Das Gewicht der Leere - Kapitel 22



 Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Franka und Terence saßen in ihrem Wohnraum. Die kleine Amy war gestillt und gewickelt, nun schlief sie friedlich in ihrem Bettchen nebenan. Selbst Malcolm hatte endlich aufgegeben und war erschöpft eingeschlafen. Solange die Kinder wach waren, hatten die Eltern das bedrückende Thema gemieden. Malcolms pausenloses, meist unverständliches Geplapper hätte sowieso kein Gespräch zugelassen. Doch nun kehrten die Gedanken an die alarmierende Lage mit aller Wucht wieder.
»Was hat das alles zu bedeuten, Ter? Das ist doch kein Zufall!«
»Ich weiß es auch nicht. Es ist so sinnlos. Alles ist darauf ausgelegt, es uns unmöglich zu machen, das Raumschiff zu verlassen. Aber warum? Wenn wir keinen geeigneten Planeten finden, steigen wir doch sowieso nicht aus. Warum wollen sie uns also um jeden Preis daran hindern?«
»Irgendwie gehen mir die sonderbaren Programmzeilen nicht aus dem Kopf. Ich habe das sichere Gefühl, sie stehen in Zusammenhang mit den anderen Vorkommnissen. Ich weiß nur nicht, wie.«
»Was hat denn Greg dazu gesagt? Für was hält er diese Zeilen?«
»Er schätzt meine Theorie mit der Dead-Man-Schaltung als gar nicht so abwegig ein. Solange die Zeilen regelmäßig wiederkehren, läuft das Programm ordnungsgemäß.« 
Terence dachte ein paar Minuten stumm nach. »Aus welchem Grund würdest du eine Tür abschließen?«, fragte er dann.
»Na, damit niemand rein- oder rausgehen kann!«
»Ja, das ist klar. Aber warum soll niemand rein- oder rausgehen?«
»Weil ich etwas hinter der Tür habe, das ich sicher aufbewahren will oder das niemand sehen soll. Kann auch sein, dass in dem Raum etwas Gefährliches ist und ich jemanden davor schützen möchte.«
»Beschränken wir uns auf eine abgeschlossene Tür, die nach draußen führt, nicht in einen Raum hinein. Das heißt, niemand soll sehen, was außerhalb der Tür ist. Oder vielleicht ist es auch außerhalb der Tür gefährlich. Nun, gefährlich ist es im Weltraum allerdings, aber schließlich haben ein paar von uns Erfahrung im All gesammelt. Bleibt also das zweite Argument: Niemand soll sehen, was sich außerhalb befindet. Aber das ist absurd: Wir wissen nämlich alle, wie es da draußen aussieht, denn wir sehen es über die Kameras.«
Franka meint nachdenklich: »Wissen wir das wirklich? Als wir noch vor dem Sprung standen, da hat Tom einmal die Bilder, die die Kamera bei einem ihrer Sprünge von dem neuen Teil unseres Universums aufgenommen hat, auf den großen Monitor gelegt. Er wolle sich an den Anblick gewöhnen, hat er gesagt. Es sah aus wie echt. Woher wissen wir, ob das, was wir sehen, Wirklichkeit ist? Vielleicht ist es nur Projektion?«
Terence starrte sie an.
»Was willst du damit sagen? Wir aktivieren im System die Außenkamera, dann bekommen wir das Bild der Raumschiffumgebung. Alternativ dazu können wir auf ›Archivierte Bilder‹ oder auf die Innenkameras schalten.«
»Ich will damit gar nichts sagen, außer, dass es mir schwerfällt, echte und archivierte Bilder voneinander zu unterscheiden. Wenn jemand behaupten würde, ein archiviertes Bild sei die echte Außenansicht, würde ich ihm das glauben.«
Terence hatte sich aufgerichtet. Gedankenvoll sah er ins Leere.
»Was hätte es für einen Sinn, uns Bilder vorzugaukeln, die nicht die tatsächliche Außenansicht darstellen? Es wäre sogar gefährlich. Nimm einmal an, wir geraten in einen Meteoritenschwarm und sehen ihn nicht einmal!«
»Es hat natürlich keinen Sinn ...«
Das Piepsen ihrer Kommunikationseinheit unterbrach ihre Überlegungen. Es war Greg.
»Kommt mal ganz rasch zu mir! Derek und Tom habe ich auch schon angepiepst«, rief er erregt.
»Weißt du, wie spät es ist?«, fragte Terence müde.
