Das Gewicht der Leere - Kapitel 17

 


Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Der von allen mit nervöser Spannung erwartete Augenblick gestaltete sich überraschend unspektakulär: Derek drückte nacheinander einige Knöpfe. Daraufhin erstarb das sanfte Geräusch des Antriebs, das in den vergangenen beiden Jahren ununterbrochen im Hintergrund zu hören gewesen war. Die plötzliche Stille legte sich wie ein dämpfendes Tuch auf die Gemüter. Dann begann jemand zu klatschen. Spontan fielen alle anderen ein und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, herrschte Feststimmung. Zwei Jahre lang hatten sie sich Millionen von Kilometern durch das All bewegt, nun waren sie hier. Auch wenn »hier« nur ein Punkt im unendlichen Universum war und sich in nichts von jedem anderen Punkt dort unterschied.

Es würde noch lange dauern, bis sie den ersten Sprung wagen konnten. Zuerst würden Kameras vorausgeschickt werden. Durch die Bilder wollten sie erfahren, ob diese Schwelle tatsächlich zum Übertritt auf eine andere, parallele Schleife ihres Universums geeignet war, wie die Berechnungen behaupteten. Sie mussten in einer Nachbargalaxis auftauchen, in erreichbarer Nähe eines vielversprechenden Sonnensystems. Sollten die von der Kamera zurückgebrachten Bilder erfolgversprechend aussehen, würde im nächsten Schritt eine Maus den ersten Sprung wagen. Tick, Trick und Track hatten sie die in den letzten Wochen von den Biochemikern aus dem vorhandenen Genmaterial gezüchteten Nager getauft, die in ihrem bislang noch kurzen Leben über alle Maßen mit Streicheleinheiten verwöhnt wurden – waren sie doch die ersten und einzigen Tiere an Bord. Melanies Enten für den Parkteich waren nicht genehmigt worden. Ein lebendiges Wesen nur allein der Erbauung wegen zu erschaffen, das hielt die Besatzung ethisch für nicht vertretbar.
Kehrten Tick, Trick und Track unbeschadet von ihrem Ausflug zurück, konnte es das Schiff mit seiner gesamten Besatzung wagen, dieses mutige Experiment durchführen. Wieder machte sich das Fehlen von Raumanzügen und Raumgleitern schmerzlich bemerkbar. Man hätte eine Vorhut vorausschicken können, das wäre dem Captain freilich sehr viel lieber gewesen. Die Einzige, die sich über das Fehlen der Ausstattung insgeheim freute, war Alice. Sie wusste genau, dass Tom es gewesen wäre, der sich freiwillig für diesen heiklen Expeditionsgang gemeldet hätte.
Francine und Jeremias hatten den Bau eines Raumgleiters sofort nach der Entdeckung des leeren Lagerraumes in Angriff genommen. Aber das Projekt gestaltete sich ziemlich schwierig, da einzelne Elemente vollständig neu synthetisiert werden mussten. Die Arbeiten waren inzwischen recht erfreulich vorangeschritten, würden aber nach den Berechnungen der beiden Spezialisten noch mindestens ein Jahr dauern. So lange wollte keiner warten.
Für heute stand nur noch das Aussenden einer Kamera auf dem Programm. Die Auswertung der Daten würde danach einige Wochen in Anspruch nehmen. Wenn alles planmäßig ablief, konnte man in vier bis fünf Monaten mit dem Sprung des Raumschiffs rechnen. Dennoch wollten alle heute die Aussetzung der Kamera beobachten und drängten sich deshalb auf der Brücke um die Versuchsanordnung.
»Wenn wir die Kamera jetzt losschicken, reißt sie uns dann nicht ein Loch in das Raumschiff, sobald sie verschwindet?«, fragte der Mathematiker Gregor.
Terence antwortete: »Nein! Du musst dich von deiner dreidimensionalen Betrachtungsweise lösen. Ein Loch in die Raumschiffwand würde sie ja nur dann reißen, wenn sie sich in unseren drei Dimensionen bewegen würde, also nach oben, unten oder zur Seite. Das tut sie aber nicht. Stell dir wieder Flatland vor. Ein Flatlandbewohner, der sich plötzlich in die dritte Dimension bewegt, der verschwindet für die anderen Flatlandbewohner einfach. Für uns bewegt er sich nach oben oder unten, für die Zweidimensionalen ist er weg, ohne etwas zu beschädigen, da er sich nicht auf ihrer Ebene bewegt. Und genauso, wie die dritte Dimension von jedem Punkt der Ebene aus gleich einfach zu erreichen ist, so ist die höhere Dimension, in der die Gravitation wirksam ist, von jedem Punkt in unseren drei Dimensionen erreichbar. Die Kamera verschwindet einfach, ohne sich in einer von uns sichtbaren Richtung zu bewegen.«
»Warum mussten wir dann erst zwei Jahre lang fliegen und sind nicht gleich gesprungen, wenn diese höhere Dimension doch von jedem Punkt aus erreichbar ist?« Diese Frage kam von dem Biologen Lawrence.
»Wir bewegen uns durch eine höhere Dimension, landen aber natürlich, egal wo wir herauskommen, wieder in unserer dreidimensional beschränkten Welt. Das heißt, wir befinden uns nach dem Sprung an einer bestimmten Raumkoordinate.« Terence begann zu zeichnen: Ein Koordinatensystem und einen Punkt, der ihre Position in diesem Koordinatensystem darstellte.
»Diese Raumkoordinate hat eine Umgebung. Stell dir wieder Flatland vor. Unser Flatländer will an einen ganz bestimmten Punkt im dreidimensionalen Raum gelangen. Wenn er von seinem Ausgangspunkt sofort springt, dann landet er hier.« Terence zeichnete einen Punkt auf sein Schaubild. »Da will er aber nicht hin. Jetzt muss er den Weg von hier nach hier wieder auf seine zweidimensionale konventionelle Weise zurücklegen. Und genau das haben wir schon im Voraus gemacht. Wir haben uns sozusagen zuerst an eine Stelle begeben, die uns nach dem Sprung in die Nähe der Raumkoordinaten bringt, zu denen wir wollen.«
»Und können wir uns nicht einfach schräg fortbewegen?« Tao, der Lebensmittelchemiker, zeichnete in Terences Schaubild eine direkte Linie vom Ausgangspunkt des Flatlandbewohners zu seinem Ziel. »Das müsste doch möglich sein. Schließlich ist die vierte Dimension doch überall! Der Flatländer würde sie auf seiner Reise nicht  verlassen.«
»Das ist richtig! Von dieser Annahme ging man anfangs auch aus. Allerdings scheint es tatsächlich so zu sein, dass nur bestimmte ›Richtungen‹ oder ›Korridore‹ möglich sind. Warum das so ist, weiß niemand. Einer der Erklärungsversuche verwendet genau die Gefahr der Kollision als Argument. Nimm an, dein Flatlandbewohner würde sich schräg bewegen, so, wie du das gerade eingezeichnet hast. Seine Bewegung hätte dann einen Impuls in drei Richtungen, wäre sozusagen die Resultierende aus drei Vektoren, von denen sich zwei in der Ebene, das heißt in der Welt der Flatländer, bewegen würden.«
 Der Physiker zog eine direkte Linie von Taos Raumpunkt zum Ursprung des Koordinatensystems und zeichnete dann die drei Vektoren der Raumdimensionen ein.


