Sie hatten sich den Film ›Green Mile‹ angesehen. Eine lebhafte Diskussion schloss sich an. Man konnte diesen Film nicht anschauen, ohne anschließend darüber zu diskutieren. Ging es zuerst nur um die Vorzüge und Schwachstellen des Filmes - alle waren sie natürlich von Tom Hanks begeistert und auch Michael Clarke Duncan bekam Bestnoten - so trat bald das Thema ›Todesstrafe‹ in den Vordergrund. Mit Erstaunen stellte Karin fest, dass die Frage, die sich ihnen stellte, nicht lautete: Todesstrafe – Ja oder Nein? Denn darüber waren sich alle einig: Die Todesstrafe gehört weltweit abgeschafft. Bei der Diskussion ging es stattdessen darum, wer die schlagkräftigsten Argumente für die Abschaffung der Todesstrafe vorbringen konnte. Lag es an der Zusammensetzung der Gruppe? Alle zählten sie zu den Intellektuellen: Klaus, der Physiker, Frank, ihr Mann, der von Beruf Diplomchemiker war, Jonas, der Psychiater, Ingrid hatte Forstwirtschaft studiert, Daniela war Richterin und Ingo Rechtsanwalt. Vier in dieser Runde hatten promoviert. Nein, es ging nicht um Ja oder Nein, sondern nur noch um Warum und wie man den Rest der Welt bekehren könnte.
Wie hätte Karin da eine andere Meinung vertreten können? Sie hatte schon Argumente, aber diese passten nicht in die sowieso seltenen Lücken, die noch vorhanden waren, wenn sich sechs Leute engagiert verbal austauschten. Zuerst einmal hätte Karin sich zu ihrer gegenteiligen Ansicht bekennen müssen. Sie war sich nicht sicher, ob ihr unter den herablassenden Mienen der Freunde noch alle Argumente, die sie in zahlreichen stummen Diskussionen mit sich selbst zusammengetragen hatte, eingefallen wären. Also hatte sie sich zurückgehalten.
Es war ein unerschöpfliches Thema, die Argumente schienen ihnen nicht auszugehen. Unschuldig Verurteilte, zu spät rehabilitiert; Journalisten, die als politische Gefangene verurteilt wurden; ein Wiederaufstehen der Nazikultur und die daraus resultierenden Gefahren für Juden und behinderte Menschen; Frauen, die hingerichtet wurden, weil sie kein Kopftuch trugen; und, und, und. Ingrid beklagte sich, sie dürfe nie ausreden, immer falle ihr jemand ins Wort. Da hatte Jonas eine Idee:
»Wisst ihr was? Wir treffen uns am Samstagabend zu einer Diskussion über die Todesstrafe. Wir machen es so: Jeder darf zuerst zehn Minuten lang ungestört seine Ansicht vortragen und erst dann wird diskutiert. Dann kann niemand mehr behaupten, er sei nicht zu Wort gekommen.«
Dieser Vorschlag fand große Zustimmung, wenn auch Frank meinte: »Zehn Minuten! Das sind bei sieben Leuten siebzig Minuten. Ich weiß nicht, ob ich solange zuhören kann.«
»Na, hör mal! Deine Kinder müssen jeden Tag sechs bis neun Stunden in der Schule zuhören. Da wirst du doch mal sechzig Minuten schaffen! Die restlichen zehn Minuten redest du ja selbst. Aber von mir aus: dann eben nur fünf Minuten!«
Man einigte sich auf fünf Minuten. Karin wusste selbst nicht, warum sie sagte: »Kommt zu uns! Machen wir das Ganze bei uns.«
Eigentlich war das nicht ihre Art, so einen Vorschlag zu machen. Es gab andere, die großen Wert darauf legten, solche Events bei sich stattfinden zu lassen.
