Das Gewicht der Leere - Kapitel 20

 


Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Auf Anordnung des Captains hatten sich alle auf der Brücke versammelt. Obwohl es theoretisch nicht nötig war, den Gravitationssprung angeschnallt in den Sitzschalen der Kommandozentrale zu durchlaufen, wollte Derek doch kein Risiko eingehen. Denn vielleicht gab es Menschen an Bord, die plötzlich in Panik gerieten und dann versuchten, den programmierten Ablauf zu verhindern? Wenn das Gravitationsfeld im Aufbau war, konnte ein unkontrollierter Abbruch große Schäden anrichten. Außerdem wollte sowieso niemand in dieser entscheidenden Situation die Gesellschaft der Anderen missen. 
Terence hatte sich nicht auf seinen exponierten Platz neben dem Captain gesetzt, sondern einen Sitz neben Franka in der ersten Reihe gewählt und seinen eigentlichen Platz stattdessen Tom überlassen. Auch Tom war im Stillen der Meinung, Jörg habe auf der Brücke nichts verloren, und Alice hatte, als sie vom Vorhaben des Captains erfuhr, einen Wutanfall bekommen. Nur mit Mühe hatte Tom sie abhalten können, in Dereks Wohnung zu stürmen und ihm ihre Meinung zu sagen. Nun saß Alice mit verstocktem Gesicht neben Franka. Als Jörg in Begleitung von Kurt, dem Psychologen, den Raum betrat, ging ein Raunen durch die Menge und verlegene Blicke streiften Franka. Viele hatten Jörg inzwischen fast vergessen. Doch die kurze Sensation lenkte nur wenig von der angstvollen Spannung ab, die alle an Bord befallen hatte. Sie waren in Begriff, etwas zu tun, das noch nie vorher in diesem Umfang gewagt worden war. Ein viele Tonnen schweres Raumschiff mit Gravitationskraft in einen völlig anderen Bereich des Universums zu versetzen, das berechtigte durchaus zu einer gewissen Besorgnis.
Als alle angeschnallt waren, erhob sich der Captain.
»Nun sind wir am ersten entscheidenden Punkt unserer Reise angekommen. In wenigen Minuten werden wir den Sprung in einen anderen, bisher unerreichbaren Teil unseres Universums durchführen. Ihr werdet nichts spüren und nichts davon bemerken. Der einzige Beweis für den vollendeten Übergang wird das veränderte Sternenbild auf unserem großen Monitor sein. Die bis jetzt noch uns allen mehr oder weniger bekannten Sternbilder werden verschwinden und fremden, neuen Platz machen. Ihr habt diese neuen Sternbilder hier an der Wand bereits gesehen, denn der Erste Offizier hat euch schon vor einiger Zeit eine 360-Grad-Ansicht unserer zukünftigen Umgebung aus den Bildern der Kamera zusammengestellt, damit ihr euch bereits im Vorfeld ein wenig an den Anblick gewöhnen konntet. Nach vollendetem Sprung starten wir den konventionellen Antrieb wieder und beginnen den zweiten Teil unserer Reise, der uns zweieinhalb Jahre lang durch eine fremde Galaxis führen wird. Unser Ziel ist dabei eine Sonne, in deren Nähe wir auf einen bewohnbaren Planeten hoffen. Packen wir's an! Ich wünsche uns allen viel Glück!«
Auf Dereks Zeichen hin erhob sich Terence. Nur noch ein Knopfdruck, und von da an lief alles automatisch ab. Nach genau vier Minuten und fünfzehn Sekunden – so lange dauerte es, bis die Generatoren das Gravitationsfeld aufgebaut hatten – würde ein Raumschiff mit den letzten überlebenden Menschen des untergegangenen Planeten Erde an Bord diese Falte des Universums verlassen und auf eine andere überwechseln. Diese vier Minuten vergingen in absolutem Schweigen. Der Aufbau des Gravitationsfeldes war im Inneren der Rakete nicht wahrnehmbar. Das Geräusch, das die Kamera auf ihrem Weg hinaus ins Universum begleitet hatte, war durch den Feldaufbau der Laborgeneratoren hervorgerufen worden. Da sich die bedeutend leistungsstärkeren Generatoren des Schiffes an der Außenhaut der Rakete befanden, konnte man nun im Innern nichts hören. Die Gravitation war eine völlig lautlose Kraft, zumindest was die Dimensionen betraf, in denen sich die menschliche Wahrnehmung bewegte. Terence hatte sich allerdings schon oft gefragt, ob die Gravitation nicht in anderen, unbekannten Dimensionen einen riesigen Radau veranstaltete, ja vielleicht sogar Schaden anrichtete.
Alle hatten den Blick fest auf den Monitor geheftet. Fast gleichzeitig erschollen dann die Rufe:
»Wir sind da!«
»Die Sterne, sieh die Sterne, sie sind anders!«
»Es hat geklappt!«
»Ich habe überhaupt nichts gespürt!«
»Ich schon! So ein komisches Ziehen!«
»Mir ist schlecht!«
Alle schnallten sich los und sprangen begeistert auf. Terence kniete sich neben Frankas Sitz und küsste sie zärtlich.
»Wir haben es geschafft!«
»Du hast es geschafft! Es sind deine Berechnungen, die uns hierhergebracht haben!«
Sie lächelte ihn an, lehnte ihre Wange gegen seine, blieb aber sitzen. Denn sie hatte Jörg nicht vergessen und würde erst aufstehen, wenn er den Raum wieder verlassen hatte. Der Captain hatte Kurt angewiesen, Jörg unmittelbar nach erfolgtem Sprung wieder in seine Unterkunft zurückzubringen.

