Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Mittwoch, 2. Mai 2007
An diesem kalten und regnerischen Maimorgen legte Krister ganz besonderen Wert darauf, pünktlich um acht Uhr an der Universität zu sein:. Heute war der erste Arbeitstag der neuen Kollegin. Arun und Bernd hatten sie als ruhig und kompetent beschrieben, er vertraute ihrem Urteil.
»Nomol so a Quasselstripp wie di, hed i ned ertraga!«, zog Bernd Irene auf. »Du schwätsch au gnuag fir zwoi.«
Empört warf ihm Irene ihr Mousepad an den Kopf, was Bernd mit fröhlichem Lachen quittierte.
Erst spät am gestrigen Abend waren Krister und Simone aus Paris zurückgekommen, und die anstrengenden Tage dort forderten prompt ihren Tribut: Krister hatte verschlafen. Trotzdem wäre er noch rechtzeitig ins Institut gekommen, wenn nicht in letzter Sekunde das Telefon geklingelt hätte: Kristers Vater. In Montana war es jetzt später Abend. Leonard Ullrik hatte seinen langen Arbeitstag gerade beendet und vermutete seinen Sohn um diese Zeit noch zu Hause. Kristers Vater war auch schon ein paar Mal nach Ulm gekommen. Die Donaustadt gefiel ihm sehr, und da er als gebürtiger Südschwede in der Schule Deutsch als zweite Fremdsprache gelernt hatte, freute er sich, wenn er seine Sprachkenntnisse hin und wieder etwas aufpolieren konnte.
Das Telefongespräch hatte Krister aufgehalten. Auch wenn er derzeit einige Tausend Kilometer von Montana entfernt lebte, nahm er regen Anteil an allem, was auf der Ranch vor sich ging. Bei diesen Gelegenheiten vergaß er die Zeit.
Pünktlich um acht Uhr war Hanna an ihrem neuen Arbeitsplatz eingetroffen und von Arun, Bernd und Irene freundlich empfangen worden. Besonders Irenes herzliche Begrüßung sorgte in kürzester Zeit für die ungezwungene Atmosphäre, die normalerweise bei der morgendlichen Kaffeerunde herrschte.
Auch Bernds erste Worte »Mir sagat fai elle ›du‹ zoanandr, ond dr Vornoma. Do musch de dro gwehna!« trugen einiges zur Entspannung bei.
Kristers Verspätung erstaunte seine Kollegen, da er normalerweise stets pünktlich war. »Wahrscheinlich hat ihn seine Staatsanwältin aufgehalten«, lästerte Irene.
Vor wenigen Wochen war Irene nämlich Krister in der Hirschstraße begegnet, als er in Simones Begleitung war, und er hatte seiner Kollegin die schöne junge Frau vorgestellt. Seitdem zog Irene ihn bei jeder Gelegenheit mit seiner neuen Errungenschaft auf. Da Bernd von Kristers Wochenende in Paris wusste, gab er Irene im Stillen recht und schlug vor, Hanna schon mal das Kellerlabor zu zeigen. Krister wusste ja, wo er sie finden würde, wenn er endlich eintrudelte.
Die Versuchsanordnung faszinierte Hanna. Natürlich hatte sie im Physikunterricht des Gymnasiums schon von Halbleitern gehört, aber dabei hatte es sich meist um anorganische Halbleiter aus Siliziumkristallen gehandelt. Organische Halbleiter steckten damals noch in den Kinderschuhen. Deshalb ließ Hanna sich alles genau erklären und stellte neugierig Fragen, wenn sie etwas nicht verstand.
Als Krister in die offene Tür des Labors trat, bemerkten ihn die anderen in ihrer Konzentration nicht sofort. Er nahm die Gelegenheit wahr, die neue Kollegin ungestört zu betrachten.
Mindestens zehn Zentimeter größer als Irene, die nur knapp einen Meter und sechzig Zentimeter maß, wirkte die junge Frau sportlich. Auch der zierliche Arun war etwas kleiner als sie. Das etwas über kinnlange, dichte Haar war rötlich-blond. Konzentriert lauschte die Neue Aruns Erklärungen. Dann plötzlich, als ob sie Kristers Anwesenheit gespürt hätte, drehte sie sich um und sah ihn an. Sie hatte ein schmales, interessantes Gesicht mit großen, dunkelbraunen Augen. Außerdem bemerkte Krister, dass ihr rechtes Ohr ein ganz klein wenig weiter abstand als das linke und oben einen kleinen Knick hatte. Er fand das auf eine seltsame Weise anrührend.
