Mona Kim Bücher Schaltjahr Roman
Der ungewohnte Klang der Hausklingel weckte Rena aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Gleich darauf erscholl dicht neben ihrem rechten Ohr helles Babyhundebellen. Von Rena unbemerkt war der kleine Leonberger irgendwann in der Nacht die Treppe heraufgeklettert und hatte sich neben dem tröstenden warmen Körper auf der Matratze zusammengerollt. Befriedigt, nicht mehr alleine zu sein, hatte er brav die ganze Nacht durchgeschlafen. Rena war sich nicht sicher, ob sie den Welpen in ihrem Schlafzimmer haben wollte. Später würde es ihm sicher schwer wieder abzugewöhnen sein.
Aber jetzt musste sie sich um den hartnäckigen Klingler kümmern. Schnell schlüpfte sie in ihren Bademantel und lief die Treppe hinunter, wobei ihr der Hund tapsig folgte und vor lauter Aufregung die letzten fünf Stufen hinunterpurzelte. Vom Küchenfenster aus konnte man gut sehen, wer vor der Tür stand, doch als sie das Fenster öffnete, hatte der Angestellte der Telekom gerade kehrtgemacht zu seinem Lieferwagen, der hinter Renas Peugeot geparkt war. Auf ihren Ruf hin, kam er jedoch sofort zurück und Rena ließ den Techniker herein. Das passte dem Hund überhaupt nicht. Er ließ ein Knurren hören, das bedrohlich geklungen hätte, wenn er einen Meter größer gewesen wäre. Bei dem kleinen Knirps aber klang es so lustig, dass die beiden Menschen lachen mussten.
Der Telekom-Mitarbeiter ging vor dem Hund in die Hocke und versicherte ihm: »Ich komme in einem halben Jahr wieder, dann probierst du es noch einmal. Dann werde ich Angst vor dir haben, das verspreche ich dir!« Er strich mit der Hand über das weiche Fell. »Du erinnerst mich an eine Geschichte in einem Bilderbuch, die ich als Kind geliebt habe. Darin gab es genau so einen kleinen Hund wie dich. Er hieß Troop.«
Troop! Der Name gefiel Rena und er passte gut sowohl zu dem jungen Tier als auch zu dem großen Hund, der er einmal werden würde. Sie würde ihn Troop nennen. Freudig mit dem Schwänzchen wedelnd, schleckte der soeben Getaufte seinem Namensgeber die Hand ab. Wirksamen Schutz konnte Rena von ihm noch nicht erwarten.
Während ihre Telefonanlage installiert wurde, die ihr auch den für ihre berufliche Tätigkeit so dringend notwendigen Internetzugang ermöglichen würde, gab Rena Troop sein Frühstück und schaltete ihre Kaffeemaschine ein. Es dauerte keine zehn Minuten und Rena durfte das Installationsprotokoll unterschreiben. Telefonieren könne sie frühestens am nächsten Tag, erklärte ihr der Techniker. Der Akku des schnurlosen Telefons müsse sich erst aufladen.
Nachdem der Mann fortgegangen war, zog sich Rena Jeans und ein T Shirt über und ging mit Troop nach draußen. Eine kleine Pfütze im Flur hatte sie aufwischen müssen. Bis heute Morgen hatte es der Kleine nicht ausgehalten. Aber, Rena konnte sich nicht beklagen. Eigentlich hatte sie erwartet, Troop würde sie mehr oder weniger die ganze Nacht wachhalten, getrieben von Heimweh nach seiner Mama und seinen Geschwistern. Eine Pfütze aufzuwischen war ein geringer Preis für eine ungestörte Nachtruhe.
Der Spaziergang in der Morgensonne gestaltete sich deutlich weniger nervenaufreibend als am Abend zuvor in der Dunkelheit. Aufgeregt beschnüffelte der Hund alles und versuchte sogar an der Leine zu ziehen, wenn Rena eine andere als die von den verführerischen Gerüchen diktierte Richtung einschlug. Aus der Morgenrunde wurde schon eine ganz ordentliche Wanderung. Sie waren ein ganzes Stück von den Häusern weg auf die angrenzenden Wiesen und Felder gelangt, bevor leichte Ermüdungserscheinungen des jungen Tieres Rena umkehren ließen.
Ungestört von dem erschöpft schlafenden Troop, widmete sich Rena ihrer Arbeit und kam ein bedeutendes Stück voran. Ein knurrender Magen signalisierte ihr die Mittagszeit. Rena kochte ein paar Spaghetti ab und bereitete eine einfache Tomatensoße. Anschließend wollte sie sich, gesättigt und zufrieden, gerade zu einem kurzen Mittagsschlaf nach oben zurückziehen, als die Türklingel ertönte. Durchs Küchenfenster sah sie Mona vor der Haustüre stehen. Sie seufzte. Zwar hatte sie dem Mädchen angeboten, sie könne Troop jederzeit besuchen, aber es hätte nicht gerade zur Mittagszeit sein müssen. Dennoch öffnete sie. Es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig, da der Hund aufgewacht war und Monas Anwesenheit, seinem begeisterten Kläffen und Schwanzwedeln nach, durch die Tür riechen konnte.
