Das Gewicht der Leere - Kapitel 21

 


Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

»Du musst irgendwo einen Fehler gemacht haben!« Toms Stimme klang gepresst. Seine Frustration ließ ihn unvorsichtig werden. Greg einen Fehler vorzuwerfen, das hätte er unter normalen Umständen niemals gewagt
»Du kannst es ja selbst machen, wenn du meinst, du kannst es besser!«, gab Greg denn auch sofort erbost zurück, allerdings bei weitem nicht so heftig, wie es in einer solchen Situation eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Denn auch Greg war gerade ratlos, und das verunsicherte ihn.
Der Raumgleiter war nach einem halben Jahr Planung und zwei Jahren Bauzeit endlich fertig geworden, einschließlich aller Programme. Tom wollte ihn testen. Alice hatte Tom zwar angefleht, dies sein zu lassen, hatte ihn beschworen, wenn schon nicht an sie, so doch an seine Kinder zu denken.
»Ich mache das gerade für unsere Kinder!«, widersprach Tom. »Jede Sekunde kann eine Reparatur an der Außenhülle notwendig werden. Unser aller Überleben wird davon abhängen, ob ich dann ausreichend mit diesem Gerät vertraut bin. Auch sollen unsere Kinder nicht ihr Dasein in einem Raumschiff fristen. Wir finden unseren blauen Planeten, und dann muss einer von uns aussteigen, um zu überprüfen, ob wir uns dort niederlassen können!«
Der Raumgleiter war in einen Teil des Werkstattdecks gebracht worden, von dem aus eine Schleuse in die Kammer vor der Außenluke führte. Auf Schienen wurde der Gleiter von vier Männern vor die erste Schleusentür bewegt. Nachdem sich die Tür automatisch geöffnet hatte, schoben die Männer den Gleiter in die dahinterliegende Kammer. Sobald die Luke wieder geschlossen war, konnte die Kammer evakuiert werden. Denn erst ab einem bestimmten Unterdruck in der Kammer ließ sich die Tür nach außen öffnen und der Gleiter wurde dann mehr oder weniger in den dahinterliegenden leeren Weltraum gesogen. Natürlich war das Gefährt an einem Stahlseil befestigt. Sollte etwas schief gehen, konnte es manuell wieder hereingezogen werden. Alles war sorgfältig durchdacht und berechnet worden. Aber nun öffnete sich die Außenluke nicht! Tom saß im Gleiter in der bereits evakuierten Kammer und wartete darauf, ins All hinauskatapultiert zu werden. Der Ablauf des von Greg programmierten Ausstiegs war bisher problemlos abgelaufen.
»Es hat keinen Zweck! Es muss an der Tür liegen. Für das Programm lege ich meine Hand ins Feuer. Der Mechanismus in der Luke muss einen Fehler aufweisen. Zieht Tom in die Schleuse zurück. Die Techniker sollen sich die Tür anschauen.«
Alle Passagiere hatten von der Brücke aus das Ereignis beobachten wollen. Der große Monitor, der sonst die inzwischen vertraut gewordenen Sternbilder ihrer neuen Galaxie zeigte, war auf Schleuse und Außenkammer umgeschaltet worden. So hatten alle mitverfolgen können, wie der erste Teil der Aktion programmgemäß abgelaufen war. Der Raumgleiter, ein entfernt an ein U­Boot erinnerndes Gefährt, konnte zwei Menschen aufnehmen. Doch Tom hatte darauf bestanden, den ersten Ausflug allein zu machen. Es sei nicht nötig, das Leben von gleich zwei Personen zu riskieren, falls etwas schief gehen sollte, meinte er. Allerdings hatte Alice dieses Argument vehement zurückgewiesen.
»Du kannst es nicht ertragen, diesen Augenblick mit jemandem zu teilen!«, warf sie Tom vor.
»Doch, mit dir stelle ich mir das herrlich vor! Aber willst du im Fall einer Katastrophe unsere Kinder allein zurücklassen?«, konterte er und nahm ihr damit den Wind aus den Segeln.
Nun, zumindest heute verließ niemand das Raumschiff. Alle waren enttäuscht, sogar die Kinder, obwohl sie nicht so recht verstanden, was da vor sich ging. Sie waren dazu ja noch viel zu klein. Aber sie hatten die Spannung gespürt, und nun übertrug sich auch die Enttäuschung auf sie. Einzig Alice atmete erleichtert auf. Nachdem der Gleiter wieder im Inneren der Werkstatt war, verließen die Zuschauer die Brücke und machten sich wieder an ihre Arbeit. Terence trug den schlafenden Malcolm zurück in die Wohneinheit. Mit seinen anderthalb Jahren hatte ihn das ganze Treiben nicht interessiert. Ebenso wenig Malcolms Schwester Amy, die schon vorher geschlafen hatte und die sie in der Wohnung in ihrem Bettchen zurückgelassen hatten. Von einem zwei Monate alten Baby konnte man kaum etwas anderes erwarten.

