor Davidson versuchte mehrmals, sich Gehör zu verschaffen. Währenddessen hatte eine Gruppe bewaffneter Männer, von den meisten unbemerkt, den Saal betreten und rings um die Menge Aufstellung genommen. Schließlich gab Davidson einem von ihnen ein Zeichen. Ein Schuss fiel. Auf einen Schlag herrschte Stille.
»Es enttäuscht mich, wie egoistisch und nur aus Ihrer Perspektive Sie die Angelegenheit betrachten. Ich hatte gehofft, Sie würden das übergeordnete Ziel sehen und es honorieren. Nun gut! Ich werde auf ein paar Ihrer Äußerungen eingehen. Was haben wir Ihren Familien erzählt? Für Ihre Angehörigen sind Sie vor fünfeinhalb Jahren bei einem bedauernswerten Unfall während Ihrer Erlebnisreise in Futura 3000 ums Leben gekommen. Ihre Hinterbliebenen haben zuverlässig die Entschädigungssumme bekommen, die vertraglich für einen solchen natürlich als ›unwahrscheinlich‹ bezeichneten Fall vereinbart war. Wie Sie sicherlich einsehen werden, ist es deswegen unmöglich, Sie nun einfach wieder von den Toten auferstehen zu lassen. Das wäre nämlich ziemlich schwer zu erklären. Deshalb können wir Ihnen leider nicht erlauben, Kontakt zu Ihren Familien aufzunehmen.«
»Wollt ihr uns für den Rest unseres Lebens einsperren?«
»Wir werden Sie natürlich nicht einsperren! Zumindest nicht, wenn Sie vernünftig sind. Aber jeder von Ihnen wird einen Vertrag unterschreiben, in dem er sich freiwillig dazu verpflichtet, keinen Kontakt mit seinen Angehörigen und früheren Freunden aufzunehmen und absolutes Stillschweigen über die Ereignisse der letzten Jahre zu wahren.«
»Das werden wir ganz sicher nicht tun!«
»Sie werden das deshalb tun, weil Sie keine andere Wahl haben. Mit der Unterschrift unter den Vertrag erhält jede erwachsene Person fünf Millionen US-Dollar. Betrachten Sie das als Entschädigung. Kein Gericht der Welt wird Ihnen mehr zugestehen, vorausgesetzt, Sie würden diesen Prozess überhaupt gewinnen. Vielleicht erinnern Sie sich: Bei Ihrer Ankunft vor fünf Jahren haben Sie eine Einverständniserklärung zu Ihrem Aufenthalt in Futura 3000 unterschrieben. Diese Einverständniserklärung war entsprechend formuliert. Eine freiwillige Teilnahme an dem Test kann sehr schlüssig daraus abgelesen werden. Das nur als Zwischenbemerkung.
Sie dürfen Ihren zukünftigen Aufenthaltsort frei wählen, solange er sich auf einem anderen Kontinent befindet als Ihr früherer Wohnort. Auch werden Sie überwacht werden, ebenso Ihre frühere Familie. Sobald Sie gegen den Vertrag verstoßen, werden wir Sie aus dem Verkehr ziehen. Die Konsequenzen für Ihre Familie muss ich hoffentlich nicht näher erläutern. Sie können also nun wählen zwischen einem unbeschwerten, finanziell abgesicherten Leben zusammen mit Ihrer neuen Familie oder einem Verbleib in einem der Gefangenenlager, die von den amerikanischen, russischen und chinesischen Geheimdiensten unterhalten werden. Für jeden von Ihnen liegt ein Dossier bereit, das die terroristische Aktivität dieser Person den zuständigen Behörden beweist. Was dann mit Ihrem Nachwuchs geschieht, das können Sie sich ebenfalls ausmalen. Es gibt auf der ganzen Welt eine große Anzahl Menschen, die sich für die Adoption eines Kindes haben vormerken lassen. Ich bin mir sicher, Sie verstehen die Tragweite Ihrer nun erforderlichen Entscheidung.«
Wieder brach Tumult aus, Aufschreie der Panik und des Entsetzens gellten. Professor Davidson zeigte sich von all dem unbeeindruckt.
»Sie haben nun bis morgen Abend Zeit, sich zu entscheiden. Genießen Sie bis dahin den Luxus des Hotels. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!«
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