»Nein, und es ist mir gerade auch ziemlich egal. Ich garantiere euch, in fünf Minuten denkt ihr nicht mehr an Schlaf!«
Franka und Terence warfen noch einen Blick auf die friedlich schlafenden Kinder, dann hasteten sie zur Computerzentrale. Derek, Tom, Melanie und Alice erwarteten sie ungeduldig. Greg hatte sich geweigert, auch nur einen Ton zu sagen, bevor nicht alle da waren.
»Ich habe mir diese Zeilen nochmals angesehen. Und ich weiß jetzt, wozu sie da sind. Die ganze Zeit schon habe ich gedacht: So etwas hast du schon einmal gesehen! Heute Abend ist mir dann eingefallen, wo. Während meiner Studienzeit hatte ich einen Kommilitonen, der war ein begeisterter Hacker. Überall hat er sich eingehackt, und dann hat er sich immer solche harmlosen Zeilen als Vehikel installiert. Er hat sie einfach in das vorhandene Programm eingebaut. Niemandem sind sie aufgefallen, und so konnte er über sie jederzeit in dem Programm ein- und ausgehen.«
»Du meinst, jemand überwacht uns? Er schleust sich mit Hilfe dieser Zeilen in unsere Programme ein und bekommt so alles mit, was wir tun?« Ungläubig starrte Franka auf die vermeintlich so harmlosen Programmzeilen. »Wer sollte uns überwachen? Es gibt niemanden mehr außer uns!«
»Das ist ja genau das, was mir zunächst so unsinnig erschien. Wozu solche Zeilen einbauen, durch die jederzeit eine Überwachung möglich wäre, wenn niemand da ist, der uns überwachen könnte? Schließlich wussten die Konstrukteure und Planer, dass die Erde von einem Meteoriten getroffen wird. Aber jetzt kommt der Clou: Wenn uns jemand observiert, dann kann ich über diese Zeilen ebenso in sein Programm wie er in meines. Ihr müsst euch das wie einen Knoten oder wie eine Kreuzung vorstellen, an der sich die beiden Programme berühren oder schneiden. Genau das habe ich ausprobiert. Und ich hatte Erfolg: Da draußen ist jemand, der uns überwacht!«
Mit offenen Mündern starrten sie ihn an. Alice fasste sich als Erste: »Das kann nicht sein! Du musst dich irren. Wer sollte das sein? Die Erde gibt es nicht mehr! Du hast es doch selbst gesehen!«
»Das ist mir auch klar, aber ich behaupte ja nicht, dass die Überwachung von der Erde kommt. Ich behaupte lediglich: Jemand ist da draußen und verschafft sich über diese Zeilen Zugang zu unseren Programmen. Ich beweise es euch.«
In rasender Geschwindigkeit tippte Greg eine ganze Reihe von Zeichen in die Tastatur. Der Bildschirm wurde schwarz, dann erschien plötzlich Zeile um Zeile eines Programms.
»Seht ihr, nun bin ich in seinem oder ihrem Programm. So, und nun werde ich es etwas durcheinanderbringen. Mal abwarten, wie das ankommt.«
»Bist du ganz sicher, dass es sich nicht um eines unserer eigenen Programme handelt?«
Greg warf Tom einen verächtlichen Blick zu. Er hielt es für unter seiner Würde, auf diese Frage zu antworten. Stattdessen veränderte er die auf dem Bildschirm angezeigten Programmzeilen.
»Jetzt bin ich gespannt! Ich weiß natürlich nicht, ob es sofort bemerkt wird. Auf dem Bildschirm unseres unbekannten Gegenübers erscheint jetzt die Aufforderung, sich erkennen zu geben.«
Keiner wandte den Blick auch nur für eine Sekunde von Gregs Monitor ab. Nur das Geräusch der Lüftung des Computers war zu hören, ansonsten herrschte atemlose, gespannte Stille. Der Bildschirm aber blieb schwarz. Franka hatte Terences Hand ergriffen und umklammerte sie, ohne es selbst zu merken, so hart, dass ihre eigenen Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Da ist niemand!« Tom verlor als erster die Geduld. Gleichzeitig entspannten sich seine Gesichtszüge. Auch die anderen atmeten auf. Sie hätten selbst nicht sagen können, ob sie sich enttäuscht oder erleichtert fühlten.
Plötzlich rief Franka: »Da! Sie antworten!«
Wie von Geisterhand erschienen Zeichen. Buchstaben, die ohne Weiteres lesbar waren:

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH! ICH WUSSTE, DU KOMMST MIR AUF DIE SCHLICHE, GREG! GRÜSSE VON DER ERDE! ANDREAZ

Ein paar Sekunden lang leuchtete die grünliche Schrift vor dem schwarzen Hintergrund, dann verblasste sie und verschwand. Die sieben Menschen in dem kleinen Raum verharrten reglos. Unauslöschlich hatte sich die Botschaft in ihre Gehirne eingebrannt: Grüße von der Erde! Die Erstarrung löste sich abrupt, als Frankas Knie nachgaben und sie in sich zusammensackte. Terence fing sie auf und ließ sie sanft zu Boden gleiten.
»Holt eine Decke!«, bat er. »Sie hat einen Schock. Ihre Hände sind eiskalt, wir müssen sie warm bekommen.«
Tom eilte sofort los und kam kurz darauf mit einer Decke zurück. Sie wickelten Franka darin ein, die glücklicherweise noch bei Bewusstsein war.
»Was bedeutet das, Terence?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Wie können wir Grüße von der Erde bekommen? Die Erde gibt es nicht mehr!«
»Ich weiß es nicht!«, bekannte Terence. Seine Stimme klang fast flehentlich, als er sich an Greg wandte: »Kann es sein, dass dieser Vukinokz diese Zeilen vorprogrammiert hat?«
»Du meinst, er hat die Vehikel-Zeilen eingefügt, hat vorausgesehen, dass ich sie als das erkenne, was sie sind, dann postwendend eine Botschaft zurücksende – und auch darauf hat er gleich die Antwort vorprogrammiert?«
»Naja, so ähnlich. Wäre das möglich?«
»Theoretisch schon, aber das lässt sich ja prüfen. Außerdem bleibt da noch eine entscheidende Frage: Wo steht der Computer, von dem aus diese Zeilen gesendet wurden? Logischer Schluss wäre: Er müsste sich hier auf dem Raumschiff befinden!«
Wieder huschten Gregs Finger über die Tastatur.

HALLO ANDREAZ! WAS TREIBT IHR FÜR EIN SPIEL MIT UNS? WIE GEHT ES DEINEN ENKELN? ROSA MÜSSTE INZWISCHEN SCHON IN DER SCHULE SEIN, RICHTIG?

Nach wenigen Minuten, die die kleine Gruppe in schweigender Angespanntheit zubrachte, kam die Antwort: 

ROSA GEHT NATÜRLICH SCHON IN DIE SCHULE. SIE IST EIN GROSSES MÄDCHEN. SCHALTET ALLE PROGRAMME AB. WIR ÜBERNEHMEN DAS KOMMANDO! AM BESTEN; IHR VERSAMMELT EUCH IM CASINO: PROFESSOR JAMES DAVIDSON MÖCHTE ZU EUCH SPRECHEN: ES WIRD ALLERDINGS EINE WEILE DAUERN: IHR KÖNNTE EUCH SCHON MAL AN DEN GEDANKEN GEWÖHNEN, DASS IHR MORGEN WIEDER AUF DER ERDE SEIN WERDET.

Der Bildschirm wurde schwarz. Die sieben Menschen im Raum saßen wie gelähmt. Nach scheinbar endloser Zeit fand als Erster Derek die Sprache wieder.
»Wir tun am besten, was er gesagt hat. Ich rufe alle zusammen. Im Augenblick bin ich nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Lassen wir einfach alle Spekulationen vorerst sein und warten wir ab, ob und wann sich unsere mysteriösen neuen Freunde wieder melden. Tom, schalte die Raumschiffsteuerung ab. Die Lebenserhaltungssysteme lassen wir natürlich laufen. Wir können nicht das Risiko eingehen, uns wegen eines Witzboldes in Gefahr zu bringen.«
Als hätte ihr unbekannter Überwacher, der sich als Andreaz Vukinokz ausgab, dem Captain zugehört, erschienen neue Zeilen auf dem Bildschirm: 