Freundlich hieß Krister die neue Kollegin willkommen. Irenes »Hat dich die Staatsanwaltschaft aufgehalten?« kommentierte er nicht. Dann überließ er Arun wieder die weitere Präsentation ihrer Arbeit und blätterte nebenher die mitgebrachte Post durch.
»Habt ihr Hanna schon ihr Labor gezeigt?«
Als die anderen verneinten, erhob sich Krister. »Ich gehe mit dir nach oben, denn ich habe sowieso einiges im Büro zu tun. Wir können kurz durchsprechen, worin deine Aufgabe besteht und wie du sie am besten anpackst. Ich muss dich aber gleich vorwarnen: Von uns kannst du nicht allzu viel Hilfe erwarten. In Chemie kennt sich keiner von uns übermäßig gut aus. Ich habe aber mit einem Chemiker aus der Organischen Chemie gesprochen. Er hat versprochen, dich zu unterstützen. Morgen Vormittag um zehn kommt er her. Da könnt ihr euch kennenlernen und er wird dir die chemische Seite unserer Forschung erklären. Er kann das besser als ich.«
Auf dem Weg nach oben fuhr Krister mit seinen Ausführungen fort: »Unser chemisches Labor liegt direkt angrenzend an mein Büro. Es ist sehr klein und es hat schon lange niemand mehr darin gearbeitet. Ich fürchte, du musst zuerst Ordnung schaffen und vor allem die Bestände ergänzen. Vermutlich fehlt es an allem Notwendigen. Wir haben überhaupt nur ein chemisches Labor, weil wir die Räume von der ehemaligen Organischen Chemie übernommen haben. Damals sind alle anderen Labors zu Büros umgestaltet worden. Aus irgendeinem Grund ist dieses dem Schicksal der übrigen entgangen. Vermutlich wurde es einfach vergessen. Vielleicht kannst du dich noch an den Uni-Brand vor acht Jahren erinnern? Die Räume, in denen wir jetzt unsere Büros haben, sind die einzigen, die von der damaligen Abteilung übriggeblieben sind. Alle anderen wurden vollständig zerstört.«
Hanna hatte von dem Unglück damals gehört. Ein achtloser Student hatte vergessen, seine Reaktionsapparatur abzuschalten und dadurch zwei Stockwerke eines ganzen Universitätsflügels verwüstet.
Mit langen Schritten und immer zwei Stufen auf einmal nehmend hatten sie inzwischen das zweite Stockwerk erreicht. Hanna konnte dank ihres Lauftrainings gut mit dem um einiges größeren Mann Schritt halten. Im Büro angekommen, öffnete Krister die Zwischentür.
»Es gibt natürlich auch eine Tür von deinem Labor direkt auf den Flur. Aber ich habe sie noch nie benutzt. Vermutlich ist sie abgeschlossen.«
Tatsächlich. Doch Kristers Schlüssel passte auch in dieses Schloss, als er versuchte, damit von innen die Tür aufzusperren.
»Ich werde für dich einen zweiten Schlüssel beantragen, damit du kommen und gehen kannst, wann du willst.«
Hanna sah sich im Labor um. Die Spuren der Vernachlässigung waren deutlich. Morgen würde sie erst einmal mit einer gründlichen Reinigung beginnen. Krister bat Hanna, in seinem gemütlichen Büro Platz zu nehmen. Dann suchte er aus einem Regal einen Ordner heraus.
»Ich habe hier ein paar Unterlagen über Acene. Die Sachen sind völlig ungeordnet und unvollständig. Du kannst dir ansehen, ob du etwas davon brauchen kannst. Ich hoffe, du kannst englische Texte lesen. Leider ist so gut wie alles auf Englisch.«
Hanna nickte und begann den Ordner oberflächlich durchzublättern. »Das ist alles ziemlich alt. Ich glaube, ich sehe mich lieber nach neueren Artikeln um. Ich brauche Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss, ein Drucker wäre auch nicht schlecht.«
»Du kannst vorerst meinen Laptop benutzen. Ich richte dir ein Benutzerprofil ein. Zur Literaturrecherche kann ich dir nicht viel sagen. Ich kenne mich auf den entsprechenden physikalischen Plattformen aus, aber bei allem, was Chemie betrifft, bin ich nicht wirklich sattelfest. Ralf Leutze, den du morgen kennenlernen wirst, kann dir da aber sicherlich helfen.«
»Ich glaube, das schaffe ich auch allein.«
Der leicht spöttische Unterton entging Krister nicht. Er musterte Hanna nachdenklich und fragte dann: »Warum hast du nicht Chemie studiert studiert? Bei deinem Abiturzeugnis wäre das doch überhaupt kein Problem für dich gewesen.«
»Ich hatte keine Lust dazu. So viel Zeit wollte ich nicht investieren.«
Krister ließ das Thema fallen. Im Lauf der Zeit würde er Hanna besser kennen lernen, und vielleicht bekam er dann erschöpfende Antworten auf all die Fragen, die ihn interessierten.
