Das Gewicht der Leere - Kapitel 18

 


Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

»Das ist sehr sonderbar!«
Bereits den ganzen Tag lang hatte Greg vor sich hingemurmelt. Wenn Franka ihn ansprach, reagierte er kaum. Reihe für Reihe ließ er die Computerbefehle vor sich auf dem Bildschirm ablaufen. Nach oben und nach unten. Immer wieder kehrte er zu schon gelesenen Zeilen zurück.
»Was ist sonderbar?« Franka fragte nun schon zum x-ten Mal. Bisher hatte sie keine Antwort erhalten.
»Das versuche ich gerade herauszufinden!«, seufzte Greg.
»Aber irgendetwas muss es doch sein, was dich stört! Wenn alles in Ordnung wäre, würdest du kaum stundenlang vor dich hin brummen.«
Greg tippte zwei Ziffern in seine Kommunikationseinheit ein.
»Derek, komm mal in die Computerzentrale!«, sagte er knapp.
Der Captain ließ nicht lange auf sich warten. Ihm war klar: Gregs Kurzangebundenheit musste einen triftigen Grund haben. Denn Greg achtete normalerweise sehr auf Höflichkeit und ließ es dem Captain gegenüber nie an Respekt fehlen, auch wenn der Umgangston auf dem Raumschiff eher zwanglos war.
»Nehmen wir mal an, wir finden tatsächlich einen Planeten, auf dem wir landen können«, begann Greg, kaum dass Derek neben ihm stand. »Wie soll die Landung dann vor sich gehen?« 
»Wie meinst du das?«
Derek wirkte unschlüssig. Er konnte mit der Frage offensichtlich genauso wenig anfangen wie Franka.
»Die Landung! Erfolgt die manuell? Soweit ich mich erinnere, war doch ein automatisches Landeprogramm eingeplant, oder?«
»Natürlich gibt es ein automatisches Landeprogramm! Warum fragst du?«
»Ganz einfach: weil ich keines finde.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Genauso wie ich es sage: Die automatische Schiffssteuerung schließt keine Landung mit ein.«
»Das kann nicht sein! Ich habe das automatische Landungsprogramm im Simulator mehrmals getestet. Es hat immer reibungslos funktioniert.«
»Das mag schon sein, Derek. Aber leider haben sie vergessen, es auf diesem Schiff zu installieren.«
»Aber ich habe es doch von der Brücke genau dieses Schiffes aus getestet!«
»Dann hat jemand es wieder gelöscht.«
Derek und Greg musterten einander schweigend. Franka blickte verständnislos von einem zum anderen. Dann tippte der Captain seinerseits ein paar Ziffern in seine Kommunikationseinheit. 
»Terence, komm mal bitte in die Computerzentrale und bring Tom mit. Hua soll ihn kurz auf der Brücke vertreten!«
Bald standen sie zu fünft in dem kleinen Raum. Tom und Terence nahmen das, was Greg nun auch ihnen erklärte, schweigend auf. Sie fragten nicht ungläubig nach wie Derek, denn ihnen war von Anfang an klar, dass der Captain sie nicht gerufen hätte, wenn er an Gregs Erkenntnis zweifeln würde.
»Wir haben keine Raumgleiter, keine Raumanzüge und unser Schiff kann nicht landen!«, fasste Tom zusammen. »Was schließen wir daraus?«
»Es ist nicht ganz richtig, was du sagst. Wir können natürlich manuell landen. Es ist nur kein automatisches Landungsprogramm vorhanden.«
»Und vergessen wir nicht diese eigenartigen, an sich überflüssigen Programmzeilen, über die wir uns schon den Kopf zerbrochen haben!«, ergänzte Franka leise.
Die vier Männer sahen sie erstaunt an.
