Das Gewicht der Leere - Kapitel 23

 

Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Am nächsten Morgen versammelten sich die Passagiere der Conquest in der Raumschiff-Zentrale. Nur wenige hatten gefrühstückt. Auch alle Kinder waren anwesend, einen »normalen« Tagesablauf gab es nicht mehr. Die Stimmung, die die Menschen beherrschte, bestand aus einer wilden Mischung von Unglauben, Empörung, Hoffnung und zugleich der Angst, diese Hoffnung könnte sich als schlechter Scherz erweisen. Unabhängig davon, wen oder was die Einzelnen auf der Erde zurückgelassen hatten, war allein die Aussicht, das Raumschiff verlassen zu können, der Beengtheit dieser hermetischen Umgebung zu entrinnen, ein verlockender Traum, den die allermeisten aber schon längst ausgeträumt hatten.

Greg hatte sich über den Hauptmonitor in der Zentrale eingeloggt, so konnte jeder der Anwesenden mitlesen.
Um 10:45 Uhr Ortszeit flimmerten plötzlich Buchstaben auf:

HALLO GREG! WIR ÜBERNEHMEN! SORRY, ABER ICH MUSS DICH ABSCHALTEN. NATÜRLICH STOPPEN WIR AUCH DIE SAUERSTOFFZUFUHR. ABER KEINE PANIK: DIE LUFT IM RAUMSCHISCH REICHT LOCKER SOLANGE, BIS WIR DEN DRUCKAUSGLEICH VORGENOMMEN HABEN UND IHR AUSSENLUFT BEKOMMT. IN EINER HALBEN STUNDE MELDET SICH PROFESSOR JAMES DAVIDSON ÜBER DEN HAUPTBILDSCHIRM. BIS GLEICH, ANDREAZ

