Schaltjahr - Kapitel 3

 

Mona Kim Bücher Schaltjahr Roman

Am nächsten Morgen wurde Rena von einem Sonnenstrahl geweckt, der ihr durch das Giebelfenster direkt in die Augen fiel. Um dem gleißenden Licht zu entkommen, rückte sie auf ihrer Matratze ein klein wenig zur Seite und räkelte sich wohlig. Der Blick auf den Wecker zeigte ihr zehn Minuten nach acht Uhr. Es gab keinen Grund, aufzustehen. Weder musste Rena Frühstück richten, noch verlegte Kleidungsstücke herbeizaubern oder gar in letzter Minute vergessene Mathematikaufgaben lösen. Niemand erwartete etwas von ihr.

Träge döste Rena noch ein wenig vor sich hin. Ihre Gedanken schweiften zu den Personen, die sie gestern kennengelernt hatte. Die Kreutzers waren nett, zumindest Marlies und Alfred. Bei den Griessers schien es sich um eine dieser Familien zu handeln, die es eigentlich nur in Werbespots gibt: schön, reich, intelligent und dazu auch noch reizend. Das war fast zu schön, um wahr zu sein. Intakten Familien gegenüber wurde Rena automatisch misstrauisch. Außerdem hatte sie im Augenblick sowieso keine Lust auf Familien.
Ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken fiel Rena nicht schwer. Denn heute hatte sie etwas ganz Besonderes vor und erfüllte sich damit einen lange gehegten Wunsch: Sie würde einen Hund kaufen und Rena wusste auch schon, wo. Die Annonce hatte gestern in der Zeitung gestanden:
 
Leonberger Welpen, 8 Wochen, zu verkaufen! 

Eine Telefonnummer war angegeben und auch ein Name: Riedlinger. Noch bevor Rena geduscht oder gefrühstückt hatte, drückte sie auf ihrem Handy – auf ihren Festnetzanschluss musste sie noch etwas warten – die angegebenen Ziffern. Sofort meldete sich am anderen Ende eine Frauenstimme. Ja, es seien noch drei Welpen übrig. Nein, gleich könne Rena nicht kommen, da Frau Riedlinger jetzt einen Termin habe, aber um elf würde es passen. Rena schrieb die Adresse auf. Bis um elf war noch reichlich Zeit, deshalb wühlte Rena ihre Laufkleidung aus einer der gestapelten Kisten hervor und schlüpfte hinein. Die gestern bei ihrem Spaziergang erkundete Runde hatte sich als ideale Laufstrecke erwiesen. Alles war enthalten: leichte Steigungen, lange ebene Strecken, Waldboden, Kieswege und geteerte Strecken. Insgesamt schätzte Rena die Entfernung auf sechs Kilometer, was für ihr tägliches Pensum gerade richtig war. Wenn sie Lust auf mehr hatte, konnte sie an verschiedenen Stellen noch Umwege laufen.
Aber für heute genügten Rena die sechs Kilometer. Sie lief schnell und gleichmäßig. Nach einer knappen halben Stunde war sie, nassgeschwitzt und ausgepumpt, wieder zu Hause. Mit einem Glas Orangensaft in der Hand zog Rena sich den Klappstuhl in die Ecke der Terrasse, die schon um diese frühe Stunde von der Sonne erwärmt wurde. Sie drehte ihr Gesicht den Strahlen entgegen und schloss zufrieden die Augen. So war das Leben auszuhalten! Doch zehn Minuten später verschwand die Sonne hinter einer kleinen, weißen Wolke und Rena fing an zu frösteln. Unter der Dusche wurde ihr jedoch schnell wieder warm und es kostete sie nur wenig Überwindung, die Mischbatterie die letzte Minute auf kalt zu stellen.