Das Mädchen begrüßte Troop auch sehr herzlich, doch der Grund ihres Besuches war nicht, oder zumindest nicht nur, das Bedürfnis, ihn wiederzusehen, sondern eine Einladung ihrer Mutter an Rena: »Ich soll Ihnen von meiner Mutter liebe Grüße bestellen. Sie möchte Sie für den Samstag in einer Woche um acht Uhr zu einer kleinen Party einladen und bittet Sie, ihr bis Freitag Bescheid zu geben, ob Sie kommen.«
Rena war überrascht. Die Gastfreundschaft der Menschen hier stellte die ihrer bisherigen Bekannten bei Weitem in den Schatten. Noch etwas unschlüssig, erwiderte sie: »Vielen Dank für die Einladung. Ich werde deine Mutter rechtzeitig anrufen.«
Nachdem die Nachricht weisungsgemäß überbracht worden war, konnte sich Mona auf Troop konzentrieren. Der Name fand ihre Zustimmung.
»Darf ich einen Spaziergang mit ihm machen?«, bat das Mädchen.
»Gerne, aber lass ihn nicht von der Leine. Er ist noch so schreckhaft. Bei der kleinsten Kleinigkeit will er Hals über Kopf davonlaufen und nicht unbedingt immer in die richtige Richtung. Außerdem achtet er überhaupt nicht auf Autos.«
Nachdem Mona versichert hatte, gut auf Troop aufzupassen, befestigte sie die Leine an Troops Halsband und die beiden verschwanden. Rena hoffte auf einen mindestens eine halbe Stunde dauernden Spaziergang. Diese Zeit konnte sie zu einem Schläfchen nutzen. Ihre Hoffnung wurde erfüllt. Mehr als eine Stunde verging, bevor Mona und der Hund wieder auftauchten. Rena hatte wunderbar geschlafen und konnte sich unverzüglich wieder an ihre Arbeit machen, da sich Troop zufrieden unter ihrem Schreibtisch zusammenrollte. Nach einigen Stunden intensiver Arbeit, die nur durch eine kleine Kaffeepause auf der sonnigen Terrasse unterbrochen wurde, signalisierten Rena ein schmerzender Rücken und brennende Augen die Notwendigkeit von Bewegung an der frischen Luft. Troop war vom Spaziergang mit Mona noch müde und zeigte wenig Bereitschaft, seinen gemütlichen Platz aufzugeben. Deshalb beschloss Rena, eine halbe Stunde zu laufen. Schnell schlüpfte sie in ihre Sportkleidung und schloss hinter sich die Tür ab.
Lange begegnete Rena keinem einzigen anderen Menschen. In dieser Gegend schien der Laufsport noch nicht den Stellenwert in der Freizeitgestaltung der Bürger erreicht zu haben, der ihm in der Stadt zukam. Dort war Rena, egal welche der vielen möglichen Strecken sie gewählt hatte und zu welcher Tageszeit sie unterwegs gewesen war, immer anderen Joggern begegnet.
Doch hier draußen waren weit und breit weder Jogger noch Spaziergänger zu sehen und Rena genoss die Einsamkeit. Der weiche Waldboden unter ihren Füßen federte bei jedem Schritt. Die an lichten Stellen schräg durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen ließen die verschiedenen Farben der Waldvegetation aufleuchten und zeichneten komplizierte Muster aus Licht und Schatten. Nur die Geräusche der kleinen Waldtiere und Vögel, aufgeschreckt durch Renas Eindringen in ihr Reich, durchbrachen die Stille.
Erst als sie ihre Runde durch einen kleinen Umweg erweiterte, der noch etwas weiter in den Wald hinein und dann, nach einem größeren Bogen, wieder auf den Hauptweg zurückführte, sah Rena an einer langen Geraden einen einsamen Spaziergänger vor sich. Er ging so zügig in die gleiche Richtung, in die auch sie lief, dass es erstaunlich lange dauerte, bis sie ihn eingeholt hatte und an ihm vorbei war. Ein kurzer Seitenblick und ein freundliches »Guten Tag« von beiden Seiten und schon war Rena ein ganzes Stück weiter. Doch der kurze Blick hatte genügt. Rena war sich ziemlich sicher: Bei dem großen, schlanken Mann handelte es sich um Monas Vater, Herrn Dr. Griesser. Das schmale Gesicht, das dichte, dunkle Haar, bei ihm an manchen Stellen von grauen Strähnen durchzogen, und die freundlichen, blauen Augen brachten sie zu dieser Überzeugung. Nun, am Samstag in einer Woche würde sie es wissen, da sie sich soeben entschlossen hatte, Frau Griessers Einladung anzunehmen.
Als Rena erschöpft zu Hause ankam, war der kleine Leonberger sichtlich beleidigt, so lange alleine gelassen worden zu sein. Eine Weile jammerte er herzerweichend vor sich hin, bis er sich von Renas Streicheln und zärtlichen Worten wieder besänftigen ließ. Sie setzte sich mit ihm in den Garten, wo er ohne Anstrengung ein bisschen im Gras herumtollen und Schmetterlinge jagen konnte.
Entspannt genoss Rena die Nachmittagssonne. So hatte sie sich ihr Leben vorgestellt: eine befriedigende Arbeit, keine Verpflichtungen und als Gefährten nur einen Hund. Irgendwann würde sie die noch fehlenden Möbel ergänzen müssen. Aber das hatte Zeit. Niemand drängte sie. Es war eine ideale Beschäftigung für einen Regentag.
Erst als es kühl wurde auf der Terrasse, rief sie Troop, der nach mehrmaliger Aufforderung folgte.
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