Daraufhin wurde der Monitor schwarz. Sämtliche Geräusche verstummten. Das plötzliche Fehlen des seit fünf Jahren ununterbrochen vorhandenen schwachen Zischens der künstlichen Atemluftzufuhr, an das sich die Menschen so vollständig gewöhnt hatten, dass sie es nicht mehr wahrnahmen, erzeugte eine fast schmerzhafte Stille, eine dumpfe, bedrückende Leere. Manche fingen an, tief Luft zu holen, als sei dies ihr letzter Atemzug, andere hyperventilierten.
»Ich ersticke!«, schluchzte jemand.
Plötzlich war das so vertraute leichte Zischen wieder zu hören. Greg überprüfte die Luftzufuhr.
»Die Atemluft kommt nicht aus unserem System!«, meldete er. » Wir können nun nichts mehr tun, andere haben die Kontrolle über uns.«
Nach einer halben Stunde, die endlos lang wirkte, erwachte der Hauptbildschirm zu neuem Leben. Viele erkannten das schmale, faltendurchzogene Gesicht mit den durchdringenden eisblauen Augen unter den dichten stahlgrauen Brauen, das sich nun zeigte. Oft genug war es in Nachrichten zu sehen gewesen. Auch die Stimme war den meisten geläufig:
»Captain Hunter! Erster Offizier Quist! Crew und Passagiere der Conquest. Mein Name ist Professor James Davidson. Ich bin, wie manche vielleicht wissen, der Vorstandsvorsitzende von World Science. In dieser Eigenschaft begrüße ich Sie auf der Erde. Es ist uns durchaus bewusst, wie absurd dies in Ihren Ohren klingen mag, diese Verwirrung bedauern wir aufrichtig. Vermutlich sind Sie uns schon auf die Schliche gekommen: Sie haben die Erde nie verlassen! An diesen Gedanken müssen Sie sich nun sicherlich erst gewöhnen.
Wir werden jetzt gleich die Hauptluke öffnen. Bewahren Sie Ruhe. Sie werden in kleinen Gruppen abgeholt und zu den für Sie vorbereiteten Quartieren gebracht. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Sie das Gelände nicht verlassen können und folgen Sie den Anweisungen der Ihnen zugeteilten Begleitpersonen. Es ist nun elf Uhr und fünfzehn Minuten Algerischer Ortszeit. Ich werde heute Abend um sechs Uhr zu Ihnen sprechen und Sie über alle Zusammenhänge aufklären. Auch Ihre sicher zahlreichen Fragen werden dann beantwortet werden. Bis dahin bitte ich Sie um Geduld und hoffe, dass alleine die Tatsache, wieder auf der Erde zu sein, Sie für vieles entschädigt.«
Der Bildschirm wurde schwarz. Eisige Erstarrung hielt die Anwesenden umklammert. Was sie soeben gehört hatten, war zu absurd, zu unglaublich, zu unverschämt, zu unfassbar. Mehr als fünf Jahre ihres Lebens hatten sie in diesem Raumschiff verbracht. Während dieser gesamten Zeit hatten sie geglaubt, die Erde sei zerstört, die Ehemänner, Ehefrauen, Väter, Mütter, Kinder, Freunde tot, ausgelöscht durch einen gigantischen Meteoriten. Dabei war in all diesen Jahren in Wirklichkeit nur eine dünne Metallschicht zwischen ihnen und ihren Lieben gewesen! Deren vermeintlichen Tod hatten sie nach und nach mehr schlecht als recht verarbeitet, wieder Verbindungen geknüpft, langsam in eine neue Art von Leben zurückgefunden. Sie hatten Hoffnungen aufgebaut. Und nun diese Worte des Professors: eine gigantische Ohrfeige! Welche Erklärung auch immer konnte diese Katastrophe rechtfertigen?
»Diese Schweine!«, knurrte Tom mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich bring' denjenigen um, der sich das ausgedacht hat.«
Er fühlte sich verraten und gedemütigt. Für ihn war dies alles ein Abenteuer gewesen, das seine kühnsten Träume übertroffen hatte. Der Moment fiel ihm ein, als er für kurze Zeit das Raumschiff manuell gesteuert hatte. Von wegen! Denn sie hatten den Boden nie verlassen! Da draußen saßen irgendwelche Typen, die sie fünf Jahre lang beobachtet und sich die ganze Zeit über vermutlich über sie totgelacht hatten.
Alice legte ihm begütigend die Hand auf den Arm. Sie wusste, was in Tom vorging. Auch sie war empört über das menschenverachtende Verhalten der noch Unbekannten. Gleichzeitig aber durchströmte sie ein ungeheuerliches Glücksgefühl. Bald würde sie festen Boden betreten! Und nicht den Boden irgendeines unbekannten und vielleicht feindseligen Planeten, sondern den der Erde. Ihre Kinder würden im Garten toben, im Meer baden und am Strand spielen können. Sie würden echte Tiere sehen und anfassen können.
Franka war wie betäubt. Nun also war es Gewissheit: Victor und ihre Kinder lebten. Valerie und Philippa. Ihre Mädchen waren inzwischen neun Jahre alt. Fünf Jahre ihres Lebens hatte sie unwiederbringlich verpasst. Und Victor? Sie hatte Victor so sehr geliebt. Nun liebte sie Terence. Was würde geschehen, wenn sie Victor wiedersah? Würde sie ihn immer noch lieben? Und wie sah das bei ihm aus? Durfte Franka sich überhaupt wieder in das Leben ihres Mannes, ihrer Kinder drängen? Was war ihnen erzählt worden? Hielten sie ihre Mutter für tot? Genauso wie Tom fühlte sie sich verraten und betrogen. Diese Dreckskerle hatten seelenruhig zugesehen, wie sie im Fitnessraum vergewaltigt worden war. Mit klinischem Interesse hatten sie verfolgt, wie die kleine Gesellschaft mit all ihren Problemen kämpfte. Hass stieg in Franka auf. Was sie nun auch vorhatten, sie würde nicht mehr mitspielen! Sie würde diesen Schweinen das Handwerk legen, und wenn es auch das Letzte war, was sie tat.