Es gab inzwischen acht Kinder auf dem Schiff. Larissas Tochter war mit beinahe zwei Jahren die Älteste. Eine Genanalyse hatte Karel als den Vater der kleinen Nora entlarvt, sehr zum Ärger von Michelle, die sich nach ihrem Misserfolg bei Terence mit Karel zusammengetan hatte. Nun lebte Karel mit Larissa und seiner kleinen Tochter zusammen.
Als zweites Kind an Bord wurde Alices und Toms Sohn John geboren, zwei Wochen später folgte Melanies und Dereks Tochter Sue-Ann. Danach bekamen Vasili und Susanne die kleine Tamara, beinahe gleichzeitig Franka und Terence ihren Sohn Malcolm. Als John ein Jahr alt war, erhielt er einen kleinen Bruder: Winston. Momentan die jüngsten Crewmitglieder waren Frankas und Terences Tochter Amy mit zwei Monaten und Susannes und Vasilis Sohn Juri, der vor sechs Wochen geboren worden war. Damit schien die Folge von Geburten nun allerdings abgebrochen zu sein, derzeit war keine der Frauen schwanger. Es gab an Bord immer noch viele Leute, die das Raumschiff für keine geeignete Umgebung für Kinder hielten. Und natürlich fanden sich, genau wie früher auf der Erde, auch Paare, bei denen es mit einem Kind einfach nicht klappte.
Alle Mütter auf dem Schiff gingen auch weiterhin ihren anspruchsvollen Betätigungen nach. Die kleine Gemeinschaft konnte es sich nicht leisten, auf die Kompetenzen mancher ihrer Mitglieder zu verzichten. Möglich wurde das durch ein rollierendes Kinderbetreuungssystem, bei dem sich sämtliche Väter und Mütter tageweise abwechselten und, jeweils zu zweit, alle Kinder hüteten. Auch einige der Kinderlosen beteiligten sich an den Betreuungsaufgaben, einfach deswegen, weil ihnen der Umgang mit Kindern Spaß machte. Auf dem Wohndeck waren vier Wohnungen zu einer großen Einheit verbunden worden, das war der Kindergarten. Da die Erwachsenen vollkommen unterschiedliche Auffassungen von ihrer Rolle als Eltern hatten, gestaltete sich jeder Tag für die Kinder zum Abenteuer. Gleichzeitig lernten sie von Anfang an, alle Menschen an Bord des Raumschiffes als ihre Familie zu betrachten. Nicht selten war Amy auf Sofias oder auf Muhammeds Arm zu finden.

