Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Freitag, 27. April 2007
Hanna joggte ihre gewohnte Strecke: auf der Neu-Ulmer Seite der Donau hinaus bis zur Friedrichsau, dann durch das ehemalige Gelände der Landesgartenschau und wieder zurück, diesmal aber auf der Ulmer Seite. Die insgesamt ungefähr zehn Kilometer lief sie fast jeden Tag. Nur ganz besonders schlechtes Wetter konnte sie davon abhalten. Es war halb sechs Uhr morgens und durch die Umstellung auf Sommerzeit noch fast dunkel.
Beim Laufen ließ sie ihre Gedanken schweifen. Am kommenden Mittwoch war ihr erster Arbeitstag als Chemisch-technische Assistentin an der Universität Ulm. Nur zwei ihrer zukünftigen vier Kollegen hatte sie bei dem Vorstellungsgespräch Ende Januar kennengelernt. Der eine hieß Dr. Arun Kanwar, der andere Bernd Kramer, der ein waschechter Schwabe zu sein schien. Ihn mochte Hanna auf Anhieb. Zwar hatte er nicht viel gesagt – Dr. Kanwar hatte das Gespräch dominiert –, aber die wenigen Worte, die Bernd Kramer in breitem Schwäbisch eingeworfen hatte, ließen ihn locker und sympathisch wirken. Dr. Kanwar war um einiges reservierter aufgetreten, was durchaus auch an der Sprache gelegen haben konnte. Offensichtlich war er ausländischer Herkunft – Hanna tippte auf Indien – und hatte langsam und sehr korrekt Deutsch gesprochen. Die Abwesenheit von Hannas zukünftigem Vorgesetzten Professor Ullrik, dem Leiter der kleinen Abteilung, hatten die beiden anwesenden Männer mit einem Sturm in Amerika begründet, der anscheinend den Flugverkehr lahmgelegt und damit die Rückreise des Physikers nach Deutschland verhindert hatte. Schon zwei Tage nach dem Gespräch hatte Bernd Kramer Hanna die Stelle telefonisch zugesagt.
In Gedanken versunken bemerkte Hanna die beiden Typen, die ihr den Weg versperrten, erst, als sie fast auf sie prallte.
»Hallo, Süße, wohin so eilig? Du hast doch sicher ein halbes Stündchen Zeit für uns?«
Der Größere von beiden hielt sie am Arm fest. Der andere lachte dreckig. Skinheads. In der Dämmerung, mit ihren kahlen Köpfen, ihrer Militärkleidung und den Springerstiefeln wirkten sie besonders bedrohlich. Blitzschnell riss sich Hanna los, tauchte unter dem erhobenen Arm des einen durch und sprintete den Weg entlang. Bis die beiden sich von ihrer Überraschung erholt hatten, war sie schon ein ganzes Stück weiter. Doch plötzlich stand ein Dritter vor ihr. Der allerdings machte keinen Versuch, sie aufzuhalten, sondern trat zur Seite. Beim Weiterlaufen hörte sie noch, wie er die beiden anderen wütend anpfiff.
Erst als Hanna Seitenstechen bekam, blieb sie keuchend stehen. Ihr Herz klopfte nicht nur vom Laufen. Gegen diese beiden Männer hätte sie keine Chance gehabt, das war ihr sofort klar gewesen. Hanna hatte freitags an dieser Stelle schon öfter Skinheads und Männer in Militärkluft bemerkt. In Zukunft musste sie diesen Wegabschnitt meiden und bereits vorher auf die andere Seite der Donau hinüberwechseln.
Hanna Berkheim wohnte in der Ulmer Weststadt im Dachgeschoss einer Villa, deren drei Stockwerke zu je einer Wohnung abgetrennt worden waren. Die oberste, Hannas Zuhause, war mit sechzig Quadratmetern Wohnfläche die kleinste. Das Haus hatte ein Walmdach, was zur Folge hatte, dass drei der vier Außenwände des Dachgeschosses schräg waren. Hannas Wohnungstür führte direkt in einen geräumigen offenen Raum mit schlichter, heller Einrichtung. Nichts war teuer, aber alles liebevoll und mit Geschmack zusammengestellt. Farbakzente gab es wenige, aber dafür umso wirkungsvollere: Rechts neben dem Bett stand an der durch den Einbau eines Badezimmers entstandenen geraden Wand ein alter Schrank aus Fichtenholz. In seiner Einfachheit hätte er bei niemandem Aufmerksamkeit erregt, wäre er nicht über und über mit einer blühenden Sommerwiese bemalt gewesen. Zwischen den leuchtend roten Mohnblumen erhoben sich schiefe Holzkreuze. Die verblüffend realistische Malerei vermittelte dem Betrachter das bedrückende Gefühl, den lauen Wind zu spüren, der sanft durch die Gräser strich und die Grabkreuze unbekannter Toter streichelte. Ein Konzert von Hannes Wader in der Ulmer Donauhalle hatte Hanna zu diesem Bild inspiriert.
»Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
Dort, wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blüh'n,
Da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht
Im Wind, der sanft über das Gräberfeld streicht …«
Der zweite bemerkenswerte Gegenstand in Hannas Wohnzimmer war ein Gemälde, das an der Wand hing, vor der sich ein Tisch befand. Ein braunes und ein weißes Pferd jagten unter einem schweren, wolkenverhangenen Himmel über eine weite Ebene durch strömenden Regen dahin. Man meinte, das Geräusch der Hufe auf der nassen Wiese zu hören, das Einsinken in das feuchte Erdreich bei jedem Hufschlag zu spüren, wenn man das Bild betrachtete.
Diese beiden Bilder und die Staffelei, die zwischen Esstisch und Kochnische vor einem Dachgaubenfenster aufgebaut war, zeugten von Hannas wahrer Leidenschaft: der Malerei.
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