Die angegebene Adresse war leicht zu finden. Schon an der Hauptstraße zeigte ein handgemaltes Schild mit den Worten

Leonberger-Zucht
R. Riedlinger


in die entsprechende Richtung. Der Weg führte direkt auf den Hof eines landwirtschaftlichen Betriebes. Rena parkte ihren Peugeot neben einem etwas ramponierten Mercedes. Ihre Ankunft wurde von einem riesigen Leonberger-Rüden, bei dem es sich vermutlich um den Vater der Welpen handelte, mit einem dumpfen Bellen kommentiert, wobei das gleichzeitige Schwanzwedeln eher Aufregung als Bedrohung signalisierte. Immerhin zeigte das Bellen Wirkung: Aus dem Stallgebäude trat eine bäuerlich gekleidete Frau und kam, sich die Hände an ihrer Schürze abwischend, auf Rena zu.
»Sie sind sicher Frau Walter?«
Auf Renas Nicken hin streckte sie ihr die Hand entgegen und fuhr fort: »Riedlinger, guten Tag! Sie sind pünktlich, das freut mich. Ich muss nämlich in einer halben Stunde schon wieder weg. Kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen die Kleinen. Seien Sie vorsichtig, die Mutter ist noch etwas aggressiv. Fassen Sie die Welpen nicht an. Wenn Sie eines der Tierchen genauer ansehen möchten, dann sagen Sie es mir. Ich hole es dann heraus und wir nehmen es mit nach draußen. Und möglichst keine schnellen Bewegungen oder Lärm. Sonst fühlt sich unsere Anka bedroht.«
Während dieser Einführungsrede war Frau Riedlinger schon über den Hof geeilt, mit Rena im Schlepptau, die dem davoneilenden Rücken versprach, sich vorbildlich zu benehmen. Sie betraten ein Nebengebäude des Stalles. In einer Ecke lag, auf dichtem Stroh und darübergebreiteten Decken, Anka mit ihrem Nachwuchs. Misstrauisch schaute ihnen die Hündin entgegen. Die Welpen schliefen und bildeten neben dem wärmenden Leib der Mutter ein dichtes Knäuel. Es war kaum auszumachen, welches Pfötchen und welcher Schwanz zu welchem Tier gehörte. Der Rüde war ihnen gefolgt und stieß die Kleinen mit der Schnauze an, als wolle er sagen: »He, ihr Faulpelze, aufwachen! Es ist Besuch da!«
Anka gab ein dumpfes Grollen von sich. Beruhigend redete Frau Riedlinger auf die Hündin ein und das Grollen verstummte. Durch die Berührung ihres Papas wachten die Welpen auf und machten sich nach einem herzhaften Gähnen, das scharfe Zähnchen und feuchte rosarote Zungen sehen ließ, sofort auf die Suche nach den Zitzen der Mutter. Heftig mit den für ihre Körpergröße schon erstaunlich dicken Pfötchen pumpend, hingen sie an ihrem Bauch.
Hingerissen beobachtete Rena das Schauspiel. Alle drei Welpen waren wie Mutter und Vater von einem schönen, glänzenden Mittelbraun.
 »Dieses hier gefällt mir am besten.« Rena deutete auf eines der kleinen Tiere, dessen Fell eine Nuance dunkler war als das der anderen. »Hoffentlich ist es ein Rüde. Ich möchte nämlich unbedingt einen Rüden haben.«
»Ein Rüde ist es schon, aber gerade dieser Kleine hat einen Nachteil: Er ist nämlich der zuletzt Geborene aus diesem Wurf und da es sieben Welpen waren, wir aber nur sechs Stammbäume pro Wurf vergeben, bekommt ausgerechnet dieser keinen Stammbaum. Allerdings ist er dafür natürlich auch billiger. Aber sie können ihn jedenfalls nicht zur Zucht einsetzen.«
Rena lachte: »Das habe ich auch bestimmt nicht vor! Ich möchte einen Hund zur Gesellschaft, der mich morgens beim Laufen begleitet und mit dem ich spazieren gehen kann, das ist alles.«
Frau Riedlinger nahm das putzige kleine Knäuel am Nackenfell hoch, was die Mutter wieder mit einem unterdrückten Grollen kommentierte. Aufmerksam verfolgte die Hündin jede Bewegung mit den Augen. Die Bäuerin setzte das Tierchen vor Rena ins Stroh, worauf sich vor Aufregung unter den Hinterbeinchen eine Pfütze bildete. Sanft fuhr Rena mit der Hand über das weiche Fell. Der kleine Hund begann sofort ihre Hand abzulecken.