Inzwischen war es Mittag geworden und Bernd lud die ganze Mannschaft zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Seine Frau hatte es ihm aufgetragen. Sie wollte die neue Kollegin ihres Mannes ebenfalls kennenlernen.
»Do musch de dro gwehna«, meinte Bernd lakonisch, als er Hannas überraschten und leicht zweifelnden Gesichtsausdruck sah. »Mai Margret läd gern ebbr ei. Außrdem isch se neigierig.«
»Bernds Frau kocht super!«, schwärmte Irene. »Auch wenn man Bernd das nicht ansieht. Ich nehme schon zu, wenn ich nur an das gute Essen von ihr denke!«
Die drei Männer grinsten. Ständig kasteite sich Irene mit einer gerade in Mode gekommenen Diät, ließ sich aber auch ziemlich leicht zu einer Unterbrechung überreden.
Eingepfercht in Bernds Auto, einem Golf Kombi, fuhren sie nach Lehr, wo die Familie Kramer eine Doppelhaushälfte bewohnte. Die beiden Kindersitze waren von der Rückbank in den Kofferraum verbannt worden, um für Irene, Hanna und den schmalen Arun auf dem Rücksitz Platz zu machen.
Bernds Frau begrüßte herzlich ihre Gäste. Die beiden Kinder der Kramers, der vierjährige Patrik und die noch nicht zweijährige Sara, empfingen ihren Papa zärtlich. Dann zog Patrik Krister an der Hand in Richtung Kinderzimmer.
»I han a Lego-Ridderburg. Komm, i zoig’ se dir!«
Aber seine Mutter durchkreuzte Patriks Pläne: »Nach dem Essen! Jetzt begrüßt du erst mal anständig unsere Gäste und dann gehst du deine Hände waschen. Krister kann dir helfen, wenn er so nett ist.«
»Des ko i ja wohl alloi!«, entgegnete der Kleine empört.
Die leckeren selbstgemachten Maultaschen mit Kartoffelsalat schmeckten allen. Verstohlen musterte Patrik die Neue in ihrer Runde. Die anderen Gäste kannte er, die waren uninteressant. Hanna wusste, wie man mit kleinen Kindern umging. In dem Waisenhaus, in dem sie aufgewachsen war, hatte es immer welche gegeben, und von den Größeren war erwartet worden, sich um die Kleinen zu kümmern. Deshalb ignorierte sie den Jungen ganz bewusst – und stachelte damit umso mehr seine Neugierde an. Und richtig: Als die Mahlzeit beendet war und Patrik die Erlaubnis erhielt, aufzustehen, kam er zögernd zu Hanna und fragte: »Willsch mai Ridderburg au seha?«
Lächelnd nickte Hanna und folgte ihm und Krister ins Kinderzimmer. Die Prozession wurde noch kurz durch das Geschrei der kleinen Sara aufgehalten, die durch ein nachdrückliches »Au Ittbug!« keinen Zweifel daran ließ, was sie wollte. Sie streckte Hanna die Ärmchen entgegen, worauf diese sie aus dem Kinderstuhl auf den Arm nahm. Sara hatte offensichtlich nichts dagegen einzuwenden. Patriks genervtes: »Muss des sai? Dui macht emmr ällas he!« wurde überhört.
Als Patriks derzeit wichtigstes Spielzeug war die Ritterburg aus Legosteinen mitten im Zimmer aufgebaut. Krister ließ sich im Schneidersitz davor nieder, während Hanna die kleine Sara auf der gegenüberliegenden Seite der Burg auf dem Boden absetzte. Aufgeregt zeigte Patrik ihnen alle vorhandenen Geheimgänge und Falltüren. Dann baute er seine Lego-Ritter auf und zog mit Krister als dem Anführer der gegnerischen Armee in den Krieg. An dieser Schlacht konnte Hanna sich nicht beteiligen, da sie beide Hände voll zu tun hatte, um Sara von ihren zerstörerischen Mitspielversuchen abzuhalten. Kurzerhand holte sie vom Regal einen Eimer voller Duplo-Bausteine und baute damit Türmchen, die das kleine Mädchen fröhlich glucksend wieder umwarf. Das einfache Spiel machte beiden großen Spaß.