ICH WEISS, ES IST EINE ZUMUTUNG, ABER IHR MÜSST WIRKLICH ALLE PROGRAMME DEAKTIVIEREN! WIR KÖNNEN NUR KOMPLETT ODER GAR NICHT ÜBERNEHMEN. VERTRAUT MIR. IHR MERKT DOCH SOFORT, OB ALLES WEITERLÄUFT WIE BISHER. WIR KÖNNEN DEN KONTAKT ÜBER DEN GROSSEN BILDSCHIRM NUR AUFNEHMEN, WENN WIR DIE KONTROLLE ÜBER DAS SCHIFF HABEN.

Zweifelnd blickte Derek zu Terence und Tom.
»Was meint ihr? Es gefällt mir ganz und gar nicht. Vielleicht ist das nur irgendein Verrückter. Vielleicht sogar einer, der hier im Raumschiff sitzt und uns auf den Arm nimmt. Wenn wir ihm die Kontrolle über das Schiff überlassen, hat er uns in der Hand.«
»Das sehe ich genauso«, erwiderte Terence. »Ich schlage vor, wir rufen alle auf der Brücke zusammen, und dann soll Greg wieder Kontakt zu dem Unbekannten aufnehmen. Meldet er sich, ist es zumindest niemand vom Schiff. Wir müssen dann davon ausgehen, dass die Person sich anderswo aufhält.«
Ganz bewusst erwähnte Terence in seinem letzten Satz die Erde nicht. Die Möglichkeit, dass sie eventuell doch noch existieren könnte, hatte bis jetzt keiner von ihnen verkraftet. Fünfeinhalb Jahre hatten sie in dem Bewusstsein gelebt, heimatlos zu sein und vermutlich nie wieder die Oberfläche eines Planeten zu betreten. Getäuscht worden zu sein, was die Zerstörung der Erde betraf, das konnten sie nicht so einfach akzeptieren. Jeder Einzelne kämpfte gerade mit einem ganzen Schwall konträrer Empfindungen: Wut und Zorn, aber auch Erleichterung und Freude, Unverständnis und Ungeduld. Das Einfachste war im Augenblick, alle Gefühle so gut wie möglich von sich zu schieben, bis weitere Informationen verfügbar waren.
Terences Vorschlag wurde angenommen.
»Ich lasse die Besatzung im Ungewissen, um was es sich handelt, und kommandiere sie einfach auf die Brücke. Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, die sich ziemlich schnell zerschlagen könnten. Sollte aber das, was man uns da gerade weiszumachen versucht, wahr sein, dann Gnade Gott diesem Typen. Von mir hat er jedenfalls keine zu erwarten.«
»Soll ich unserem unsichtbaren Freund mitteilen, wie wir vorgehen werden?« Greg hatte immer noch die letzte Nachricht auf seinem Bildschirm.
»Nein! Es schadet gar nichts, ihn oder sie etwas zappeln zu lassen. Anscheinend kann die Kontrolle ja nicht ohne unser Zutun übernommen werden.«
Die Nachricht verschwand von Gregs Monitor und eine neue Zeile baute sich auf.

WIR KÖNNEN DIE KONTROLLE ÜBER DAS SCHIFF AUCH OHNE EURE HILFE ÜBERNEHMEN. DAS DAUERT DANN EINEN TAG. IHR KÖNNT DIE PROZEDUR BESCHLEUNIGEN.

