Schaltjahr - Kapitel 1

 





Mona Kim Bücher Schaltjahr Roman

Eingebettet in grüne, sanft gewellte Wiesen lag das kleine Dorf Birkenbach in der Vormittagssonne. Keine Wohnblocks oder gar Hochhäuser verschandelten das idyllische Bild. Nur Einfamilienhäuser mit glänzenden roten Dächern reihten sich an die kleinen Straßen und Gassen und jedes stand in seinem eigenen, wohlgepflegten Garten. An vielen Stellen zeugten ehemalige Stallgebäude, nun genutzt als Garagen oder Aufbewahrungsorte für die Apfel-, Birnen- und Zwetschgenernte, von ehemaliger Landwirtschaft. Die wenigen aktiven Bauernhöfe, die es noch gab, wurden als Nebenerwerbsbetriebe am Leben erhalten.

365 Seelen, genauso viele, wie das Jahr Tage hat, lebten hier vereint. Allerdings war von diesen nichts zu sehen. Zu dieser Stunde hielten sich die meisten Erwachsenen vermutlich an ihren Arbeitsplätzen in den umliegenden Städten auf. Die Kinder waren, je nach Alter, in der Schule oder im Kindergarten. Beides gab es an diesem Ort nicht. Zwar erhob sich die ehemalige Dorfschule als größtes Gebäude in der Mitte der kleinen Gemeinde, aber sie stand bis auf die Hausmeisterwohnung im Obergeschoss leer. Auch die wenigen Hausfrauen oder Rentner zeigten sich nicht.
Von nun an würden es 366 Seelen sein, ein Schaltjahr sozusagen. Allerdings hoffte Rena auf einen länger als ein Jahr dauernden Aufenthalt. Schließlich hatte sie sich hier ein Haus gekauft. Obwohl die Bezeichnung »Haus« fast etwas zu großartig klang für die kleine Kate, die sie vor vier Wochen spontan erstanden hatte. Ihre Freunde hatten den Kopf geschüttelt und sie für verrückt erklärt. Es war nur eine weitere in der Reihe von Verrücktheiten, die Rena ihnen in letzter Zeit zugemutet hatte. Keiner konnte verstehen, was sie an diesem gottverlassenen kleinen Dorf anzog. Sie wusste es ja selbst nicht. Vor Jahren einmal waren sie, auf dem Weg in den Skiurlaub, durch dieses Dorf gekommen, um einem Stau auf der Autobahn zu entgehen. Im Vorbeifahren hatte Rena sich die kleinen, gepflegten Anwesen rechts und links von der Hauptstraße angesehen und gedacht: »Wie schön es hier ist, hier möchte ich gerne wohnen!« Damals war es ein Wunsch ohne jede Absicht auf Verwirklichung gewesen, der bei ernsthaftem Nachdenken zahlreiche Nachteile offenbart hätte, die ein solcher Wohnort mit sich bringt. Aber nun hatte sie diesen Wunsch tatsächlich in die Tat umgesetzt. Als sie vor der Entscheidung stand, wo sie sich niederlassen wollte, war ihr plötzlich das kleine Dorf wieder eingefallen und sie hatte gedacht: »Warum nicht dort? Es ist so gut wie jeder andere Ort.«
Mit einem solchen Ziel vor Augen war alles viel einfacher. Rena konnte die Zeitung der Gegend erwerben und die darin angebotenen Immobilien sondieren. Genau das hatte sie auch getan und war dabei auf die kleine Annonce gestoßen:

Bauernhofkate, 80 qm, 2 Stw, renoviert,
Grdst. 5 Ar, Stellpl., VB 220.000 €

Unter einer privaten Telefonnummer hatte sich eine Frauenstimme gemeldet. Die Kate war noch zu haben und ein Besichtigungstermin wurde vereinbart. Blumengasse 7, schon die Adresse gefiel Rena. Ungern hätte sie in einer Industriestraße oder einer Wehrstraße gewohnt.
Alfred und Marlies Kreutzer, die Besitzer der Kate, waren Rena auf Anhieb sympathisch. Herr Kreutzer, Sohn eines Landwirts, arbeitete nun als Elektriker in einer großen Baumaschinenfabrik. Sein ruhiges, zurückhaltendes Wesen und sein nettes, spontanes Lachen nahmen Rena sofort für ihn ein. Seine Frau Marlies war, obwohl noch weit unter sechzig, wegen eines schmerzhaften Bandscheibenleidens frühpensioniert. Doch auch sie hatte einen heiteren, ausgeglichenen Charakter und trug ihre Beschwerden ohne Jammern. Erst im Laufe der Besichtigung wurde Rena darauf aufmerksam, da Frau Kreutzer offensichtlich beträchtliche Mühe hatte, die steile Treppe zum ersten Stock der Kate hochzusteigen. Dieses Leiden war auch der Grund gewesen, warum die Eheleute aus der Kate, in der sie bis vor einem halben Jahr noch selbst gewohnt hatten, in das Erdgeschoss eines großen modernen Zweifamilienhauses gezogen waren. Ursprünglich hatten sie das neue Haus ja für ihre Kinder gebaut, nachdem eine Wiese zu Bauland geworden war. Für ihre Kinder und zur Anlage des für die Wiese erzielten Geldes. Doch die Kinder hatten diese Fürsorge nicht zu schätzen gewusst. Der Sohn baute sich, auch im Dorf, ein Haus nach seinen eigenen Vorstellungen, und die Tochter war in das Nachbardorf gezogen, in dem die Familie ihres Ehemannes zu Hause war.
Nun also bewohnten die Kreutzers die Erdgeschosswohnung selbst. Alle Zimmer auf einem Stockwerk zu haben brachte für ein Rückenleiden große Vorteile. Doch sie waren nicht gerne umgezogen. Man sah es den sehnsüchtigen Blicken an, die sie in jedes Zimmer der Kate warfen, ehe sie Rena hineintreten ließen. Zwar ließ sich das Alter des Häuschens nicht verleugnen, aber es war sehr gepflegt und liebevoll renoviert. Im unteren Stockwerk gab es eine große, vollständig eingerichtete Küche – hurra, eine Wohnküche! –, ein kleines Wohnzimmer und ein kleines Schlafzimmer. Das dritte Zimmer war zu einem modernen Badezimmer umgebaut worden, mit Badewanne, Dusche und Waschbecken. Dafür beschränkte sich das ehemalige winzige Badezimmer nur noch auf eine Toilette, für die allerdings in dem kleinen Raum reichlich Platz vorhanden war. Eine schlichte Eichenholztreppe führte in das obere Stockwerk. Dort gab es zwei weitere kleine Zimmer, je eines rechts und links der Treppe, mit steilen, schrägen Wänden, der Neigung des Katendaches angepasst. Beide Räume erhielten ihr Licht durch kleine Fenster am Giebel und etwas größere und offensichtlich neu eingesetzte an den Dachflächen. Ja, im ganzen Haus waren die Fenster erneuert und alle Holztüren mit cremefarbenem Lack gestrichen worden. Das massive Eichenholzparkett in Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer war abgeschliffen und neu eingelassen worden, während Bad, Toilette und Flur mit hellen, modernen Fliesen ausgelegt waren.
Schon auf den ersten Blick hatte sich Rena in die kleine Kate verliebt.
Falls sie vorgehabt hätte, den Preis herunterzuhandeln, hätte sie das wohl nicht so deutlich zeigen dürfen. Aber das wollte Rena gar nicht. Handeln war sowieso nicht ihre Stärke und zu feilschen empfand sie schlicht als peinlich. Auch hätte Rena es nicht übers Herz gebracht, an diesem wunderschönen kleinen Haus gezielt nach Mängeln zu suchen und damit die Gefühle der Besitzer zu verletzen, nur um einen Preisnachlass herauszuschlagen. Eigentlich war ihr die Kate von den Kreutzers nicht verkauft, sondern wie ein geliebtes Haustier zu treuen Händen übergeben worden. Und Rena hatte versprochen, gut darauf aufzupassen.