»Den möchte ich haben! Kann er denn schon selbst fressen?«
»Ja, natürlich. Das kann er schon eine ganze Weile. Sie saugen nur noch, weil die Mutter sie lässt und weil es ihnen Spaß macht. Wollen Sie ihn gleich mitnehmen?«
»Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich zuerst die nötige Ausstattung einkaufen. Ich kann den Kleinen ja schlecht mit in den Laden nehmen, und alleine zu Hause möchte ich ihn auch nicht gleich lassen. Könnte ich vielleicht heute Nachmittag wiederkommen und ihn abholen? Was kostet er denn, wenn er keinen Stammbaum hat?«
»Zweihundert Euro. Geimpft ist er auch schon. Ich zeige Ihnen, womit wir die Welpen füttern. Wenn Sie einkaufen, achten Sie auf jeden Fall auf Welpenfutter. Das ist wie bei Babys, sie vertragen auch noch nicht alles.«
Von dem genannten Preis war Rena angenehm überrascht. Für einen Hund mit Stammbaum hätte sie bis zu dreitausend Euro bezahlen müssen. Ein Termin am Nachmittag zur Übergabe von Hund und Geld wurde vereinbart und Rena verabschiedete sich. Euphorisch vor sich hin trällernd, fuhr sie gleich anschließend zu einer Tierhandlung und erstand alles, was sie für den Anfang für nötig hielt, einschließlich eines Buches über die artgerechte Haltung von Hunden.
In aufgekratzter Stimmung verbrachte Rena die verbleibende Zeit bis zur Abholung des Welpen mit dem Auspacken von Kisten. Diese Tätigkeit gab ihren Händen Arbeit und ihrem Kopf Gelegenheit, sich zu freuen und sich einen Namen für ihren neuen Hausgenossen auszudenken. Auch gab es noch ein Problem zu lösen: Wer sollte auf das Tierchen im Auto aufpassen, wenn sie selbst fahren musste? In der Tierhandlung hatte sie zögernd vor den verschiedenen Transportkörben gestanden. Mindestens einhundert Euro kosteten sie und in spätestens vier Monaten würde der Leonberger nicht mehr hineinpassen. Und anbinden wollte sie den Kleinen auch nicht gleich. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn eine andere Person fahren würde und sie den kleinen Hund auf dem Schoß festhalten könnte. Aber leider kannte Rena hier in der Nähe niemanden gut genug, um denjenigen um einen solchen Gefallen zu bitten. Höchstens vielleicht Marlies Kreutzer. Gerade spielte Rena mit dem Gedanken, ihre Nachbarin zu fragen, als sie Mona vor ihrem Küchenfenster vorbeigehen sah. Kurz entschlossen öffnete sie das Fenster und rief hinaus: »Hallo Mona! Hast du einen Augenblick Zeit? Ich möchte dich etwas fragen.«
Überrascht drehte sich Mona nach der Stimme um, dann lächelte sie erkennend und nickte. Rena lief zu dem Mädchen auf den Gehsteig.