Terence und eine ganze Reihe anderer begaben sich nun auf das Werkstattdeck. Tom war bereits aus dem Raumgleiter ausgestiegen. Zwei Techniker machten sich startklar. Die Arbeit an der Luke war ein ziemlich gefährliches Unterfangen, da sich die Spezialisten in die Außenkammer begeben mussten, die dann evakuiert wurde. Bis jetzt war es nicht gelungen, voll funktionsfähige Raumanzüge herzustellen. Das Einzige, was derzeit zur Verfügung stand, waren Behelfsanzüge, mit denen ein Außenaufenthalt von maximal fünf Minuten unter Weltraumbedingungen möglich war. Während dieser Zeit dehnte sich der Anzug unaufhaltsam aus, bis er schließlich zerplatzte. Dies war laut Berechnung nach elf Minuten der Fall. Durch ständiges Absaugen von Kohlendioxid und dem Einspeisen von Atemluft musste der Druck im Anzug aufrechterhalten werden. Das gelang jedoch nur unzureichend, nach ungefähr fünf Minuten wurde die Lage für den Träger gefährlich, da der innere Überdruck in den Blutgefäßen diese zum Platzen bringen konnte.
Nun hatten die beiden Techniker die Schleuse passiert und sich an der Innenseite der Außenwand, direkt neben der Türfuge, festgeklinkt, da sie sonst hinaus ins Freie gesaugt worden wären, sobald sich die Luke öffnete. Die Experten begannen sofort, die Wandverkleidung abzumontieren und den Türmechanismus freizulegen.
Ihre Beobachter konnten alles durch eine kleine Sichtscheibe verfolgen. Viel war allerdings nicht zu erspähen, da der Schauplatz des Geschehens weitgehend durch die beiden in ihren ausladenden Anzügen steckenden Gestalten verdeckt wurde. Fast komisch mutete diese Pantomime an, immer wieder unterbrochen durch kurze Kommentare über die Helmmikrofone. In der schwerelosen Außenkammer hielten Magnetschuhe die Menschen auf dem Boden.
Die Innenverkleidung war in einer knappen Minute abgebaut. Die eigentliche Türfuge stellte eine komplizierte Konstruktion aus Stahlplatten und Dichtungen dar, die wie die Zähne eines etwas unregelmäßigen Zahnrades in das gegengleich ausgeformte Profil der Tür griffen. Die Techniker mussten eine Dichtung nach der anderen entfernen. Nach drei Arbeitsgängen war ihre verfügbare Zeit verstrichen. Während sie aus der Kammer zurückkehrten, machte sich ein zweites Technikerteam bereit. 
Diese beiden Männer setzten die Tätigkeit ihrer Vorgänger fort. Sie hatten noch eine Dichtung zu entfernen, um den Mechanismus freizulegen. Darunter befand sich dann die letzte und äußerste Fuge. In einer halben Minute war auch sie freigelegt. Terence verfolgte mit Tom und Derek durch das Sichtfenster die Vorgänge. Bis jetzt hatten die Techniker konzentriert und zielstrebig gearbeitet. Plötzlich stellten sie wie auf ein Kommando hin ihre Arbeit ein und sahen einander an. Zwar konnte man durch die Scheibe ihre Gesichtszüge nicht erkennen, aber die ins Innere übertragenen Kommentare zeugten von der Überraschung der beiden Spezialisten.
»Das gibt es doch nicht!«
»Was sagst du dazu?«
»Will uns hier einer verarschen?«
Derek drückte auf den Kommunikationsknopf.
»Was ist los? Ihr habt nur noch zwei Minuten. Habt ihr den Fehler gefunden?«
»Allerdings, den Fehler haben wir gefunden!«, quäkte die verzerrte Stimme des einen Technikers aus dem Lautsprecher.
»Und? Könnt ihr ihn reparieren?«
Die Techniker lachten scheppernd. »Das können wir leider nicht! Wir kommen zurück.«
Ohne weitere Erklärungen wandten sich die beiden zur Schleuse. Fünf Minuten später hatten sie sich aus ihren Anzügen geschält.
Tom konnte seine Ungeduld nicht mehr beherrschen.
»Worin liegt denn nun das Problem? Warum öffnet sich die Luke nicht?«
»Ganz einfach: Die Luke geht nicht auf, weil sich an dieser Stelle der Außenwand überhaupt keine Luke befindet!«
Diese Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Captain so weit gefasst hatte, dass er erwidern konnte: »Was soll das heißen? Was meint ihr damit?«
»Wir meinen damit: Es gibt keine Fuge. Die Außenhaut der Rakete ist, jedenfalls an dieser Stelle, makellos glatt und ungeteilt. Falls Tom die Rakete verlassen will, dann jedenfalls nicht von hier aus, denn hier gibt es schlicht und einfach keine Tür!«
Fassungsloses Schweigen und betretene Blicke. Dann sagte der andere Techniker:
»Ihr braucht uns nicht so vorwurfsvoll anzusehen, wir können nichts dafür. Hier, an dieser Stelle, ist keine Tür, basta. Wenn ihr es nicht wahrhaben wollt, dann geht doch selbst raus!«
Sie mussten es also glauben, so schwer es ihnen auch fiel. Die fehlenden Raumgleiter und Raumanzüge sowie das nicht vorhandene Landungsprogramm konnten das Werk eines oder mehrerer missgünstiger Erdenbewohner sein, die einen Erfolg der Rettungsmission hatten verhindern wollten. Aber eine vorgetäuschte Tür? Zahllose Menschen waren am Bau der Rakete beteiligt gewesen. Jedem einzelnen von ihnen wäre eine fehlende Ausstiegsluke aufgefallen. Nein, diese Tür war absichtlich und wissentlich weggelassen worden, auf oberste Anweisung hin.
»Machen wir Schluss für heute!« Dereks Stimme klang müde. »Wir müssen gründlich über die veränderte Lage nachdenken. Ich werde für morgen Abend eine Generalversammlung im Casino einberufen. Dort besprechen wir unsere Situation.«
Bedrückt zerstreute sich die kleine Gesellschaft. Derek, Tom und Terence strebten der Computerzentrale zu, die sich mehr und mehr zu einem Hauptquartier entwickelt hatte, da fast alle wichtigen Entscheidungen mit Computerprogrammen zusammenhingen. Greg sah ihnen erwartungsvoll entgegen. Er hatte nichts von den Vorkommnissen in der Werkshalle mitbekommen.
»Nun, konnte die Luke repariert werden?«, fragte er gespannt.
»Welche Luke?«
Toms lakonische Antwort ließ den Programmierer aufhorchen. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er nacheinander die drei Männer.
»Falls es dir eine Beruhigung ist: Es liegt nicht an deinen Programmen. Kein Programm kann eine Tür öffnen, die es gar nicht gibt.«
Derek ließ sich erschöpft auf Frankas Sitzschale fallen.
Greg musste sich erst fassen.
»Machst du Witze?«
Die Blicke der drei anderen waren Antwort genug. Lange Zeit herrschte Stille.
»Warum?«, knurrte Tom schließlich. »Was hat das alles für einen Sinn? Ich verstehe die Welt nicht mehr.«
»Machen wir Schluss für heute. Gehen wir alle nach Hause. Spielen wir mit unseren Kindern. Vielleicht fällt uns dabei etwas Vernünftiges ein. Ich habe das Gefühl, wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann verliere ich den Verstand«, sagte Terence. Entschlossen ging er zur Tür und verließ den Raum. Zögerlich folgten ihm die anderen. Nur Greg blieb vor seinen Bildschirmen sitzen. Lange dachte er nach. Dann begannen seine Finger über die Tastatur zu fliegen.

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