»Glaubst du, da besteht ein Zusammenhang?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls sind sie eigenartig. Und solange wir ihren Grund oder ihre Funktion nicht kennen, sollten wir sie nicht außer Acht lassen.«
»Das ist ganz sicher ein guter Gedanke! Wobei man aus der möglichen Verbindung der Phänomene auch andere Schlussfolgerungen ziehen könnte: Wir haben keine Raumanzüge und keine Raumgleiter, also können wir auch nicht landen, ergo: Wir brauchen kein Landungsprogramm!«
»Außer, wir finden einen in Hinsicht auf die Lebensbedingungen erdähnlichen Planeten.«
»Was sehr unwahrscheinlich ist.«
»Aber nicht auszuschließen.«
»Was mich stört, ist: Die Entwickler auf der Erde haben offensichtlich eine Landung nicht vorgesehen. Da sie aber den Sprung zu einer anderen Galaxis genau von hier aus bestimmt haben, kann ich daraus nur den einen Schluss ziehen: Wir werden in dieser Galaxis keinen geeigneten Planeten finden!«, meinte Terence zögernd.
»Aber warum schicken sie uns dann hierher?«
»Weil sie auch keine andere Galaxis gefunden haben, in der es für unsere Zwecke passende Planeten gibt!«
Entgeistert starrten alle Terence an.
»Wie konnten sie das wissen? Sie hatten doch gar nicht soviel Zeit, um alles abzusuchen! Du hast gesagt, den Gravitationsantrieb gab es zum Zeitpunkt unseres Starts erst seit fünf Jahren. Selbst wenn das Entwicklerteam auf der Erde in dieser Zeit keine geeignete Galaxis gefunden hat, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht eine entdecken werden.«
Tom war nicht so leicht bereit, sich seine Träume von einer neuen Welt nehmen zu lassen.
»Nein, natürlich nicht!«, musste Terence zugeben. »Aber wenn diese Galaxis hier keine geeigneten Lebensräume aufweist, dann ist die nächste noch einmal zweieinhalb Jahre Reisezeit entfernt. Und danach wird es noch schwieriger. Es gibt überhaupt nur fünf schwarze Löcher, die sich als die Gravitationsquelle einer Nachbargalaxis erweisen könnten. Leider ist der Mensch nicht sonderlich widerstandsfähig. Auf fast allen Planeten herrschen für unsere Begriffe äußerst ungemütliche Bedingungen. Die Wahrscheinlichkeit, einen zu finden, der in genau dem für uns menschliche Wesen richtigen Abstand um eine Sonne kreist und aus diesem Grund erdähnliche Temperaturen aufweist, ist wirklich extrem gering. Und dann muss es auch noch Sauerstoff und Wasser geben! Selbst wenn wir einen solchen Planeten finden sollten, nützen uns eine Atmosphäre aus Ammoniak und Meere aus halogenierten Kohlenwasserstoffen wenig.«
»Lass mich mit Wahrscheinlichkeiten in Ruhe! Auf der Erde ist Leben entstanden, obwohl auch die Wahrscheinlichkeit dafür, selbst bei Vorhandensein von Sauerstoff und Wasser, extrem gering war. Ich glaube auch weiterhin an eine neue Welt. Und wenn wir sie gefunden haben, dann will ich dort landen. Ich schlage vor, wir beschäftigen uns mit diesem Problem!«
Trotz des Ernstes der Lage mussten sie über Toms ungebrochenen Optimismus schmunzeln. Immerhin war genau er einer der Gründe gewesen, der Tom einen Platz auf dem Raumschiff eingebracht hatte.
»Angenommen, Terence hat recht. Dann verstehe ich aber trotzdem nicht, warum sie das ursprünglich vorhandene Landungsprogramm wieder gelöscht haben! Das ergibt einfach keinen Sinn. Es frisst uns doch nichts weg!«, gab Franka zu bedenken.