»Ich habe mir heute Vormittag einen kleinen Hund gekauft und jetzt weiß ich nicht, wie ich ihn nach Hause bringen soll. Ich selbst muss ja fahren und kann mich nicht um ihn kümmern. Vielleicht hättest du Zeit, mit mir zu kommen? Es würde nur eine halbe Stunde dauern. Du bräuchtest nur den Hund auf dem Rückweg festzuhalten und vielleicht ein bisschen zu streicheln, damit er nicht so sehr Angst hat.«
Monas schmales Gesicht leuchtete auf: »Ein kleiner Hund! Wie süß! Da komme ich gerne mit. Ich muss nur rasch zu Hause Bescheid sagen, dann komme ich zurück.«
»Es hat keine Eile. Ich kann den Hund erst um halb vier holen. Wenn du mir deine Adresse nennst, dann hole ich dich kurz vor halb vier mit dem Auto ab. Du musst sowieso zuerst deine Mutter fragen. Vielleicht erlaubt sie dir nicht, mit mir durch die Gegend zu fahren. Sie kennt mich ja schließlich kaum.«
»Meine Mutter ist nicht zu Hause. Nur Pascal ist da. Der ist ganz wild darauf, Sie kennen zu lernen und über Ihren Beruf auszufragen.«
Rena lachte: »Okay, dann komme ich vielleicht lieber zehn Minuten früher. Und du bist sicher, deine Mutter hat nichts dagegen oder dein Vater?«
»Paps? Der schon gleich gar nicht! Der würde wahrscheinlich am liebsten selbst mitkommen. Wir wohnen in der Kirchstraße sechzehn. Wenn Sie zur Kapelle hochfahren und dann rechts bis ans Ende der Straße. Also bis halb vier!«
Mona drehte sich um, winkte Rena noch kurz zu und rannte die Straße entlang, als ob sie weiteren Einwendungen keine Chance geben wollte. Rena sah ihr nach. Eine eigenartige Bemerkung, die Mona da über ihren Vater gemacht hatte. Hieß das, Herr Griesser hätte auch gerne einen Hund, durfte aber keinen halten? Hatte seine Frau etwas dagegen? Nun, das war nicht Renas Problem. Sie wandte sich wieder den Kisten zu, bis es Zeit war, loszufahren.

Auf Renas Klingeln öffnete sich sofort die Haustür, als habe Mona dahinter gewartet. Sie hatte auch schon Schuhe an und kam mit einem lauten, über die Schulter gerufenen: »Pascal! Frau Walter ist da!«, heraus.
Ein junger Mann kam die große, elegante Marmortreppe herunter. Es war ein außerordentlich gutaussehender junger Mann, der eindeutig seiner Mutter ähnlich sah: groß und sehr schlank, dichtes blondes, ziemlich langes Haar und leuchtend blaue Augen. Vielleicht waren die blauen Augen seiner Mutter, die Rena für gefärbte Kontaktlinsen gehalten hatte, doch echt? 
Strahlend lächelte er Rena an und reichte ihr gut erzogen die Hand: »Ich bin Pascal. Freut mich, Sie kennen zu lernen. Mona hat mir schon von Ihrem Beruf erzählt. Welche Sprache programmieren Sie denn?«
»Meistens C++ oder Java, die werden am häufigsten gebraucht, aber hin und wieder auch andere.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich auch mitkomme, den Hund abzuholen? Dann können wir uns auf dem Weg etwas unterhalten.«
»Sind Sie sicher, dass es Ihren Eltern nichts ausmacht, wenn ich Sie gleich beide entführe? Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte sie vorher fragen können.«
»Da machen Sie sich nur keine Sorgen. Mutti ist mit einer Freundin Tennis spielen. Sie kommt frühestens in zwei Stunden wieder und Paps kommt nie vor acht Uhr nach Hause. Außerdem bin ich volljährig und wenn Mona mit mir kommt, ist das in Ordnung.«
Ungeduldig schaute Mona auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen gehen. Es ist schon fast halb vier.«
Also stiegen sie zu dritt ins Auto. Pascal nahm auf dem Beifahrersitz Platz und verwies Mona nach hinten. Der junge Mann hatte seit einem halben Jahr auch einen Führerschein und fuhr einen Golf, wie er Rena stolz erzählte. Den hatte er von seinen Eltern als Abiturgeschenk bekommen. Dann fragte er sie über ihr Studium aus. 
Tief beeindruckt von ihrem Fernstudium bemerkte er: »Das stelle ich mir sehr schwierig vor. Eigentlich haben Sie bei einem Fernstudium nur die Nachteile eines Studiums, während die Vorteile fehlen.«
»Was betrachten Sie denn als die Vorteile eines Studiums?«
»Die Vorlesungen. Die Seminare. Vor allem die Gesellschaft der Kommilitonen. Das Leben drum herum. Die Partys. Solche Dinge. Warum haben Sie nicht an einer Präsenz-Universität studiert?«
Wenigstens sagte er nicht, an einer »richtigen« Universität, wie Rena schon so oft hatte hören müssen. Als ob die Fernuniversität Hagen keine richtige Universität wäre! Da sie auf dem Bauernhof angekommen waren, blieb keine Zeit, Pascals Frage zu beantworten.