»Dieser Scheißkerl kann mithören!« Tom schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Situation gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hasste es, überwacht oder manipuliert zu werden.
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Greg. »Dieser Kommentar ist nur eine Folge unseres langen Schweigens. Er oder sie merken natürlich, dass wir die Systeme nicht abgeschaltet haben.«
»Kommt, machen wir uns auf den Weg. Du bleibst hier, Greg. Ich melde dir, wenn alle da sind, dann versuchst du wieder Kontakt nach draußen aufzunehmen.«
Greg nickte.
Die gesamte Raumschiffbesatzung jetzt, um diese nachtschlafende Zeit, zusammenzutrommeln, dauerte eine gute halbe Stunde. Da der Grund für die nächtliche Störung nicht bekannt war, beeilten sich die meisten nicht sonderlich. Auch kam von manchen Paaren nur ein Partner, in der Hoffnung, dies würde genügen, um die erforderlichen Informationen entgegenzunehmen und weiterzuleiten. Derek schickte sie alle wieder zurück, um ihre Gefährten zu holen.
Als endlich alle versammelt waren, blickten manche Bordmitglieder erwartungsvoll, andere aber auch ungehalten auf den Captain.
»Es tut mir leid, wenn ich euch den Sinn dieser Zusammenkunft nicht sofort verraten kann. Wir müssen zuerst ein paar Tatbestände klären. Habt bitte etwas Geduld, dann erfahrt ihr, worum es geht.«
Daraufhin gab er Greg über die Kommunikationseinheit das Signal, dass alle versammelt seien. Die folgenden Minuten verliefen weitgehend still, nur hin und wieder tuschelte jemand. Eine Aura der Bedeutsamkeit umgab die nächtliche Szene, eine Spannung, die jeden Unterhaltungsversuch im Keim erstickte. Endlich kam Gregs Rückmeldung: »Er antwortet! Es ist niemand vom Schiff. Er reagiert detailliert auf meine Fragen. Das können keine vorprogrammierten Antworten sein. Er hat sogar vorausgesehen, was wir vorhaben.«
»Bleib wo du bist, Greg. Ich melde mich wieder.« Der Captain stand auf.
»Liebe Freunde, unsere Lage hat sich heute Abend vollständig geändert. Fünfeinhalb Jahre lang sind wir davon ausgegangen, die einzigen Menschen in unserem Universum zu sein. Unseren Heimatplaneten, die Erde, glaubten wir zerstört. Nun haben wir eine Nachricht erhalten. Eine Nachricht, die eindeutig von außerhalb des Schiffes kommt. Der Unbekannte nennt sich Andreaz Vukinokz. Er grüßt uns – und zwar von der Erde aus.«
Derek machte eine kleine Pause, doch niemand unterbrach die Stille.
»Der Unbekannte fordert uns auf, alle Systeme abzuschalten, da er und seine Leute die Kontrolle über das Schiff übernehmen möchten. Er will über diesen großen Monitor hier auf der Brücke Kontakt zu uns aufnehmen. Und er behauptet, wir alle seien morgen wieder auf der Erde!«
Weiter kam er nicht. Tumult brach los. Viele waren aufgesprungen und riefen wild durcheinander.

»Wir sind mehr als fünf Jahre geflogen! Wie können wir morgen auf der Erde sein?«
»Da macht sich einer einen schlechten Scherz mit uns!«
»Ich habe es gewusst! Ich habe immer gewusst, die Erde ist nicht zerstört. Ich habe es euch gesagt, aber keiner hat auf mich gehört!«
»Vielleicht sind es gar keine Menschen! Vielleicht sind es andere Wesen! Sie wollen uns in ihre Gewalt bringen!«
»Wir dürfen ihnen auf keinen Fall die Herrschaft über das Schiff überlassen!«
»Greg muss sofort dafür sorgen, dass sie keinen Einfluss auf unsere Programme nehmen können.«
»Ich möchte wieder auf die Erde. Ich will hier raus. Ich glaube dem Unbekannten.«
»Sie sollen sich zeigen, dann sehen wir, wer es ist und ob es die Erde noch gibt!«
»Die Erde existiert noch. Stellt euch das vor! Meine Familie, meine Kinder! Großer Gott, wie soll ich ihnen all das hier nur erklären?«

