Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Da James' Vater der jüngere Sohn eines Herzogs war, wuchs James Davidson im Kreise der Peerage auf, die sein Onkel, der Herzog von Northumberland, um sich scharte.
Geld war genügend vorhanden, und auch mit Intelligenz war der junge James gesegnet. So stand dem Besuch der besten Schulen und Universitäten nichts im Wege. Seinen Eltern wäre es lieber gewesen, er hätte sich der Rechtswissenschaft oder der Medizin gewidmet, aber James entschied sich für die Volkswirtschaft. Schon früh in seinem Leben war ihm nämlich aufgefallen, wie unterschiedlich der Wohlstand auf der Erde verteilt war. Die Gründe dafür interessierten ihn. Warum war Afrika arm und Deutschland reich? Lag es nur am Klima? Oder an der Mentalität der Bevölkerung? Warum hatten die Deutschen überhaupt eine andere Mentalität als die Afrikaner? Ließ sich da eine Struktur erarbeiten – und wenn ja, wie passten England, Frankreich, Amerika, China in diese Zusammenhänge? Waren die reichen und mächtigen Industrienationen so vergänglich wie das römische oder das byzantinische Reich? Wann war mit dem Untergang zu rechnen? Ließen sich schon Anzeichen dafür erkennen?
Mit fünfundzwanzig Jahren hatte James auf Basis seiner Forschungen eine Theorie erstellt. Ihr folgend begann er, zuerst in seinem Heimatland kleine, in Not geratene Unternehmen zu sanieren. Danach ging er zu größeren Firmen über und hielt Vorlesungen und Seminare zu diesem Thema. Bald gehörten weltweit produzierende Konzerne, Energieunternehmen, Stadtverwaltungen, Krankenhäuser, Telekommunikations-Unternehmen und Landesregierungen zu seinen Kunden. Nach der Sanierung des britischen Staatshaushaltes wurde ihm schließlich von der englischen Königin der Titel »Knight Bachelor« verliehen.
Nachdem Sir James seine Theorie ausreichend in der Praxis geprüft hatte, zog er sich aus seinen profitablen Unternehmungen zurück und gründete World Science. Er hatte lange genug mit angesehen, wie Wissenschaftler von der Industrie gekauft worden waren, wie Forschungsergebnisse einfach verschwanden, weil sie einer mächtigen Lobby nicht passten. Sir James wollte nicht länger tolerieren, wie das Treiben weniger reicher und einflussreicher Personen, die ausschließlich ihre eigenen kurzsichtigen Ziele verfolgten, die Welt systematisch zerstörte. Wie der unwiderlegbar nachgewiesene weltweite Klimawandel durch gekaufte Gegendarstellungen angesehener Wissenschaftler in Zweifel gezogen und dadurch der Zeitpunkt versäumt wurde, erfolgreich gegenzusteuern. Wie sich die Kluft zwischen dem geradezu obszönen Reichtum einiger weniger und der lebensbedrohlichen Armut Millionen anderer immer weiter vergrößerte. Wie kein anderer erkannte Sir James die damit verbundenen Gefahren. Er hatte die Flucht der Bevölkerung aus Afrika und dem Nahen Osten vorhergesagt. Er hatte die Zunahme des weltweiten Terrorismus prophezeit. Er hatte früher als alle anderen erkannt, dass eine Regierung nach der anderen von rechtsextremen Diktatoren übernommen werden würde, bis auf der ganzen Welt nur noch größenwahnsinnige Autokraten herrschten. So wie damals in den zwanziger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als in Russland Putin, in der Türkei Erdogan, in Nordkorea Kim und in den USA Trump regierten. Nur eine der gesamten Menschheit dienende, nicht käufliche Wissenschaft, die ihre Forschungsergebnisse einzig zum Wohle der Menschheit anwandte, konnte das absolute Chaos und damit die Zerstörung der Welt verhindern.
Forschung kostet viel Geld. Und davon hatte Sir James Davidson in ausreichender Menge. Er scharte also junge, begabte Wissenschaftler aller Fachgebiete um sich, die noch von Idealen und dem Wunsch beseelt waren, der Menschheit nützlich zu sein. Er entwickelte Konzepte, wie diese Forschung, ohne ihre Objektivität zu verkaufen, genügend Geld erwirtschaften konnte, um weitere wissenschaftliche Projekte zu ermöglichen.
Die medizinische Pionierarbeit von World Science entwickelte Medikamente, die sich jeder leisten konnte. Da es ziemlich viele »jeder« gab, verdiente World Science mit dieser Medikamentenentwicklung nicht gerade schlecht. Die Institution kehrte die Politik der Abhängigkeit in eine Politik der Unabhängigkeit um. Auf dem afrikanischen Kontinent, in Russland, in Südamerika, im Nahen Osten wurde die Bevölkerung kleiner Städte und Gemeinden angeleitet, eine eigene Wasserversorgung und eigene erneuerbare Energiequellen zu schaffen. Damit konnten die Menschen Nahrungsmittel produzieren und eine Industrie entwickeln. Mit dieser neuen Eigenständigkeit wuchs der Stolz der Bevölkerung auf ihre Errungenschaften – und in gleichem Maße sank die Anfälligkeit für terroristische Propaganda oder der Wunsch mancher Leute, ihr Heimatland zu verlassen. Die Menschen blieben und wurden Konsumenten der selbst erzeugten Waren. Die Ernährung und Versorgung der eigenen Bevölkerung hatte bei allen Projekten immer die höchste Priorität. Kurzum: Sir James Davidson war auf dem besten Weg, die Welt vor ihrem vorprogrammierten Untergang zu retten.