Das war vor vier Wochen gewesen und nun war Rena hier. Frühestens in ein paar Stunden konnte der Möbelwagen mit ihren wenigen Besitztümern hier eintreffen. Rena hatte das Einladen überwacht und war dann losgefahren, nachdem sie den Möbelpackern je einen Zehneuroschein in die Hand gedrückt hatte, für ein Vesper. Sicher ließen sich die beiden reichlich Zeit. 
Ihren alten Peugeot parkte Rena auf dem überdachten Stellplatz neben der Eingangstür, holte einen Korb aus dem Kofferraum und die Hausschlüssel aus ihrem kleinen Rucksack. Ganz plötzlich wurde sie von einem Gefühl der Hochstimmung erfasst: Das war IHR Haus! Es gehörte ihr ganz allein! 
Oben auf dem Treppenabsatz, direkt vor der Tür, so dass Rena sie nicht übersehen konnte stand eine große Vase mit einem wunderschönen Tulpenstrauß. Ein Zettel war daran befestigt:

Herzlich willkommen!
Viel Glück im neuen Heim wünschen Ihnen Marlies und Alfred Kreutzer.
Wenn Sie Lust haben, kommen Sie heute Abend auf ein Glas Wein herüber! Acht Uhr?

Rena konnte sich schon vorstellen, die unerwartete Einladung anzunehmen. Die Kreutzers hatten keinen aufdringlichen Eindruck gemacht. Es war eine freundlich gemeinte Einladung, damit Rena sich nicht an ihrem ersten Tag im neuen Heim einsam fühlen würde. Auch dieses Argument hatten ihre Freunde benutzt, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Du wirst vor Einsamkeit die Wände hochgehen!« Das war gut möglich. Alleine zu sein musste Rena erst lernen nach zwanzig Jahren in einem Vier-Personen-Haushalt. Ob sie allerdings in der Großstadt weniger mit Einsamkeit zu kämpfen hätte, bezweifelte sie. Und sie bezweifelte auch, ob in einer Großstadt jemand sie an ihrem ersten Abend in einer neuen Wohnung zu sich auf ein Glas Wein eingeladen hätte.
Rena schob den Gedanken an Einsamkeit zur Seite, räumte die Vase aus dem Weg und schloss die Tür auf. Voller Erwartung betrat sie die Kate. Leere Häuser versprachen so viel. Alles war noch möglich, Entscheidungen waren noch nicht gefallen. 
Unzählige Male schon hatte Rena die Räume in Gedanken eingerichtet: Der große Pinienholztisch würde wunderbar in der geräumigen Küche Platz finden. Mit einer passenden Eckbank oder bequemen Stühlen konnte sich Rena eine einladende Sitzecke vorstellen. Die schöne schwarzrote Leder-Sitzecke gehörte natürlich ins Wohnzimmer. Ebenso der glänzende alte Holzschrank, das einzige Erbstück von Renas Oma, in dem die Enkelin ihre Musikanlage und den kleinen Fernseher aufbewahrte. Für das Wohnzimmer musste Rena noch Möbel besorgen. Vielleicht einen kleinen Tisch und einen Teppich? In jedem Fall Bücherregale! 
Der Rundgang führte Rena ins ehemalige Schlafzimmer. Von Anfang an hatte sie beschlossen, diesen Raum zu ihrem Arbeitszimmer zu machen. Zum Schlafen brauchte Rena wenig Platz, da genügte ihr eines der kleinen Dachzimmer, aber arbeiten konnte sie nur in einem größeren Raum, mit viel Licht und Bewegungsfreiheit. Prüfend schaute sich Rena um. An die Wand links der Tür konnte sie den Schreibtisch stellen, ergonomisch richtig platziert, damit ihre Bildschirme nicht das durchs Fenster einfallende Licht reflektierten. Der Aktenschrank und ihr sonstiges Arbeitsmaterial passten gut an die Wand hinter der Tür und ein Regal an die Seitenwand. Befriedigt verließ Rena den Raum wieder. Für ihr Arbeitszimmer war alles vorhanden, da Roman auf keines dieser Möbelstücke Anspruch erhoben hatte. 