Den ganzen Rest der Woche wich das bevorstehende Treffen nicht mehr aus Karins Gedanken. Unermüdlich feilte sie an ihrer Argumentation, trug Fakten zusammen, die ihre Ansicht untermauerten, machte sich Notizen. Doch je länger sie sich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr verließ Karin die Hoffnung. Die Freunde würden ihre Argumente nicht verstehen. Sie würden sagen: »Du hast ja in manchem recht, aber trotzdem ..., es ist menschenunwürdig ...«, und so weiter.
Doch am Freitagnachmittag kam Karin plötzlich eine Idee! Die Zeit war knapp. Stundenlang arbeitete sie, scannte Bilder, bearbeitete Texte. Anschließend deponierte sie ihr Werk im Gästezimmer, das ihr auch als Bügel- und Nähzimmer und als Arbeitszimmer diente. Den letzten Rest ihres Vorhabens konnte sie erst kurz vor dem ausgemachten Termin am Samstagabend erledigen. Wenn ihr Mann oder die Kinder das Zimmer vorher betreten würden, wäre die Überraschung verdorben.
Mehr oder weniger pünktlich um sieben am Samstagabend, trafen die Freunde nacheinander ein. Je nach Veranlagung und Beruf, hatten sie Notizen mitgebracht oder würden ihre Argumente lässig und redegewandt aus dem Stegreif vorbringen.
Natürlich wiederholten sich die Argumente der Vortragenden, schließlich war alles schon irgendwann gesagt worden. Auch Argumente, die für die Todesstrafe sprachen, wurden der Vollständigkeit halber vorgebracht, und: Ja, aber ... wieder verworfen. Es war so befriedigend. Der Grundkonsens wurde nicht angegriffen. Man fühlte sich unter Freunden und verstanden.
Karin hatte sich gleich zu Anfang erbeten, als Letzte zu sprechen. Vor Publikum zu sprechen, lag ihr nicht. Schon in der Schule hatte sie feuchte Handflächen und Herzklopfen bekommen, wenn sie zum Beispiel ein Gedicht oder einen Aufsatz vor der ganzen Klasse vortragen musste. Auch kamen Karin plötzlich Zweifel. Heute Nachmittag war sie noch so überzeugt gewesen, aber nun ... Am liebsten hätte sie das Ganze abgeblasen.
Doch plötzlich hörte Karin sich selbst, wie sie, beinahe gegen ihren Willen, sagte: »Ich habe meine Argumente ein wenig aufgearbeitet. Ihr müsst mitkommen, damit ich es euch zeigen kann.«
Verwundert folgten ihr die Freunde. Auch Karins Mann zog auf die fragenden Blicke der anderen hin nur die Augenbrauen hoch und zuckte unwissend mit den Schultern. Karin öffnete die Tür zum Gästezimmer und ließ alle eintreten.
Zuerst waren ein paar erstaunte Ausrufe zu hören, als die Freunde die Bilder sahen, dann herrschte Totenstille. Karin war an der Tür stehen geblieben und beobachtete die Reaktionen. Gisela rannte an ihr vorbei auf die Toilette. Die Geräusche ihres Erbrechens drangen durch die geschlossene Toilettentür. Alle Anderen verließen nach und nach mit bleichen Gesichtern den Raum.
»Du bist ja pervers!«, sagte Jonas. Dann gingen sie.
»Sag mal, bist du übergeschnappt?« Mit diesen Worten verzog sich Karins Mann in sein Arbeitszimmer.
Seltsam befriedigt betrat Karin ihren Demonstrationsraum. Die Wände waren mit Plakaten bedeckt. Insgesamt waren es sechs. Auf jedem Plakat war das Gesicht eines Kindes zu sehen. Die Bildunterschriften lauteten:
Susanne Kleinert, 6 Jahre alt, sexuell missbraucht und ermordet am 2.4.2001 von Paul Neumann. Paul Neumann war 1989 bereits wegen Mordes und Vergewaltigung eines vierjährigen Mädchens verurteilt worden. Zehn Jahre später war er wegen guter Führung und aufgrund eines positiven Gutachtens des Gefängnispsychiaters entlassen worden.