Frau Riedlinger hatte den kleinen Rüden schon der Mutter weg und mit sich in die Bauernhausküche genommen.
»Damit er sich schon ein wenig daran gewöhnt«, wie sie Rena erklärte, als sie ihr das kleine Hundeknäuel überreichte. 
Hingerissen hauchte Mona: »Och, ist der süß!«, was ihr Bruder mit einem amüsierten Augenrollen kommentierte.
Während der finanzielle Teil der Transaktion abgewickelt wurde, spielten Mona und Pascal mit dem kleinen Hund. Sie warfen ein zusammengeknülltes Papier, hinter dem der Welpe mit tapsigen, noch etwas unkontrollierten Bewegungen herrannte und dabei hin und wieder das Gleichgewicht verlor und einen Purzelbaum schlug. Das Gelächter der beiden hallte durch das ganze Haus.
»Reizende Kinder haben Sie!«, meinte Frau Riedlinger.
»Danke, aber das sind nicht meine Kinder. Ich werde Ihr Kompliment an die Eltern weitergeben.«
»Ach so! Ich dachte, es seien Ihre Kinder. Allerdings, wenn ich es recht überlege, sind Sie eigentlich noch zu jung für so große Kinder.«
Auf diese Bemerkung ging Rena nicht ein.
»Gehen wir«, meinte sie zu Pascal und Mona.
»Ich darf das Hündchen nehmen! Hat es denn schon einen Namen?« 
Mona hob den Kleinen hoch.
»Mir ist bis jetzt noch nichts Vernünftiges eingefallen. Ihr könnt mir ja einen Tipp geben.«
Die Rückfahrt wurde der Suche nach einem geeigneten Namen für das kleine Tier gewidmet. Dabei erwies sich Mona eindeutig am kreativsten, doch alle Namen, die sie nannte, wurden von Pascal verworfen. Zwar passten sie sehr gut zu dem kleinen Kerlchen, aber nicht zu dem ausgewachsenen Leonberger, der er einmal werden würde. Als Rena die beiden zu Hause absetzte, hatten sie immer noch keine Lösung gefunden.
»Ich werde ihn vorerst einfach »Hund« nennen«, entschied Rena, »bis mir ein passender Name einfällt. Ich danke euch! Wenn Ihr den Hund wiedersehen wollt, dürft Ihr gerne vorbeikommen.«
Mona konnte sich kaum losreißen. Höflich verabschiedete sich Pascal und verschwand im Haus. Die Tür ließ er für seine Schwester offen.

Zu Hause angekommen, hob Rena ihren neuen Mitbewohner aus dem Auto und setzte ihn auf den Rasen in ihrem Vorgarten. Aufgeregt zitternd bewegte sich das Tierchen heftig schnüffelnd ein paar Hopser in die eine Richtung, dann ein paar Hopser in die andere Richtung. Vor jeder Bewegung in dem für ihn hohen Gras, jedem Schwanken der Grashalme im Wind, jedem Schmetterling, der vorbeischaukelte, erschrak er. Rena setzte sich auf die Stufen vor der Eingangstür und schaute dem kleinen Leonberger zu. Schon nach kurzer Zeit wurde er mutiger. Seine Pfötchen traten deutlich fester auf und er begann im Garten größere Kreise zu ziehen. Doch immer wieder kam er bei Rena vorbei und drückte sich kurz, wie um wieder etwas Selbstsicherheit zu tanken, an ihre Beine, holte sich ein paar Streicheleinheiten und ein paar aufmunternde Worte ab und begab sich dann wieder, neu motiviert, auf Entdeckungsreise. Auch begann er das Terrain zu markieren. Allerdings hob er dabei noch nicht das Bein, sondern setzte sich, wie eine Hündin, hin. Das Beinheben würde erst später kommen, hatte Rena in ihrem schlauen Buch gelesen. 