Derek überließ die Menge für eine Weile ihren Gefühlen, dann bat er wieder um Aufmerksamkeit: »Es bedeutet natürlich ein großes Risiko, dem oder den Unbekannten die Kontrolle über das Schiff zu gestatten. Sie haben uns mitgeteilt, sie könnten diese Kontrolle auch ohne unser Zutun erlangen, bräuchten dazu aber einen Tag. Wir wissen nicht, ob das stimmt. Vielleicht bluffen sie nur. Sie verschaffen sich Zugang zu unseren Programmen über harmlose Programmierzeilen, die in jedem Programm in regelmäßigen Abständen wiederkehren. Die einzige Möglichkeit, sie draußen zu halten, wäre, diese Zeilen alle zu löschen. Dies würde aber Wochen oder sogar Monate in Anspruch nehmen. Mit anderen Worten: Falls die Unbekannten tatsächlich die Fähigkeit haben, die Kontrolle über das Schiff zu übernehmen, können wir sie nicht daran hindern. Ich schlage deswegen vor, wir warten ab, ob sie wirklich diese Macht haben, wie sie behaupten. Wir warten einen Tag. In dieser Zeit versuchen wir, so viel wie möglich über die oder den Unbekannten herauszufinden. Wir haben die Erde fünf Jahre lang nicht wiedergesehen. Sollte sie tatsächlich noch existieren, dann kommt es auf diesen einen Tag auch nicht mehr an.«
»Aber selbst wenn sie existiert: Wir sind in einem vollkommen anderen Teil des Universums. Wir bräuchten fünf Jahre, um zurückzukehren. Dieses Phantom da kann nur lügen, wenn es behauptet, wir wären morgen wieder auf der Erde! Und wenn es in dieser Beziehung lügt, dann auch in anderer!«
Dieser Einwand aus einer der hinteren Reihen löste wieder lautstarke Unruhe aus. Ein solch schlagkräftiges Argument konnte niemand widerlegen. Auch dämpfte es bei manchen die wie Bambussprösslinge emporgeschossene Hoffnung gewaltig.
Terence stand auf und räusperte sich.
»Es gibt eine ganz triviale Möglichkeit, die die Behauptung dieses Unbekannten, der sich als Andreaz Vukinokz ausgibt, rechtfertigen könnte: Wir haben die Erde nie verlassen. Alles, was wir während der letzten Jahre erlebt haben, jeder einzelne Tag, war eine gigantisch angelegte Simulation, die mit unserem Start begann. Vielleicht sind wir nichts anderes als Versuchstiere in einem monumentalen Experiment gewesen, dessen Aufgabenstellung heißen könnte: Wie lange kann eine geschlossene Gesellschaft von zweiundachtzig Personen im Weltraum überleben, wenn es für sie keine Rückkehr gibt?«
Terences Worten folgte Stille. Die Ungeheuerlichkeit seiner Theorie musste sich erst einen Weg in das Bewusstsein der Zuhörer bahnen. Diesmal sprang niemand auf, es gab auch kein Geschrei. Wie gelähmt verharrten alle auf ihren Sitzen. Schließlich wagten doch einige Anwesende zögernde Einwände.
»Das können sie doch nicht machen. Wir sind doch keine Versuchskaninchen!«
»Und unsere Familien? Was haben sie unseren Familien erzählt? Wenn sie behauptet haben, wir hätten freiwillig bei diesem Experiment mitgemacht, dann bringe ich jeden einzelnen um, der auch nur das Geringste mit dieser Schweinerei zu tun hat!«
»Das kann ich nicht glauben! Sie hätten doch Freiwillige für ein solches Experiment nehmen können!«
»Vielleicht ist ein wichtiger Bestandteil der Aufgabenstellung, dass die Teilnehmer tatsächlich glauben, die Erde sei zerstört. Wir mussten durchhalten, wir hatten keine Wahl. Hätten wir gewusst, dass alles nur ein Experiment ist, dann hätten wir vermutlich schon lange auf Abbruch gedrängt.« Terence hatte gründlich über seine Theorie nachgedacht.
»Für ein solches Experiment gibt es keinerlei moralische Rechtfertigung. Sie haben unser Leben und das unserer Familien zerstört. Und das nur, um wissenschaftliche Daten zu erhalten?«
Derek ergriff wieder das Wort: »All das ist lediglich eine These. Aber es bringt uns im Augenblick nichts, uns Mutmaßungen hinzugeben. Warten wir besser ab, was morgen geschieht. Gehen wir in unsere Wohnungen. Wir können im Moment nichts anderes tun.«
