Lose Enden, Band 1 - Kapitel 8

 

Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman

Donnerstag, 3. Mai 2007

Am nächsten Morgen fand sich die kleine Arbeitsgruppe wie gewohnt in Kristers Büro zur morgendlichen Kaffeerunde ein, nun waren sie zu fünft.
Krister überflog die Post, die er aus dem Sekretariat mitgebracht hatte. Ein Schreiben erregte seine Aufmerksamkeit.
»Arun, schau mal, das wäre doch etwas für dich.«
Als Arun den Brief gelesen hatte, nickte er erfreut. Es war eine Stellenausschreibung der Universität.
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein! Aber bewerben kann ich mich ja auf jeden Fall mal.«
In Aruns Stimme schwang Hoffnung, aber auch eine gewisse Skepsis. So eine unbegrenzte Anstellung war sehr begehrt, er würde ganz sicher nicht der einzige Bewerber sein.
»Hey, du gehst aber nicht weg?« Mit spitzen Ohren hatte Irene den Wortwechsel verfolgt.
»In der physikalischen Fakultät wird eine Stelle frei. Dr. Thalmann geht zum Ende des Jahres nach Detroit. Arun erfüllt alle Voraussetzungen, um sich zu bewerben«, beruhigte sie Krister.
Wenn innerhalb einer Fakultät eine Stelle vakant wurde, dann konnte dieser Anstellungsvertrag durchaus auch von anderen Abteilungen der Fakultät übernommen werden.
»Des wär’ Spitze, no hedsch den bleda Zeitvertrag endlich los!«  Als eingefleischter Schwabe konnte Bernd wirtschaftlicher Sicherheit viel abgewinnen.
Beruhigt und voller Optimismus ermutigte Irene Arun: »Die Stelle bekommst du bestimmt. Ich kann mir niemanden vorstellen, der besser qualifiziert wäre als du!«
 »Leider werden die Stellen hier an der Uni nicht immer nach diesem Prinzip besetzt.« Krister war da etwas skeptischer. »Aber versuchen musst du es auf jeden Fall!«
Mit dem Brief der Universitätsverwaltung in der Hand verzog sich Arun in sein Büro auf der anderen Seite des Flures. Nachdem sich auch Irene und Bernd an ihre Arbeit gemacht hatten, griff sich Krister den Telefonhörer.
»Hallo Ralf! Wir wären jetzt so weit.«
»Ich komme in zehn Minuten! Muss nur noch kurz meine Apparatur abstellen. Ist sie wenigstens hübsch, die Neue?«
Amüsiert musterte Krister Hanna. »Ja, ich denke schon.«
Hanna, die jedes Wort verstanden hatte, warf ihm einen finsteren Blick zu. Krister legte auf.
»Wär's dir lieber gewesen, ich hätte ›nein‹ gesagt?«, fragte er sanft und startete seinen Computer.
Hanna nutzte die Zeit, um mit der Reinigung ihres zukünftigen Arbeitsplatzes zu beginnen. Als Ralf, der Chemiker, eintraf, hatte sie den Tisch und die vorhandenen Stühle so weit geputzt, dass sich die drei dort niederlassen konnten.
Ralf hatte seine Diplomarbeit mitgebracht.
»Da kannst du einiges daraus verwenden«, meinte er. »Zumindest später, wenn du dich an die höheren Acene machst. Für Tetracen gibt es eine gute Synthese ausgehend von Benzocyclobutenen und 1,4-Dihydro-1,4-epoxynaphthalin. Sagt dir ›Diels-Alder-Reaktion‹ etwas?«
Hanna überlegte kurz, dann nickte sie.
»Das ist eine 4 + 2 Cycloaddition. Damit kann man Kohlenstoffbindungen mit hoher Stereoselektivität aufbauen.«
Beeindruckt nickte Ralf.
»Gut! Du musst schon in der ersten Stufe mit Argon als Schutzgas arbeiten. Hast du das schon mal gemacht?«
Auch das war für Hanna nichts Neues.
Während der nächsten halben Stunde gingen sie die Grundzüge der Synthese durch, während Krister sich entspannt zurücklehnte und sich aufs Zuhören beschränkte. Das klang alles sehr vielversprechend. Mit ihrer neuen Kollegin schienen sie einen guten Griff getan zu haben.
Nachdem Ralf sich mit den Worten »Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn Probleme auftreten« verabschiedet hatte, sagte Krister zu Hanna: »Das hörte sich für meine unkundigen Ohren ziemlich kompetent an. Ich habe den Eindruck, du weißt, was du zu tun hast. Falls du nicht-chemische Fragen hast oder etwas brauchst: Ich bin den Vormittag über hier in meinem Büro.«
»Zuerst bringe ich das Labor in Ordnung und werde danach vermutlich noch eine ganze Weile mit Literatursuche beschäftigt sein. Die Synthesevorschrift von Ralf sieht zwar brauchbar aus, aber ich möchte mich noch ein wenig anderweitig informieren. Das Thema ist für mich ziemlich neu.«

Während der Putzarbeit hatte Hanna ausreichend Zeit, über ihre neuen Kollegen nachzudenken. Mit Irene und Bernd würde sie sicher kein Problem haben. Beide waren liebenswert und unkompliziert. Arun war da etwas schwieriger. Sein zurückhaltendes Wesen ließ ihn distanzierter und weniger einschätzbar wirken. Im Laufe der Zeit würde sich zeigen, ob sie Freunde werden konnten. Ja, und dann Krister. Er sah einfach zu gut aus. Wenn er nicht ihr Vorgesetzter wäre …
Doch genau da, wie immer plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, erschien ein anderes Gesicht in ihren Gedanken. Sie sah Philippe, den sie im August des vergangenen Jahres in der Provence kennengelernt hatte. Hals über Kopf hatte sie sich in den Franzosen verliebt. Nur eine Woche hatten sie zusammen verbracht. Ja, und dann war sie geflüchtet – einen treffenderen Ausdruck gab es nicht für ihre überstürzte Abreise –, heimlich und ohne ihre Adresse zu hinterlassen. Bis heute wusste Hanna nicht, was sie zu diesem drastischen Schritt veranlasst hatte, aber selbst nach einem halben Jahr sah sie Philippes Gesicht immer noch in aller Deutlichkeit vor sich. Oft war sie seither versucht gewesen, den Kontakt zu ihm wieder aufzunehmen. Sie wusste, wo sie Philippe finden konnte, aber immer hielt sie irgendetwas zurück. Die Angelegenheit war keineswegs abgeschlossen, das spürte sie deutlich.
Energisch schüttelte Hanna die schmerzlichen Gedanken ab und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Apparaturen, Glasgeräte und Chemikalien förderte erhebliche Lücken in der Grundausstattung zutage. Hanna entwarf eine vorläufige Beschaffungsliste, die nach der Literaturrecherche noch vervollständigt werden musste.
Inzwischen war es Nachmittag geworden und Hanna beschloss, für heute Schluss zu machen. Krister saß immer noch – oder schon wieder – vor seinem Computer und tippte eifrig. Sie rief ihm ein »Tschüß!« zu, das er geistesabwesend erwiderte.
 

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