Nach einer Stunde allerdings übermannte den Welpen die Erschöpfung und er rollte sich neben Renas Beinen zusammen und schlief ein. Sanft hob Rena den Kleinen hoch und trug ihn in die Küche. Dort legte sie ihn in seinen mit einer Decke gemütlich ausgestatteten Hundekorb. Für das Tier war es ein aufregender Tag gewesen. Bis jetzt schien er Mutter und Geschwister noch nicht zu vermissen, aber das würde sicher in der Nacht kommen, wenn er erwachte und der gewohnte Geruch und die wärmenden Körper neben ihm fehlten.
Rena machte sich ein Käsebrot und verzehrte es gleich am Küchentisch. Anschließend setzte sie in ihrem Arbeitszimmer ihre beiden Computer in betriebsbereiten Zustand. Das war in fünf Minuten erledigt. Danach räumte sie ihre Arbeitsmaterialien in den Schrank und holte sich die Akte mit der Spezifikation ihres nächsten Auftrags an ihren Schreibtisch. 
Als selbstständige Informatikerin hatte Rena eine Reihe fester Kunden, zum größten Teil Softwarehäuser, die ihr immer wieder neue Aufträge zukommen ließen, meist mehr, als sie verkraften konnte. Auch ein paar kleinere Firmen, für die Rena komplette Programme erstellt hatte und diese nun nur noch wartete oder an neue Gegebenheiten anpasste, zählten zu ihren Kunden. In der Spezifikation, die sie nun vor sich liegen hatte, ging es um umfangreiche Anpassungen einer Standardsoftware an die Anforderungen eines mittelständischen Betriebes. Sie hatte schon mehrmals für diese Software Anpassungen programmiert und kannte das Grundprogramm in- und auswendig. Das meiste, was hier verlangt wurde, war schnell erledigt – Rena veranschlagte ungefähr eine Woche –, aber es gab auch ein paar Sonderwünsche, die eine Herausforderung darstellten. Rena liebte Sonderwünsche. Noch nie hatte sie einen Kunden enttäuschen müssen. Hin und wieder war der Weg, auf dem sie das gewünschte Ergebnis erreichte, ein anderer, als es sich der Auftraggeber anfangs vorgestellt hatte, aber ihre Argumente überzeugten immer.
Unverzüglich machte sich Rena an die Arbeit. Es galt die Zeit auszunützen, solange der Hund schlief. 
Schon ganz zu Anfang ihrer Selbstständigkeit hatte sich Rena angewöhnt, jegliche Programmierung genauestens zu dokumentieren. In dieser Beziehung war sie den meisten ihrer Berufskollegen voraus. Der Vorteil lag auf der Hand: Nach Updates der Standardsoftware, die in der Regel ihre Sonderprogrammierungen teilweise oder vollständig über den Haufen warfen, wusste sie sofort, wo sie ansetzen musste, um den Schaden zu beheben. Das ersparte ihr und den Kunden viel Zeit und Ärger. Die meisten Softwarespezialisten hatten eine eher künstlerische Einstellung und kümmerten sich um Nachfolgeprobleme erst dann, wenn sie akut wurden. Ihre Dokumentationen behielt Rena für sich. Der Kunde bekam sie nur dann zu sehen, wenn ausdrücklich eine Dokumentation der Programmierarbeiten im Leistungsumfang eingeschlossen war. Das war bis jetzt erst einmal vorgekommen.
Nur wenige wussten von ihrer Arbeitstechnik. Da sie zu Hause arbeitete, konnte sie dies gut für sich behalten. Es hatte ihr den Ruf eingebracht, eine Koryphäe auf ihrem Gebiet zu sein. Kaum jemand konnte ihr das Wasser reichen, wenn es um die Fehlersuche nach Updates ging. So arbeitete sie parallel mit zwei Computern. Der eine war für die Programmierarbeiten bestimmt, der andere für die Dokumentation ihrer Arbeit. Demgemäß entsprach ihr Programmiercomputer auch dem neuesten technischen Stand und wurde spätestens alle zwei Jahre ersetzt, während der Dokumentationscomputer einen einfachen Prozessor hatte, der für das Microsoft-Word-Programm noch lange ausreichen würde. 
Natürlich musste Rena auch häufig, vorwiegend in der Endphase einer Programmierung, vor Ort in der betreffenden Firma arbeiten. In diesen Fällen schrieb sie ihre Dokumentation stichwortartig in ein gewöhnliches Schulheft und arbeitete sie später zu Hause sorgfältig aus.