»Was für ein friedliches Bild. Ihr seht aus wie ein glückliches Ehepaar mit seinen zwei Kindern!« Margret war in der Tür aufgetaucht. Hanna blickte verlegen auf und erhob sich. Sofort begann Sara enttäuscht zu brüllen. »Jetzt ist es Zeit für deinen Mittagschlaf«, sagte Margret, nahm die Kleine auf den Arm und trug sie unter Protestgeschrei ins benachbarte Kinderschlafzimmer.
Patrik packte die Gelegenheit beim Schopf und zog Hanna zurück zur Ritterburg. Zwei Spielgefährten waren viel besser als einer. Er erklärte Hanna zu seiner Ritterfrau und ließ sie die entsprechende Legofigur in einem Raum der Burg deponieren, den er kurzerhand als Küche definierte. Hannas ironisch hochgezogene Augenbrauen ignorierte er, ebenso Kristers amüsiertes Grinsen.
Dann war es Zeit zum Aufbruch. Für Hanna war ihr erster Arbeitstag zu Ende. Allerdings musste sie an der Universität noch ihr Fahrrad abholen.
»Wie kannst du bei diesem Wetter mit dem Fahrrad fahren?« Schaudernd musterte Irene die tiefhängenden Regenwolken.
»Es ist wenigstens nicht kalt. Nur wenn es schneit oder glatt ist, fahre ich mit dem Bus.«
»Hast du denn kein Auto?«, fragte Irene ungeniert weiter.
»Ein Auto würde mir nicht viel nützen. Ich habe keinen Führerschein.«
Das konnte Irene nicht glauben. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, mischte sich Bernd ein: »Irene, isch dr scho amol dr Gedanke komma, dass du ziemlich aufdringlich bisch? Des got doch di en feichda Kerrichd o, worom d’Hanna lieabr mit am Fahrrad fehrd als mit am Bus odr’ ma Audo.«
Krister hatte aufmerksam zugehört, um die schwäbischen Feinheiten dieses Satzes zu erfassen. Ganz gelang es ihm nicht. »Was geht das Irene an?«, hakte er interessiert nach.
»En feichda Kerrichd. En Dreck. I wollt bloß ned so ordinär sai.«
Alle lachten. Gleich auf dem Parkplatz der Universität trennte sich Hanna von ihren neuen Kollegen. Bernd und Irene gingen direkt ins Kellerlabor, während Krister und Arun ihre Büros ansteuerten.
Kaum hatte Krister die Tür hinter sich geschlossen, rief Simone an und sagte voller Bedauern die gemeinsame Verabredung für kommenden Freitag ab. Sehr kurzfristig hatte die Staatsanwältin eine Einladung zu einem zweiwöchigen Seminar in Karlsruhe bekommen. Anfangs war kein Platz mehr frei gewesen, doch nun war jemand krank geworden und sie konnte nachrücken. Das Seminar war sehr wichtig, da unter anderem auch die Besichtigung des Bundesverfassungsgerichtes auf dem Programm stand und die Seminarteilnehmer im Rahmen der Abendveranstaltungen die Gelegenheit haben würden, verschiedene Richter persönlich kennenzulernen. Wenn Simone es schaffte, ein paar wichtige Kontakte zu knüpfen – und daran zweifelte sie keinen Augenblick –, konnte sich das auf ihre Karriere sehr positiv auswirken. Mit Krister verabredete sie sich für den Freitagabend in zwei Wochen.
Krister war deshalb nicht traurig. Er genoss Simones Gesellschaft, aber nach den gemeinsamen Tagen in Paris machte es ihm überhaupt nichts aus, sie jetzt eine Weile nicht wiederzusehen. An Simone dachte er eher selten, während er sich über Bernd, Irene, Arun und deren Familien häufig Gedanken machte. Und jetzt gehörte ja auch Hanna zu ihrer Truppe. Die neue Kollegin war ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt, er war gespannt darauf, sie kennenzulernen. Überrascht stellte er fest, wie sehr er sich darüber freute, Hanna am nächsten Tag wiederzusehen.
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