Rena stieg die Holztreppe hinauf ins Obergeschoss. Sofort erkor sie das rechte Zimmer zu ihrem Schlafzimmer. Durch das Giebelfenster schien jetzt die Vormittagssonne, die später zum Dachflächenfenster weiterwandern würde. Auch ein Bett musste sich Rena noch besorgen, doch vorerst genügte eine Matratze auf dem Boden. Aber auf jeden Fall würde sie diese und später das Bett direkt unter das Dachflächenfenster schieben. Bei klarem Wetter konnte sie so nachts die Sterne sehen. 
Das linke und letzte Zimmer war als Gästezimmer und für all die vielen Dinge, die zu jedem Haushalt gehörten, aber nur selten Anwendung fanden, bestens geeignet. Viele Gäste würde Rena kaum zu beherbergen haben. Die halbherzigen Versprechen, sie bald zu besuchen, hatte Rena nicht so ernst genommen. Ihre ehemaligen Freunde hatten mit den üblichen Loyalitäts-Konflikten zu kämpfen. Da Rena diejenige war, die gegangen war, lag die Sympathie eindeutig auf Romans Seite. So schnell würde sich also kaum jemand hierher verirren.
Erfüllt von einem unerwartet heftigen Glücksgefühl, stieg Rena die steile, enge Treppe wieder hinunter. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr voller Zweifel an ihrer Entscheidung, mit der sie die vorherigen Jahre der schleichenden Unzufriedenheit endlich hatte beenden wollen, war sie plötzlich überzeugt davon, doch das Richtige getan zu haben. Wie viele schlaflose Nächte und ruhelose Tage hatte sie diese Entscheidung gekostet! Jetzt aber fühlte sie sich wie von einer schweren Krankheit genesen: noch etwas schwach, aber eindeutig auf dem Weg der Besserung. Auch verspürte sie Appetit, ein in letzter Zeit eher seltenes Gefühl.
Durch das Wohnzimmer trat Rena hinaus auf die kleine Terrasse. Auch diese war ein Grund gewesen, sich sofort in das Anwesen zu verlieben. Zur Straße hin war die Sicht durch hohe Bäume verdeckt, aber die beiden anderen Seiten boten einen herrlichen Ausblick auf die Hügel und Wiesen, die hinter dem Dorf begannen und sich so weit erstreckten, wie das Auge reichte, bis sie am fernen Horizont durch den Waldrand begrenzt wurden. In ihrem saftigen Frühlingsgrün waren die Wiesen eine Wohltat für die Augen. 
Rena holte aus dem Kofferraum ihres Autos die Einzelteile eines kleinen runden Gartentisches und schraubte die Beine an die Tischplatte. Auch einen Klappstuhl hatte sie mitgebracht. Es war unglaublich still. Außer dem Zirpen der Grillen und ein paar Vogellauten war kaum etwas zu hören. Ganz schwach drang aus der Ferne das Motorengeräusch fahrender Autos bis zu ihrem Sitzplatz und aus der anderen Richtung die hellen Stimmen spielender Kinder. Leider hatte Rena noch keinen Liegestuhl, sonst hätte sie es sich hier im Schatten der Bäume gemütlich gemacht.
Doch selbst bei vorhandenem Liegestuhl wäre der Mittagschlaf ausgefallen, denn jetzt drang von der Gasse her das dumpfe Brummen eines nahenden Lastwagens. Ihre Möbel kamen!
Die beiden überraschend zierlichen Möbelpacker trugen ein Stück nach dem anderen ins Haus und stellten es nach den Anweisungen ihrer Auftraggeberin ab. Auch die ordentlich beschrifteten Umzugskartons ließ Rena direkt in das Zimmer tragen, in dem ihr Inhalt zukünftig aufbewahrt werden sollte. Nach knapp zwei Stunden schon waren die Helfer fertig und zogen, mit einem großzügigen Trinkgeld versehen, zufrieden ab.
Rena hatte keine Lust, Kisten auszupacken. Das war einer der Vorteile des Alleinelebens: Niemand konnte sie zwingen, etwas zu tun, was sie gerade nicht tun wollte! Keine missbilligenden Blicke, keine versteckten oder offenen Aufforderungen! Nur der Lebensmittelkiste nahm Rena sich sofort an. Den Kühlschrank hatte Frau Kreutzer umsichtig eingeschaltet. 
Und dann legte Rena sich auf ihre Matratze und war nach wenigen Minuten eingeschlafen.