Angelika Berger, 9 Jahre alt, ermordet am 18.3. 2001 von Achim Schweizer, nachdem er sie zwei Tage lang im Keller seines Hauses gefangen gehalten, gefoltert und sexuell missbraucht hatte. Achim Schweizer war schon 1984 wegen Mordes an einer Fünfjährigen angeklagt worden, wurde aber mangels Beweisen freigesprochen. 1991 wurde er für den Mord an der sechsjährigen Julia Simons zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte für das Wochenende wegen guter Führung Hafturlaub erhalten.
Pascal Niederberger, 4 Jahre alt, ermordet am 2.5.2001 von Andreas Klein und Bernd Immig. Beide waren schon mehrmals wegen Körperverletzung verurteilt worden und galten als nicht resozialisierbar. Andreas Klein war im Alter von 15 Jahren wegen des bestialischen Mordes an seinem kleinen Bruder, er hatte ihn jahrelang vorher gequält, trotz seines damals jugendlichen Alters zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Nach 15 Jahren wurde er, nun 30 Jahre alt, entlassen. Er befand sich seit drei Tagen auf freiem Fuß.
Thomas Mannweiler, 12 Jahre alt, ermordet am 16.5.2001 von Clemens Wimmer. Clemens Wimmer war wegen vierfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Am 14. 5.2001 brach er aus der Haftanstalt aus, wobei er zwei Wärter und eine Mitarbeiterin der Gefängniswäscherei ermordete. Auf der Flucht traf er zufällig auf Thomas, der mit dem Fahrrad zur Schule unterwegs war. Er brach dem Jungen das Genick, um in den Besitz des Fahrrades zu kommen.
Gerda Pauling, 9 Monate alt, ermordet am 2.6.2001 von Anna und Henning Blaschke. Das Ehepaar Blaschke war schon mehrmals wegen Raubüberfalls und schwerer Körperverletzung verurteilt worden. Henning Blaschke war wegen eines Banküberfalls, bei dem der Zweigstellenleiter lebensgefährlich verletzt wurde, zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Zwei Wochen nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, überfiel er zusammen mit seiner Ehefrau Anna eine Zweigstelle der Raiffeisenbank, wobei sie eine ältere Kundin der Bank mit der Pistole niederschlugen. Die Frau erlag nach zweitägigem Koma ihren Verletzungen. Nach dem Verlassen der Bank tarnten sie sich auf ihrer Flucht vor der Polizei als harmlose Passanten, indem sie einen Kinderwagen, der vor einem Einfamilienhaus abgestellt war, einfach mitnahmen. Die darin liegende Gerda warfen sie, als sie anfing zu schreien, über ein Brückengeländer.
Michael Hausmann, 15 Jahre alt, ermordet am 28.6.2001. Michael wurde von einem Auto überfahren, als er mit dem Fahrrad auf dem Nachhauseweg von einer Konzertprobe war. Eine Alkoholkontrolle bei dem offensichtlich betrunkenen Fahrer Manfred Zollner ergab 3,8 Promille. Manfred Zollner war der Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer schon dreimal abgenommen worden. Beim letzten Mal hatte er eine hochschwangere Frau auf einem Zebrastreifen angefahren. Die Frau und das ungeborene Baby starben noch an der Unfallstelle. Der Fahrer war wegen eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit nur zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.
Alle Artikel waren Originalartikel aus verschiedenen Zeitungen, gescannt und stark vergrößert. Die Angaben stimmten. Karin hatte nur die Namen der Kinder geändert und die Todesdaten auf das aktuelle Jahr übertragen. Und natürlich hatte sie die Bilder ersetzt, für die sie Fotos gemeinsamer Ausflüge genommen hatte. Alles andere entsprach der Wahrheit.
Susanne Kleinert war die – natürlich noch lebende – Tochter des Physikers.
Angela war die Tochter des Psychiaters.
Pascal war der Sohn der beiden Juristen.
Thomas war der Sohn des Physikers.
Gerda war die Tochter der Forstwirtin.
Michael war ihr eigener Sohn.
Karin hatte gesagt, was sie zu sagen hatte, und keiner hatte »Ja, aber ...« gesagt.
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