Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Montag, 28. Mai 2007
Wie immer war die Mensa um die Mittagszeit bis zum letzten Platz besetzt. Peter Kälber musste sich mit seinem Tablett über die Wendeltreppe nach oben bemühen. Auch dort herrschte ziemlicher Betrieb. Nahe der Fensterfront erspähte der Chemiker ein bekanntes Gesicht: Klaus Merkel hatte auf dem Stuhl neben sich seinen Labormantel deponiert. Als Merkel Peter Kälber nahen sah, wirkte er zwar nicht gerade erfreut, nahm aber doch den Mantel vom Stuhl, um den Platz frei zu machen. Sogar zu einem »Appetit!« ließ er sich herab, als sich der Kollege neben ihm niedergelassen hatte. Peter Kälber gab den Wunsch zurück und tauchte die Gabel in den undefinierbaren Brei, der auf der Speisekarte als »Pfefferpotthast« bezeichnet war.
Klaus Merkel hatte im letzten Jahr in der Theoretischen Physik promoviert und arbeitete seither für Professor Faulhaber. Dort betreute er Seminare und hielt auch hin und wieder stellvertretend eine Vorlesung, wenn der Professor keine Zeit oder manchmal auch keine Lust hatte. Klaus Merkel unterstützte Professor Faulhaber bei dessen Forschungsarbeit, wobei Merkels Anteil hauptsächlich darin bestand, über die neuesten Veröffentlichungen aller Kollegen, die auf demselben Gebiet arbeiteten, unterrichtet zu sein. Klaus Merkel war mit diesen an sich bequemen Aufgaben zufrieden und verspürte nicht die geringste Lust, sich in der Industrie abzurackern. Zugegeben, dort hätte er wesentlich mehr verdienen können, aber weder war die Beurteilung seiner Diplomarbeit vor vier Jahren besonders überzeugend gewesen, noch hatte seine Doktorarbeit Begeisterungsstürme hervorgerufen. Eigentlich war der Physiker in seiner Karriere dort angekommen, wo er zu bleiben gedachte. Nur eines fehlte ihm noch zu seinem Glück: ein unbegrenzter Anstellungsvertrag hier an der Uni anstelle seines jetzigen Zeitvertrages, auf dessen Verlängerung er Jahr für Jahr aufs Neue hoffen musste. Und siehe da: Genau dieses Ziel war plötzlich in greifbare Nähe gerückt! Professor Faulhaber hatte ihm die Stellenausschreibung gezeigt und ihn aufgefordert, sich auf die unbefristete Vollzeitstelle, die ab Januar 2008 zu besetzen war, zu bewerben. Da aber Klaus Merkels Chancen naturgemäß stark von der Anzahl und der Kompetenz der zu erwartenden Mitbewerber abhing, hatte er versucht herauszufinden, wer seine Konkurrenten sein würden. Hier von der Uni gingen Silvia Ambaum, wie er selbst aus der Theoretischen Physik, Theo Hofmann aus der Quantenphysik und Arun Kanwar aus der Laserphysik ins Rennen. Sicherlich würde es auch Bewerber von außerhalb der Universität geben, aber die stellten wohl keine Gefahr dar, denn sie hatten erfahrungsgemäß nur dann eine Chance, wenn in den eigenen Reihen niemand Geeignetes zu finden war.
Um die Frau aus dem Rennen zu schlagen, hatte Merkel schon einen Plan entwickelt. Vor einiger Zeit war das Gerücht umgegangen, Silvia Ambaum sei schwanger. Dies hatte sich dann zwar als unrichtig herausgestellt, konnte aber jederzeit Realität werden. Deswegen war es wichtig, dieses Gerücht wieder aufleben und es vor allem in die richtigen Ohren gelangen lassen. Bei der herrschenden Personalknappheit an der Universität war niemand daran interessiert, Geld für bezahlten Mutterschaftsurlaub aus dem Fenster zu werfen. Der Satz in der Stellenausschreibung »Bei gleicher Eignung werden Frauen bevorzugt« war eine formale Vorgabe, die den Frauenanteil in den gehobenen Positionen erhöhen sollte. Doch wie viele politisch motivierte Ideen ging sie einfach an der Realität vorbei.