Zusammen mit Melanie verließ er den Raum. Langsam und zögernd folgten die anderen. In dieser Nacht würde sicherlich niemand ein Auge zutun. Denn keiner konnte sich der auch noch so schwachen Hoffnung entziehen, vielleicht doch die Erde wiederzusehen: Auf natürlichem Gras spazieren gehen, mit einem Boot auf einem echten See fahren, am Strand entlanglaufen oder zusammen mit vielen anderen Menschen über einen bunten Markt bummeln. Unweigerlich stellten sich auch Gedanken an die auf der Erde zurückgelassenen und totgeglaubten Familien ein. In dieser festen Annahme war man hier auf dem Raumschiff neue Partnerschaften eingegangen, hatte sogar wieder Nachwuchs bekommen. Wie sollten Eltern ihren inzwischen um fünf Jahre älter gewordenen Kindern auf der Erde erklären, wo Vater oder Mutter solange gewesen waren? Und überhaupt: Zu wem würde man denn jetzt gehören? Zu den neuen Partnern oder zu der früheren Familie? Eigentlich zu beiden, aber wie ließe sich eine solch schwierige Situation meistern?
Schweigend kehrten auch Terence und Franka in ihre Wohneinheit zurück. Franka fühlte sich, als ob ihr soeben jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Sie schwebte über einem Abgrund und hatte das Gefühl, jederzeit hinabstürzen zu können. Vielleicht lebte Victor noch! Victor und ihre beiden kleinen Mädchen, die inzwischen neun Jahre alt wären! Plötzlich sah Franka ihre Gesichter wieder so deutlich vor sich wie damals vor fünf Jahren, kurz nach dem Start. Möglicherweise würde sie nun zwei Familien haben, die sie beide liebte. Was sollte sie nur tun?
Als ob er ihre Gedanken lesen könnte wusste Terence genau, was in Franka vorging. Auch ihn hatte eine kalte Angst umklammert. Ein Leben ohne Franka, ohne seine Kinder konnte er sich nicht vorstellen. Falls ihn Franka verließ, um zu Victor zurückzukehren, dann würde sie die Kinder mitnehmen. Niemals würde sie Malcolm und Amy im Stich lassen – und er könnte es nicht über sich bringen, die beiden für sich zu beanspruchen. Also würde er allein zurückbleiben. Unaufhaltsam breitete sich Eiseskälte in seinen Gliedern aus, er begann zu zittern.
Als sie wieder in ihrer Wohnung angekommen waren, wollte er Franka anbieten, nach den Kindern sehen. Aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Stattdessen stieß er ein eigenartiges Geräusch aus, fast wie ein Schluchzen. Das riss Franka aus ihrer Verzweiflung. Entsetzen und ein tiefes Schamgefühl überkam sie. Die ganze Zeit hatte sie nur an sich gedacht. Gleichzeitig aber stand Terence vor dem gleichen Abgrund, vor genau den gleichen Fragen und Ängsten. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie ihn niemals verlassen konnte. Sie schlang die Arme um ihn.
»Ich liebe dich, Terence! Ich werde immer bei dir bleiben! Zwar weiß ich nicht, wie wir diese verzwickte Situation lösen sollen, aber wir werden das gemeinsam schaffen. Das verspreche ich dir.«
Terence drückte sie fast schmerzhaft fest an sich. Über seine Wangen liefen Tränen, und nun weinten er und Franka gemeinsam.
»Ich kann nicht ohne dich leben. Nicht ohne dich und nicht ohne die Kinder«, schluchzte er.
»Das musst du nicht! Die Kinder und ich, wir verlassen dich niemals!«
»Ich könnte diese Bestien umbringen! Alle, die an diesem Komplott beteiligt sind! Wie kann man so menschenverachtend mit dem Schicksal von zweiundachtzig Menschen spielen? Ich würde es vorziehen, dir nie begegnet zu sein, als dich jetzt verlieren zu müssen. Denn dann könnte ich wenigstens weiterleben.«
»Du verlierst mich nicht. Ich habe es dir versprochen. Lass uns jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Vielleicht sind ja alle unsere Sorgen sowieso unbegründet!«
Doch so recht glauben konnten Terence und Franka das nicht. Beide waren tief in ihrem Inneren davon überzeugt: Diese eingeschleuste Nachricht hatte Andreaz Vukinokz von der Erde aus gesandt.
Malcolm und Amy schliefen friedlich, ohne um das Damoklesschwert zu wissen, das über ihren Köpfen schwebte. Franka und Terence betrachteten die sorglosen kleinen Gesichter: Malcolms meistens leicht geöffneter Mund mit einer Zunge, die immer etwas zu groß zu sein schien, Amys lange, geschwungene Wimpern, die nun beim Träumen leicht bebten wie der Flaum eines kleinen Vogels im Windhauch.

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