»Möglicherweise geschah das aus psychologischen Gründen. Wir sollen uns eben mit dem Gedanken vertraut machen, den Rest unseres Lebens im Raumschiff verbringen zu müssen. Vielleicht sind sie davon ausgegangen, dass wir nach Abschluss anfänglicher Gewöhnungsprozesse wieder aufnahmefähig für neue Probleme sind«, sinnierte Terence. »So ganz Unrecht hätten sie damit ja nicht. Stellt euch vor, wir hätten bereits einen Tag nach dem Start das Fehlen der Raumanzüge und der Gleiter festgestellt – und dazu vielleicht noch das gelöschte Landungsprogramm. Ich weiß nicht, ob wir das so einfach verkraftet hätten.«
Tom war dem Gespräch ungeduldig gefolgt. Er war mehr an den praktischen Konsequenzen interessiert.
»Könntest du die Landung programmieren, Greg? Vielleicht mit dem Simulationsprogramm für die Raumpilotenausbildung als Ausgangsbasis?«
»Danke für den schlauen Hinweis! Darauf wäre ich allein nicht gekommen!« Greg reagierte oft sarkastisch, wenn ihm jemand Vorschläge machte, die seine Programmierarbeiten betrafen.
»Entschuldige! Das war eine blöde Bemerkung. Aber zurück zu meiner Frage: Kannst du das?«
»Ich denke schon. Wird allerdings 'ne Weile dauern, selbst wenn ich mich mit nichts anderem befasse. Das heißt, Franka muss die Gleitersteuerung alleine übernehmen und sich auch noch das Programm für die Raumschiffsteuerung zu Gemüte führen. Dann haben wir die vorhandenen Programme durch. Zumindest, was die nächsten drei Jahre betrifft – und natürlich unter der Voraussetzung, wir folgen dem ursprünglich von den Entwicklern auf der Erde vorgesehenen Plan. Die Programme für Planänderungen habe ich noch nicht einmal angeschaut!«
»Wenn die verdammte Erde schon der Meinung war, wir würden auf unserem Weg keinen geeigneten Planeten finden, dann sollten wir vielleicht gerade von diesem Plan abweichen!«
Tom war sauer. Wenn es nach ihm ginge, dann würden sie das Raumschiff nur noch manuell steuern und sich nach einer eigenen Route umsehen.
»Das können wir uns im Augenblick nicht leisten, Tom«, beschwichtigte Derek. »Nicht mit unserer lückenhaften Ausrüstung und unserer beschränkten Expertise. Ich schlage vor, wir folgen weiterhin dem ursprünglichen Plan und sammeln auf diese Weise Erfahrung, zum Beispiel im Gravitationssprung. Du, Greg, befasst dich mit einem Landeprogramm, Franka mit dem Raumgleiter-Programm. Aber beides in etwas eingeschränktem Umfang. Es wäre mir recht, wenn ihr einen Teil eurer Aufmerksamkeit zusätzlich den noch unbekannten Programmen widmen könntet. Wer weiß, was da noch für Überraschungen lauern! Mein Vertrauen in die Entwickler auf der ehemaligen Erde ist etwas geschrumpft.«
Obwohl Derek seine Anordnung als Vorschlag formuliert hatte, stellte sie niemand in Frage. Bevor sie auseinandergingen, wetterte Tom noch: »Diese verdammten Bastarde! Es gab überhaupt keinen Grund dafür, das Landeprogramm zu löschen. Genauso wenig wie sich eine Erklärung dafür finden lässt, die Raumgleiter und Anzüge aus dem Schiff zu entfernen. Nur damit das ganze Zeug mitsamt der Erde in die Luft fliegt! Ich wette, das war dieser Programmierer! Der hat sich gesagt: Wenn ich nicht überlebe, braucht das auch kein anderer, und hat uns eigenmächtig ein paar Fallen gestellt!«
Franka und Greg hörten ihn noch auf dem Flur schimpfen, während Terence und Derek ihm schweigend folgten.
»An die Arbeit!«, sagte Greg und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Auch Franka blieb nichts anderes übrig, als sich in ihre neuen Aufgaben zu vertiefen.

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