Die beiden anderen Kandidaten, Theo Hofmann und Arun Kanwar kannte Klaus nicht näher, aber er hatte vor, alles Wissenswerte über sie herauszufinden. Kanwar. Das klang nicht deutsch. Vermutlich gab es auch noch irgendeine Vorschrift, die Ausländer bevorzugte. Klaus seufzte. Wahrscheinlich hätte er eine größere Chance, die Stelle zu ergattern, wenn er im Rollstuhl sitzen würde.
»Was ist denn mit dir heute los? Über was grübelst du nach?«, fragte Peter Kälber. Er war seit zwei Jahren Doktorand in der Theoretischen Chemie und mit Klaus Merkel schon zur Schule gegangen. Sie waren zwar nicht direkt befreundet, aber hin und wieder tranken sie ein Bier zusammen. Bei ihren Kommilitonen waren sie nicht übermäßig beliebt. Im Grunde genommen hielt Merkel nicht viel von Kälber. Der Chemiker war ein Großmaul, das, sobald es ein Glas zu viel getrunken hatte, von seiner Wehrdienstzeit schwärmte und nie genug mit den dort vollbrachten Heldentaten prahlen konnte. Die meisten dieser Heldentaten richteten sich gegen Menschen, deren Namen keine deutschstämmige Herkunft vermuten ließen. Allgemein hielten sich hartnäckige Gerüchte, die Peter Kälber mit der rechtsradikalen Szene in Verbindung brachten, was nicht zuletzt für seine geringe Beliebtheit mitverantwortlich war.
Im Prinzip war das Klaus Merkel egal. Zum Thema Rassismus oder Rechtsradikalismus hatte er genaugenommen überhaupt keine Meinung. Es interessierte ihn einfach nicht. Manchmal ärgerte er sich, wenn am Sonntag in der Hirschstraße nur dunkelhäutige Menschen mit schwarzen Haaren zu sehen waren und alle um ihn herum in Sprachen redeten, die er nicht verstand. Da kam er sich dann schon ziemlich fehl am Platz vor – und das in seinem eigenen Heimatland. Wenn ihm ein fremdländisch aussehender Autofahrer die Vorfahrt nahm oder ihm gar einen Parkplatz vor der Nase wegschnappte, konnte es schon vorkommen, dass Klaus Merkel sich zu Äußerungen wie »Scheiß Kameltreiber, geh' doch hin, wo du hergekommen bist!« hinreißen ließ. So richtig ärgerlich aber wurde er, wenn er ein hübsches deutsches Mädchen Arm in Arm mit einem dieser Ausländer flanieren sah. Klaus Merkel selbst sah ja auch nicht übel aus. Er war recht groß, seinen leichten Bauchansatz konnte er gut mit entsprechender Kleidung kaschieren. Leider hatte er bei Frauen trotzdem kein besonderes Glück. Ja, bei seiner Nachbarin, da hätte er landen können. Aber die war schon über dreißig und geschieden. Sobald sie ihn kommen hörte, erschien sie »ganz zufällig« im Treppenhaus. Ihr Hundeblick brannte ihm dann ein Loch in den Rücken, wenn er sie nach kurzem Wortwechsel einfach stehen ließ.
Ganz konkret gefragt hätte Merkel sicherlich geantwortet, nichts gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu haben. In seiner Straße wohnten ein paar Türken, mit denen er sich schon hin und wieder unterhalten hatte. Die waren eigentlich ganz in Ordnung.
Peters Kälbers Frage riss Klaus Merkel aus seinen Grübeleien. Und ganz plötzlich bekam er Lust, seinem Tischnachbarn von seinem Problem zu erzählen.