Als Rena erwachte, lag ihr Schlafzimmer im Schatten, während sie durch die offenen Türen das im hellen Sonnenlicht erstrahlende Gästezimmer sehen konnte. Die auf die andere Seite des Hauses weitergewanderte Sonne erweckte in ihr den Eindruck, ewig geschlafen zu haben. Ein Blick auf ihre Armbanduhr relativierte diese Einschätzung auf zwei und eine halbe Stunde. Kaffeezeit! Mit neuer Energie hüpfte Rena wie ein Teenager die Treppe hinunter und suchte nach der Kiste, in der sich ihre Kaffeemaschine befand. Mit Mühe hievte Rena das schwere Gerät aus der Verpackung und suchte auf der Küchenarbeitsplatte nach einem geeigneten Platz. Nachdem Kaffeebohnen und Wasser in die dafür vorgesehenen Behälter eingefüllt waren, stand einer belebenden Tasse Cappuccino nichts mehr im Wege. Allerdings verspürte Rena plötzlich Lust auf etwas Süßes zum Kaffee! Kurz entschlossen griff sie sich ihren Geldbeutel, den Hausschlüssel und eine Stofftasche und verließ das Haus in Richtung Dorfmitte, wo es einen kleinen Laden gab, der nach den Versicherungen der Kreutzers alles führte, was man zum Überleben brauchte. Hoffentlich brauchten die Dorfbewohner Quarktaschen zum Überleben. Rena liebte Quarktaschen!
Bei ihrem Eintritt in den kleinen Edeka-Laden bimmelte eine altmodische Glocke, die jeden Besucher ankündigte und es der Inhaberin erlaubte, sich bei Kundenmangel um ihren Haushalt zu kümmern. Die drei an der Kasse versammelten Personen brachten den sowieso schon übervoll gestopften Laden an die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit. Mit einem schnellen Blick musterte Rena die Anwesenden: eine Frau in den Vierzigern, deren Position hinter der Kasse sie als die Inhaberin auswies, eine Kundin - Rena schätzte sie ebenfalls auf Anfang vierzig - und ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, offensichtlich deren Tochter. Die Mutter allerdings verblüffte Rena. So gar nicht passte sie in diesen kleinen bescheidenen Dorfladen. Zu ihrer tiefgebräunten Haut, dem blondierten und gekonnt frisierten Haar, der überschlanken Figur und dem sorgfältig geschminkten, hübschen Gesicht hätte eher ein Golf- oder Tennisplatz gepasst. Auch ihre Kleidung kaufte diese Frau sicher nicht von der Stange. Plötzlich wurde sich Rena ihrer verwaschenen Jeans und ihres alten, formlosen T-Shirts überdeutlich bewusst. Neben der Eleganz dieser Frau wirkte beides plump und schäbig. Auch die Tochter zeigte schon das selbstsichere Auftreten, das ein Aufwachsen in gesicherten finanziellen Verhältnissen hervorbringt. Allerdings sah das Mädchen wohl dem Papa ähnlich: Zwar war es ebenfalls groß und sehr schmal, aber das dunkle, lange Haar und das ovale Gesicht hatte sie eindeutig nicht von der Mama geerbt.
Die drei Menschen sahen Rena so erwartungsvoll an, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als sich vorzustellen.
»Guten Tag! Mein Name ist Rena Walter. Ich habe die Kate der Familie Kreutzer gekauft und werde von heute an hier im Dorf wohnen.«
Spontan streckte ihr die Ladeninhaberin die Hand entgegen.
»Herzlich willkommen! Marlies hat schon von Ihnen erzählt. Sie werden sich bei uns sicher wohlfühlen. Ich bin Hilde Hausmann und betreibe den Laden hier. Ich hoffe, ich kann Sie hin und wieder als Kundin begrüßen. Die meisten kaufen inzwischen ja im Supermarkt in der Stadt ein, bloß weil es dort ein paar Cent billiger ist, und kommen nur noch, wenn sie etwas vergessen haben. Wenn ich dann meinen Laden dichtmachen muss, weil mir die Schulden über den Kopf wachsen, dann ist das Theater groß! Aber Sie werden tagsüber wahrscheinlich gar nicht da sein. Sie gehen sicher in der Stadt arbeiten?«