Da erhielt er eines Tages von einem seiner Wissenschaftler, einem Astronomen, die Nachricht vom drohenden Zusammenstoß der Erde mit einem Meteoriten.
Davidson, der Wohltäter und Weltenretter, war in den Traditionen der anglikanischen Hochkirche erzogen worden. Er glaubte an Gott, zudem war er sich sicher, sein eigenes Handeln sei Gott wohlgefällig. Nun jedoch geriet er in Zweifel. Hatte er dem Schöpfer ins Handwerk gepfuscht? Waren diese Ungerechtigkeit und Ungleichheit der Verteilung des Reichtums auf der Erde am Ende sogar Gottes Wille? Sir James besiegte diese Zweifel schnell: Gott hätte ihn nicht so lange ungestört arbeiten und seine Vorhaben gelingen lassen, wenn er sie nicht gutheißen würde. Deswegen widmete sich Sir James Davidson nun der Frage, wie der drohenden Gefahr zu begegnen sei, und entwickelte aus diesem Bestreben heraus zwei unterschiedliche Projekte.
Projekt A: Der Zusammenstoß des Meteoriten mit der Erde musste verhindert werden. Zu diesem Zweck wurde eine aus Astronomen und Privatmilitärs bestehende Gruppe gegründet, deren Aufgabe es war, den Meteoriten auf eine andere Bahn zu lenken oder ihn rechtzeitig zu zerstören.
Projekt B: Falls der Zusammenstoß nicht verhindert werden konnte, sollte eine streng ausgewählte Anzahl von Menschen rechtzeitig vorher die Erde in einem Raumschiff verlassen. Deswegen wurde Futura 3000 gegründet und die alle Industrienationen einbeziehende Umfrage entwickelt. Ein Erlebnispark auf dem Gelände der Einrichtung brachte in diesem Konzept nicht nur das benötigte Geld ein, sondern er erlaubte es auch, unter dem Deckmantel der Unterhaltung die erforderliche Technik reifen zu lassen.
Die Gefahren, die durch den Meteoriten der Erde drohten, mussten genauso wie Projekt A und B vor der Welt strikt verheimlicht werden. Die für diese unumgängliche Grundvoraussetzung erforderliche Abwehr-Organisation hatte Sir James Davidson schon lange zuvor ins Leben gerufen. Denn schon immer und weltweit versuchten Terroristen, seine Aktivitäten zu vereiteln – nicht selten beauftragt und finanziert von Regierungen oder von mächtigen Wirtschaftsverbänden.
Projekt A war nach zwei Jahren erfolgreich beendet: Der Meteorit würde in ausreichendem Abstand an der Erde vorbeirasen. Das Ereignis würde in den Medien zwar große Aufmerksamkeit erregen, aber eine Gefahr für die Weltbevölkerung war damit nicht mehr verbunden.
Damit wäre nun eigentlich Projekt B unnötig geworden. Sir James Davidson entschloss sich jedoch, es trotzdem weiterzuführen. Denn jederzeit konnten andere die Erde bedrohende Gefahren auftreten. Für solche Fälle war es unabdingbar, gerüstet zu sein. Das Projekt deswegen als nützliches Testprojekt umzugestalten, dazu bedurfte es nur weniger, vergleichsweise geringer Planänderungen. Technisch gesehen war es sozusagen eine Kleinigkeit.
Aber Sir James war keinesfalls naiv: Die ethische Komponente dieses nun zu einem Experiment abgewandelten Projekts konnte unter den eingeweihten Wissenschaftlern durchaus zu einer Spaltung führen. Er selbst war sich seiner Sache sicher, hatte er doch durch seine Tätigkeit bereits unzähligen Menschen zu einem lebenswerten Dasein verholfen, sie vor Hunger und Krankheit bewahrt. Jetzt aber ging es um die Rettung der Spezies Mensch! Da konnte auf die Schicksale einiger Weniger und deren Angehöriger keine Rücksicht genommen werden. Nun erwies es sich als unschätzbarer Vorteil, dass die für Futura 3000 arbeitenden Experten ohnehin immer geglaubt hatten, sie würden für den Freizeitpark und die damit verbundenen wissenschaftlichen Projekte arbeiten. Auch sie hatten weder von der drohenden Gefahr eines Meteoriteneinschlags noch von dem geplanten tatsächlichen Start der Rakete gewusst. Für die Entwickler-Crew stellte das Ganze eine weitere Attraktion für gut zahlende Gäste von Futura 3000 dar und ließ sich darüber hinaus zugleich als Plattform für wissenschaftliche Forschungen nutzen.
Den zweiundvierzig ausgewählten Mitgliedern der Raumschiff-Besatzung verkaufte man die in Wahrheit schon längst abgewendete Gefahr als Realität. Vor die Alternative gestellt, zu sterben oder die Erde zu verlassen, entschieden sich alle für die Evakuierung. Natürlich war schon bei der Auswahl der Gruppe auf entsprechende psychologische Profile dieser Elite geachtet worden.
Nun war Sir James mit dem Ergebnis des mehr als fünf Jahre dauernden Tests hochzufrieden. Die kleine Gemeinschaft, an deren Zusammenstellung er maßgeblich beteiligt gewesen war, hatte sich als funktionsfähig erwiesen. Selbst den Charakter Jörg Norfords hatte er richtig eingeschätzt. Genau zum richtigen Zeitpunkt, als sich die Gruppe aufgrund von Unzufriedenheit zu spalten drohte, hatte der brutale Akt des Technikers dafür gesorgt, dass Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Das hatte die Gemeinschaft wiederhergestellt.
Nein, Sir James blickte auf sein Werk und er sah, dass es gut war.
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