»Vor kurzem habe ich mich auf eine Stelle an der Uni beworben. Wär' echt super, wenn ich die kriegen würde. Da hätte ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt. Keine Angst mehr, plötzlich auf der Straße zu stehen, jedes zweite Jahr automatisch Gehaltserhöhung. Wär', wie gesagt, nicht schlecht. Leider bin ich nicht der Einzige, der eine solche Stelle für sich gut fände. Bei der Tante ist mir ja schon eingefallen, wie ich die vielleicht aus dem Feld schlagen kann, aber die anderen beiden sind ein echtes Problem. Ich kenne sie nicht mal. Wahrscheinlich sind das so Superhirne, gegen die ich sowieso keine Chance habe.«
»Wie heißen sie denn? Vielleicht kann ich was über sie rausfinden. Ich habe da so meine Verbindungen ...«
Peter prahlte ständig mit seinen Verbindungen. Welcher Art sie waren, hatte er allerdings noch nie konkretisiert. Vermutlich waren fünfundneunzig Prozent dieser Angebereien nichts als hohles Geschwätz. Aber wer weiß, die restlichen fünf Prozent konnten sich vielleicht doch als nützlich erweisen. Klaus nannte ihm die beiden Namen.
»Kanwar, Kanwar, irgendwo klingelt's da bei mir. Den Namen habe ich schon mal gehört«, murmelte Peter Kälber.
»Ich komm' jetzt nicht drauf, aber das fällt mir bestimmt wieder ein! Werd' mich mal umhören, vielleicht kommt uns gemeinsam eine Idee, wenn wir mehr über die Leute wissen.«
Als sie fertig waren, verabredeten sie sich für den folgenden Tag wieder zum Mittagessen. Peter versprach, bis dahin seine »Verbindungen« spielen zu lassen.
Kanwar. Der Name ging dem Chemiker nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwo hatte er ihn schon einmal gehört, und zwar erst kürzlich! Mechanisch verrichtete er die Handgriffe in seinem Labor. Einen Glaskolben in den Rotationsverdampfer einzuspannen, das erforderte nicht viel Aufmerksamkeit und ließ genügend freie Hirnkapazität zum Grübeln.
Plötzlich fiel es Peter Kälber wie Schuppen von den Augen: Olaf Theil! Genau! Sein Freund und Gruppenkamerad der Deutschlandfront Ulm hatte eine Anklage am Hals, weil er irgend so eine indische Göre ein bisschen herumgeschubst hatte. Der Name dieser kleinen Ratte war Kanwar gewesen. Ihr Vorname war irgendwas mit L, Lela oder so ähnlich, aber ganz sicher hieß sie mit Nachnamen Kanwar. Da würde er jede Wette eingehen. Das wär' ein Ding, wenn es der Vater dieser Kröte wäre, der sich auf die Stelle bewarb! Hatte Olaf nicht erzählt, dass dieser Alte was Besseres war, nicht der übliche Unterklassenkanacke? Könnte durchaus sein, dass Olaf ganz wild darauf wäre, sich für die Anzeige zu revanchieren. Peter Kälber holte sein Nokia hervor. Die Nummern seiner Kameraden waren alle gespeichert. Olaf war bestimmt zu Hause. Erstens war er arbeitslos, zweitens musste er sich nach der Anzeige etwas bedeckt halten und den braven, irregeleiteten Jungen spielen, bis die Anklage vom Tisch war. Als sich der Freund endlich meldete, verschwendete Peter keine Zeit mit Höflichkeitsfloskeln.
»Sag mal, Olaf, die Göre, wegen der du die Anklage am Hals hast, wie heißt die?«
»Warum willst du das wissen? Glaubst du, ich merk' mir so 'nen Kanackennamen? Kann doch sowieso keiner aussprechen.«
»Schau mal nach, du musst doch irgendwas Schriftliches gekriegt haben. Es ist wichtig!«
Olaf knurrte etwas Unverständliches. War er nicht ganz nüchtern oder hatte er gerade geschlafen? Vermutlich beides. Aber immerhin konnte man hören, wie er im Zimmer herumschlurfte.
»Hier hab ich's. Das Miststück heißt Leyla Kanwar. Warum ist das wichtig?«
»Und der Erzeuger? Der Name des Vaters muss doch auch irgendwo stehen!«
»Der Alte heißt Arun, und die Alte, falls du das auch noch wissen willst, heißt Nari, die Großeltern stehen leider nicht dabei, auch keine Onkels und Tanten, obwohl die garantiert alle hier in Deutschland sind, und zwar in rauen Mengen.«
»Steht da etwas über den Beruf des Vaters?«
»Warum holst du dir den Wisch nicht einfach selbst bei mir ab? Dann kannst du alles auswendig lernen. Ich schenke ihn dir.«
»Olaf, wenn sich meine Vermutung bewahrheitet, dann kriegst du eine super Chance, dich an diesem Typen zu rächen. Der überlegt es sich das nächste Mal gut, bevor er einen unserer Kameraden anzeigt!«
Olafs Interesse erwachte.