Fast zwei Stunden lang bearbeitete Rena konzentriert ihren beiden Tastaturen, bevor ein klägliches Fiepen aus der Küche ihre Versenkung durchbrach. Das kleine Kerlchen war aufgewacht und vermisste den warmen Körper und die beruhigenden Zitzen seiner Mutter. Er weinte kläglich. Rena hob das Hündchen auf ihren Schoß und streichelte es, wobei sie mit sanfter, zärtlicher Stimme auf es einsprach. Dankbar leckte das Tier ihre Hand und versuchte an den Fingern zu saugen. Das Weinen hört schnell auf und Rena setzte den Kleinen auf den Boden zurück. Sie öffnete eine Dose mit Hundefutter, extra für Hundebabys und füllte eine kleine Portion in den Napf, den sie heute Vormittag gekauft hatte. Vorsichtig schnuppernd näherte der Hund seine Nase dem Fressnapf. Anscheinend roch es appetitlich, jedenfalls fing er gierig an zu fressen und hatte die Portion nach kurzer Zeit vertilgt. Auffordernd blickte er zu Rena auf, eindeutig Nachschub fordernd. Aber Rena hatte in ihrem schlauen Buch gelesen, dass Hunde ein sehr spät einsetzendes Sättigungsgefühl haben und deshalb meist viel zu viel fressen. Auch waren dort genaue Tabellen abgebildet, in denen man nachlesen konnte, bei welchem Hundegewicht welche Futtermenge ideal ist. Nach dieser Tabelle musste die Menge, die sie ihrem Schützling vorgesetzt hatte, bis zum nächsten Morgen ausreichen. Zum Nachtisch bekam er einen Keks aus dem Paket mit Hundeleckerbissen. Die scharfen kleinen Zähnchen zermalmten das keksartige Gebilde in Sekundenschnelle und leckten anschließend auch den kleinsten Krümel weg. Nun wandte er sich dem Wassernapf zu. Schlabbernd leerte er auch diesen. Ihr Buch hatte geraten, das Tier sofort nach der Mahlzeit nach draußen zu bringen, wenn man keinen Wert auf Pfützen und Häufchen in der Wohnung legte.
Draußen war es dunkel. Dies irritierte den Leonberger. Vermutlich war er in seinem kurzen Leben noch nie bei Dunkelheit im Freien gewesen. Vorsichtshalber hatte Rena ihm das weiche Halsband umgelegt und daran die Leine befestigt. Sie wollte nicht riskieren, dass er wegen eines unvorhergesehenen Geräuschs voller Panik davonlief und in der Dunkelheit verloren ging. Langsam bewegten sie sich durch den Vorgarten zur Gasse hin und dann an den Hecken entlang. Die anfängliche Abneigung gegen Halsband und Leine legte sich schnell, als die unbekannten Gerüche die Aufmerksamkeit des Tieres beanspruchten. Nach einer dreiviertel Stunde wieder zu Hause angekommen, hatten sie aufregende Erlebnisse hinter sich. Rena beglückwünschte sich zu ihrer Voraussicht, den Hund angeleint zu haben, denn zweimal hatte er Hals über Kopf davonlaufen wollen. Das erste Mal fauchte ihn eine Katze aus der Hecke heraus an, das zweite Mal fuhr ein Auto mit leuchtenden Scheinwerfern an ihnen vorbei. Beide Male musste sie den Kleinen erst eine Weile streicheln, bevor sich das flatternde Herzchen wieder beruhigt hatte. Sichtlich erleichtert, diesen ersten Ausflug überlebt zu haben, ließ er sich, komisch aufseufzend, in seinem Korb nieder und schloss die Augen. Deutlicher konnte er nicht demonstrieren: »Heute bringt mich niemand mehr aus diesem sicheren Hafen!«
Sofort setzte sich Rena wieder an ihre Arbeit. Um ein Uhr, als sie das nächste Mal auf die Uhr schaute, hatte sie einen großen Teil der leichteren Aufgaben erledigt und beschloss, für heute Schluss zu machen.

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