Das eindeutige Fragezeichen hinter dieser Bemerkung konnte Rena schwerlich ignorieren.
»Ich arbeite zu Hause«, antwortete sie deshalb.
Diskretion und Taktgefühl schienen nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften Frau Hausmanns zu gehören. Ungeniert fragte sie: »Zu Hause? Was machen Sie denn?«
»Ich schreibe Computerprogramme.« 
Das brachte ihr einen Blick ein, in dem sich Achtung und Misstrauen mischten.
»Computerprogramme! Um Gottes willen. Ich weiß bei einem Computer nicht, was vorne und hinten ist. Das Teufelszeug kann mir gestohlen bleiben. Mir reicht schon meine Kasse hier. Ich sage ihnen: Das Ding lebt und ärgert mich absichtlich!«
Die fremde Frau und Rena grinsten sich bei dieser Äußerung amüsiert an. Das Mädchen hatte gespannt der Konversation gelauscht und rief nun: »Mutti, hast du gehört! Computerprogramme! Das müssen wir Pascal erzählen!«
Nun streckte auch die Mutti Rena die Hand entgegen und stellte sich und ihre Tochter vor: »Ann-Katrin Griesser, herzlich willkommen! Das ist meine Tochter Mona.« Auch Mona gab Rena die Hand. »Pascal ist mein Sohn«, fuhr die hübsche Frau dann erläuternd fort. »Er hat gerade das Abitur hinter sich und fängt im Herbst an, Informatik zu studieren. Computer sind seine Leidenschaft.«
»Wo studiert er denn?«, fragte Rena höflich.
»In München. Zum Glück haben wir jetzt eine kleine Wohnung für ihn gefunden. Seit Wochen fahren wir jedes Wochenende nach München und schauen uns welche an. Sie glauben nicht, was sich manche Leute erdreisten, als Wohnung anzubieten! Und zu welchen Preisen!«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. München ist ein teures Pflaster.«
»Wo haben Sie denn studiert? Oder kann man Computer programmieren auch anders lernen?«
»Ich habe an der Universität Hagen studiert.«
Rena unterließ es, zu erklären, dass die Universität Hagen eine Fernuniversität ist und sie ihr Studium, bis auf gelegentliche Praktika, sozusagen in den eigenen vier Wänden absolviert hatte. Es hätte nur weitere Fragen provoziert und sie hatte keine Lust, noch mehr Fragen zu beantworten.
»Hagen, das ist in Norddeutschland, nicht wahr?«
Rena nickte. Zum Glück war Frau Griessers Zeit begrenzt.
»Kind, wir müssen uns beeilen! Du kommst zu spät zur Reitstunde, wenn wir hier noch weitere Zeit vertrödeln.«
Frau Hausmann nahm dies als Aufforderung, mit dem Eintippen der Preise fortzufahren. Mutter und Tochter packten ihre Waren in die mitgebrachten Körbe und verschwanden, nachdem Ann-Katrin Griesser Rena noch über die Schulter zugerufen hatte: »Auf Wiedersehen! Leben Sie sich gut ein!«
Nun konnte sich Rena aus der kleinen Auswahl Gebäckstücke etwas aussuchen. Quarktaschen gab es keine, aber sie erstand ein »Flammendes Herz«. Morgen würde sie weitere Einkäufe tätigen. Prinzipiell hatte sie schon vor, hier am Ort einzukaufen und war jederzeit bereit, etwas mehr auszugeben, wenn sie sich dadurch einen weiteren Weg ersparen konnte. Letztendlich aber würde es davon abhängen, wie neugierig Frau Hausmann war. Rena mochte nicht ausgefragt werden. In diesem Fall würde sie die Anonymität eines Supermarktes vorziehen.



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