»Der Vater von der Tusse ist Physiker an der Universität, irgend so ein Doktor.«
»Super! Genau wie ich dachte. Kannst du die beiden Freunde mobilisieren, die damals bei der Kleinen mit dabei waren? Kommt heute Abend zu mir. Ich erzähl' euch dann alles. Um acht.«
Peter Kälber legte auf. Aufgeregt rieb er sich die Hände. Das Kind würden sie schon schaukeln. Merkel konnte geholfen werden. Den Rest des Nachmittags verbrachte er in stummer Vorfreude auf den Abend. Auf dem Heimweg fuhr er noch kurz im Supermarkt vorbei und besorgte Bier und Chips. Einem gemütlichen Abend stand nichts mehr im Weg.
Pünktlich um zwanzig Uhr standen die drei Jugendlichen vor Peters Kälbers Tür. Olaf war sechzehn, Uli und Thorsten siebzehn Jahre alt. Für Peter mit seinen fast dreißig waren sie beinahe noch Kinder, doch hatten sie etwas Brutales an sich, sodass der Chemiker sich ihnen insgeheim manchmal unterlegen fühlte. Olaf und Uli waren noch nicht einmal ausgewachsen und hatten die unproportionierte Figur von Teenagern. Zahlreiche Pickel in ihren Gesichtern bewiesen, dass die beiden Jungen genau das auch noch waren. Thorsten hingegen war mit seinen beinahe zwei Metern und einhundert Kilogramm eine imposante Erscheinung. Mit viel Halbstarken-Getue machten die Gäste es sich in Peters Wohnzimmer bequem. Sobald die Bierflaschen geöffnet und die Chipstüten aufgerissen waren, erzählte Peter von Klaus Merkels Problem.
»Wär' doch gelacht, wenn wir den Kümmeltürken nicht dazu kriegen, seine Bewerbung zurückzuziehen. Dem steckt doch der Schreck noch in allen Gliedern. Bei der kleinsten Andeutung, dass seiner Brut was passieren könnte, zieht der doch den Schwanz ein.«
»Ja, und am nächsten Tag stehen die Bullen bei uns auf der Matte! Die sind zwar blöd, aber so blöd dann auch wieder nicht. Und dann ist's aus mit einer Ermahnung vom Richter von wegen Ersttäter und so, dann heißt’s: ab in den Knast.«
»Ich mein' ja nicht, dass ihr das machen sollt. Im Gegenteil: Ihr braucht natürlich ein wasserdichtes Alibi! Aber andere aus der Gruppe können da ran. Red' doch mal mit deinem Alten, Olaf. Der will bestimmt auch nicht, dass so ein Kanacke den Job kriegt und ein anständiger Deutscher, wie der Klaus, geht leer aus. Das Tolle ist doch, dass von Klaus zur Gruppe überhaupt keine Verbindung besteht, außer über mich, und von mir weiß die Polizei nichts. Da ist ja nicht mal eine echte Aktion nötig, so 'ne kleine Drohung reicht doch völlig.«
Der Gedanke, dem Verursacher all ihres Ärgers durch diese Anklage eins auswischen zu können, gefiel den Dreien. Olaf versprach, mit seinem Vater zu reden. Er würde Peter Kälber dann Bescheid geben. Vielleicht kam die Sache schon beim Treffen am nächsten Freitagmorgen zur Sprache.
Nachdem noch ein paar Flaschen Bier geleert und die restlichen Chips vertilgt waren, verschwanden Olaf und seine Freunde. Peter atmete erleichtert auf, als sie weg waren. Thorsten hatte die Angewohnheit, mit steigendem Alkoholpegel aggressiv zu werden. Da genügte manchmal schon eine harmlose Bemerkung und man hatte seine Faust im Gesicht. Hinterher tat es ihm zwar leid, aber das ersetzte die fehlenden Zähne auch nicht.
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