Terence beobachtete Franka. Der Wechsel ihrer Gefühle von Trauer über Unsicherheit zu Wut blieb ihm nicht verborgen.
Der Erste Offizier hatte eine militärische Ausbildung absolviert und hinterher schnell Karriere gemacht. Er war es gewohnt, Befehle zu empfangen und manchmal auch Dinge zu tun, die ihm persönlich widerstrebten. Beispielsweise damals, als er Franka zu ihrem Flug abholen musste. Er hatte nur schwer dem Drang widerstehen können, ihr die Wahrheit zu sagen und ihr die Chance zu geben, mit ihrer Familie zu sterben. Die Wahrheit! Nein, vielmehr das, was er damals für die Wahrheit gehalten hatte! Terence hatte das, was er zu wissen glaubte, für sich behalten. Denn er hatte nicht gewollt, dass Franka starb. Außerdem hätte er nicht so offen gegen einen Befehl handeln können. Sein Sohn auf der Erde war inzwischen siebzehn Jahre alt. Als Vater hätte Terence sich von diesem Sohn vermutlich auch dann entfernt, wenn er die zurückliegenden fünf Jahre nicht auf einem Raumschiff verbracht hätte. Dafür hätte Pamela schon gesorgt. Pamela, die allein ihn für das Scheitern ihrer Ehe verantwortlich gemacht hatte. Pamela und ihr Hadern mit Terences zeitaufwändigem, forderndem Beruf.
Schon vor fünf Jahren waren Terences Eltern alt gewesen. Ob sie noch lebten? Was war mit seiner Schwester und seinem Bruder? Terence stammte aus einem liebevollen Elternhaus und hatte Eltern und Geschwistern immer sehr nahegestanden. Glaubten sie ihn tot? Welche Geschichte war verbreitet worden? All das würden sie nun bald erfahren. Dann kehrten seine Gedanken zu Franka zurück. Für sie war all das viel schwerer als für ihn. Denn sie hatte nun plötzlich zwei geliebte Familien. Wie sollte sie sich für nur eine entscheiden können?
Greg kochte vor Wut. Wobei sich ein Teil dieser Wut gegen sich selbst richtete. Schon als er die unnötigen, immer wiederkehrenden Sequenzen in den Programmen entdeckt hatte, war ihm klar geworden, dass irgendetwas manipuliert worden war. Er hatte sich aber durch die sogenannten »lebenswichtigen Systeme« ablenken lassen, hatte seine Zeit mit unnötigen Kontrollen unnötiger Programme verschwendet, anstatt der großen Täuschung sofort auf die Spur zu kommen. Dass sein Idol Andreaz Vukinokz an diesem Betrug maßgeblich beteiligt war, schmerzte ihn einerseits, beruhigte aber andererseits auch sein Gewissen. Es war weniger schmachvoll, einem unbestrittenen Genie wie Andreaz auf den Leim zu gehen, als sich von irgendeinem hergelaufenen Universitätsprogrammierer an der Nase herumführen zu lassen.
Greg würde seine Frau und seine Kinder wiedersehen. Er war auf dem Raumschiff keine neue Verbindung eingegangen, was seine Probleme jetzt minderte. Dass sich seine Frau inzwischen einem anderen Mann zugewandt haben könnte, daran glaubte er nicht. Und falls es so sein sollte, dann würde er sich damit befassen, wenn es so weit war.
Im Augenblick sann er auf Rache. Was würden sie ihnen nun für eine Geschichte auftischen? Klar war, dass sie ihre Versuchskaninchen nicht einfach laufen lassen würden. Zweiundachtzig Menschen der Freiheit zu berauben, das konnte sich eine private Organisation wie World Science mit ihren vermeintlichen ethischen Ansprüchen noch viel weniger erlauben als irgendjemand anderes auf der Welt. Dazu kam, dass die Passagiere aus unterschiedlichen Nationen stammten. Nicht alle Regierungen konnten unter einer Decke stecken. Greg musste also abwarten. Fürs Erste beobachtete er die anderen Menschen an Bord. Er sah die Wut auf Toms Gesicht und den Hass auf Frankas. Er nahm die Verzweiflung bei Terence und die Erleichterung bei Alice und Melanie wahr. Nur Dereks Gesicht blieb völlig ausdruckslos.
Auch der Captain hatte eine lange und steile Karriere beim Militär hinter sich. Seine Gefühle zu verbergen, das war ihm antrainiert worden. Beim Militär brachte nur derjenige es weit, der mit den dort herrschenden Strukturen zurechtkam. Der Einzelne zählte nicht, war nur ein Rädchen im Getriebe. Um sich betrogen zu fühlen, musste man sich selbst als wichtige Person sehen. So aber dachte man beim Militär nicht. Dort galten einfachere Strukturen: Irgendjemand hatte einen Plan gefasst. Und für den gab es einen guten Grund. Derek würde sich mit seinem Urteil so lange zurückhalten, bis er auch in der neuen Situation diesen Plan kannte.
Wie Greg war auch Derek der Überzeugung, die Verantwortlichen für das Desaster würden die Menschen an Bord nicht einfach zurück in ihr altes Leben entlassen. Dafür würde es Bedingungen und die Überwachung von deren Einhaltung geben. Vorerst überwog in Derek die Erleichterung, nicht mehr für einundachtzig Menschen verantwortlich zu sein. Er hatte seine Aufgabe erledigt, so gut es ihm möglich gewesen war, brauchte kein Urteil zu fürchten. Immerhin hatte es keinen einzigen Todesfall an Bord gegeben.