Seit eindreiviertel Jahren war Jörg Norford nun schon in seiner Wohneinheit isoliert. Kurt, der Psychologe, hatte die Betreuung des Gefangenen nach Irinas Weigerung alleine übernommen. Er suchte den Verurteilten jeden Tag auf. Sie spielten Schach und andere Spiele. Und natürlich unterhielten sie sich. Im Laufe der Zeit fanden sich auch einige andere Mitglieder der Besatzung dazu bereit, Jörg zu hin und wieder besuchen. Während des ersten halben Jahres hatte Jörg Norford immer betont, er sei vollkommen zu Unrecht eingesperrt worden. Auf eine von Franka initiierte Verabredung hin hätte er sich mit ihr im Fitnessraum getroffen. Auch beharrte er auf seiner Behauptung, sie hätten auch vorher schon oft in seiner Wohnung leidenschaftliche Liebesnächte verbracht. Kurt ließ ihn einfach reden. Nur wenn er Frankas angebliche sexuelle Fantasien im Detail schildern wollte, stoppte er ihn, indem er androhte, dann zu gehen.
Nach einem halben Jahr aber begann Jörg plötzlich umzuschwenken. Zuerst räumte er ein, vielleicht habe er ja Frankas Aufforderung missverstanden, vielleicht habe er in ihre Blicke und Gesten zu viel hineininterpretiert. Auch die heißen Zusammenkünfte in seiner Wohnung hätte er vielleicht nur besonders realistisch geträumt. Ein weiteres halbes Jahr dauerte es, bis ihn Kurt durch seine schier unermessliche Geduld so weit brachte, die Vergewaltigung einzugestehen. Aber immer noch machte Jörg die ungewöhnlichen Umstände an Bord für seine Tat verantwortlich. Er sah zwar Franka nicht mehr als Initiatorin für seinen Fehltritt an, aber er war noch weit davon entfernt, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Schließlich habe er fünfundvierzig Jahre lang auf der Erde gelebt, ohne jemals gegenüber einer Frau Gewalt angewendet zu haben. Bis Jörg Norford seine Schuld eingestand, war es ein langwieriger und schmerzlicher Prozess, da die Erkenntnisse, die er auf diese Weise über sich selbst gewann, für ihn schwer zu ertragen waren. Danach folgte eine Phase der Reue. Jörg Norford ekelte sich vor sich selbst. Er machte während dieser Zeit auch einen halbherzigen Versuch, sich die Pulsadern aufzuschneiden, doch der erste Blutstropfen, der hervorquoll, brachte ihn sofort wieder zur Vernunft. 
Nach einiger Zeit brachte Kurt dem Techniker kleine Baueinheiten mit, die er zusammensetzen konnte. Norford hatte an den Installationen für den Park und sogar an dem Raumgleiter mitgewirkt. Immerhin waren es seine Fähigkeiten als Techniker, die ihm den Platz auf dem Raumschiff eingebracht hatten. Die Besatzung konnte es sich nicht leisten, auf diese Kompetenzen zu verzichten. Außerdem wäre Jörg ohne diese Arbeit in Depression versunken. So aber konnte er sein angeschlagenes Selbstwertgefühl durch besonders sorgfältige Arbeit wieder aufbauen. Seit einem Vierteljahr durfte er sogar hin und wieder in einer der Werkstätten zusammen mit anderen Technikern und Ingenieuren an einem größeren Objekt arbeiten. Natürlich hatte Kurt vor diesem entscheidenden Schritt die Erlaubnis des Captains eingeholt. Die betroffenen Techniker und Ingenieure hatten versprochen zu schweigen. Nicht einmal Melanie war eingeweiht. Denn Derek wusste genau, dass Terence, Tom und Alice ihm diese Entscheidung sehr übel nehmen würden. Vor allem aber Franka. Derek hatte besonders ihretwegen lange gezögert, aber Kurt hatte ihn davon überzeugt, gerade im Hinblick auf Franka zuzustimmen. Denn irgendwann würden die fünf Jahre zu Ende gehen. Eine erneute Abstimmung würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Jörgs Freilassung zur Folge haben. Die meisten hatten den Vorfall ohnehin schon vergessen. Für Andere war der bloße Gedanke an den Gefangenen eine Belastung, die sie gerne loswerden wollten. Bis zu diesem Zeitpunkt also musste Jörg völlig resozialisiert sein, da eine Begegnung mit Franka früher oder später unausweichlich war.
Kurt hatte in Frankas Verbindung mit Terence große Hoffnungen gesetzt, die Entwicklung hatte ihm Recht gegeben. In zwei Jahren müsste auch Franka so weit sein, wenigstens vergeben, wenn auch nicht vergessen zu können. Jetzt war sie es noch nicht, der Captain hatte Kurt von ihrer Reaktion in Bezug auf seine Anordnungen vor dem Sprung berichtet. Dem Psychologen wäre es ebenfalls lieber gewesen, seinen Patienten nicht auf die Brücke bringen zu müssen. Der Anblick der anderen Menschen hatte diesen seine eigene Lage noch schwerer ertragen lassen. All die verlegenen Blicke, die sich sofort wieder von ihm abwandten, waren bestens dazu geeignet, Jörgs mühsam wieder aufgebautes Selbstwertgefühl erneut empfindlich zu stören. Prinzipiell hielt Kurt ihn inzwischen für resozialisiert. Auf der Erde hätte er ein entsprechendes Gutachten geschrieben und Jörgs Entlassung befürwortet. Hier aber, auf dem Raumschiff, ging das nicht. Zumindest nicht, solange Franka nicht damit einverstanden war. 

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