Schon eine ganze Weile drangen Geräusche von draußen ins Innere. Die Techniker, die offenbar von außen mit der Öffnung der Hauptluke beschäftigt waren, demontierten die äußeren Dämmschichten. Das metallische Kreischen der dafür notwendigen Maschinen bohrte sich schmerzhaft in die Ohren der Menschen. Wie eine Herde Kühe vor der Abendfütterung versammelten sie sich nach und nach vor der Luke, standen dicht beisammen. Und doch war jeder alleine, musste auf seine Weise mit der Vergangenheit fertig werden und sich der Zukunft stellen. Niemand sprach. Endlich war die Luke offen und gab den Blick frei in die riesige Halle, die die Gefangenen auf dem Raumschiff entweder von ihrer Ankunft vor fünf Jahren kannten, oder auch schon sehr viel länger, weil sie in dieser Halle gearbeitet hatten. Wie angekündigt wurden sie in kleinen Gruppen abgeholt und über die steile Stahltreppe hinunter zu den Quartieren gebracht. Die Eltern hielten ihre Kinder dicht bei sich, die sich mit großen Augen umsahen. Für sie war das alles völlig unbegreiflich. Denn sie kannten die Erde nicht. Ihre kleine Welt war das Raumschiff gewesen.
Terence trug Amy auf dem Arm, Franka hielt Malcolms kleine Hand in ihrer. Sie folgten dem silberfarben gekleideten Begleiter. Ein zweiter Mann hielt sich hinter der kleinen Gruppe. Beide waren bewaffnet. Sie trugen ihre Waffen zwar nicht einsatzbereit in der Hand, aber es war klar, dass es sich hier nicht um das höfliche Geleit durch Hotelmitarbeiter handelte. Vor Terence und Franka gingen Tom und Alice mit ihrer Familie. Derek und Melanie befanden sich mit ihrer Tochter noch im Raumschiff. Traditionsgemäß würde der Captain das Schiff als Letzter verlassen. Rituale waren stark, selbst wenn man sie hier nur als Hohn empfinden konnte.
Sie wurden in eine Unterkunft gebracht, die derjenigen bei der Ankunft der Reisegäste ähnelte. Wieder befanden sie sich in dem Bereich des Geländes, das eher den Eindruck eines luxuriösen Hotels vermittelte. Bevor ihre Eskorte die »Rückkehrer« verließ, wurden sie aufgefordert, sich um 18 Uhr im Speisesaal einzufinden.
Amy war müde. Für sie war das Ganze einfach nur anstrengend. Terence legte das Kind in das kleine Bettchen, das sich in der Suite befand. Sie war für eine Familie mit kleinen Kindern ausgestattet. Amy schlief sofort ein. Malcolm hingegen war aufgedreht. Er spürte das Besondere der Situation und reagierte darauf, wie es seine Art war, mit ununterbrochenen Fragen »Wo sind wir?«, »Was ist das?«, »Wer ist der Mann?«, »Wo gehen wir hin?« Die Eltern antworteten, so gut sie es selbst wussten, aber Malcolm konnte mit diesen Auskünften nichts anfangen. Das verunsicherte ihn. Schließlich setzten Franka und Terence ihn vor den Bildschirm und suchten aus dem umfassenden Angebot an Filmen einen über Mäuse aus. Mäuse kannte Malcolm. Denn er hatte, wie auch alle anderen Kinder an Bord, mit Tick, Trick und Track gespielt, Auch Erde, Bäume und Blumen hatte er im Park in der obersten Raumschiffebene schon gesehen. Nach einiger Zeit beruhigte sich der kleine Junge und schlief schließlich auf dem Sofa ein.

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