»Und das würde zur Kollision führen mit allem, was ihm in diesen zwei Dimensionen in den Weg kommt. Übertragen auf uns müssten wir genau damit rechnen, was Gregor befürchtet hat: Die drei konventionellen Vektorkomponenten unserer höherdimensionalen Bewegung würden ein Loch in die Raumschiffwand reißen.«
»Und woher weiß Flatlandhugo, ob er nach oben oder nach unten springen muss? Wenn er die falsche Richtung wählt, erreicht er seinen Raumpunkt auf herkömmliche Weise nie.«
»Das ist richtig. Flatlandhugo weiß das natürlich nicht, da es für ihn kein oben oder unten gibt. Statistisch gesehen müsste er jedes zweite Mal nicht dorthin gelangen, wohin er will, weil er aus Versehen nach unten anstatt nach oben gesprungen ist – oder umgekehrt. Stell dir nun vor, er hat zwar einen Antrieb erfunden, der ihn durch die Vierte Dimension führt, aus irgendeinem Grund, den er noch nicht durchschaut, wirkt der Antrieb aber nur nach oben. Dadurch gelangt Flatlandhugo immer an die gleiche Stelle vom gleichen Ausgangspunkt aus gesehen. Und genauso scheint unser Gravitationsantrieb zu funktionieren. Wir haben sozusagen nur einen Teilbereich dieser höheren Dimension im Griff!«
»Wie außerordentlich beruhigend«, meinte Lotta sarkastisch. »Da fühle ich mich doch gleich viel wohler!«
»Leider hatten wir auf der Erde keine Zeit mehr, die Gravitation ausreichend zu erforschen. Wir müssen also mit dem Vorlieb nehmen, was die Wissenschaftler bis zu unserem Start erreicht haben.«
Georg, einer der Techniker, drückte auf verschiedene Knöpfe. Ein leises Zischen war zu vernehmen, das sich zu einem für die Ohren unangenehmen, hohen metallischen Kratzen steigerte. Es klang so ähnlich, als würden zwei metallene Gegenstände aneinander reiben. Dann war die Kamera verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen, einfach weg! Ein Aufseufzen durchlief wie eine Welle die Menschenansammlung. Alle starrten fasziniert auf den nunmehr leeren Fleck. Terence hatte die Arme um Franka gelegt und ihr erschrecktes Zusammenzucken registriert. Er drückte sie beruhigend an sich. Ihm war es beim ersten Mal ähnlich ergangen: Das plötzliche Verschwinden eines Gegenstandes war auch für ihn eine befremdliche Erfahrung gewesen, obwohl er die dahinterliegende Theorie durchschaut hatte wie nur wenige damals auf der Erde und niemand anderer hier auf dem Schiff. Einige Minuten lang verharrten sie bewegungslos. Wieder lastete die Stille des antriebslosen Raumschiffes drückend auf ihnen. Dann, genauso abrupt, wie sie verschwunden war, stand die Kamera mit einem Mal wieder an ihrem Platz! Ein kollektives Ausatmen der Beobachter durchbrach die Spannung, es wirkte so, als ob alle Anwesenden während der vergangenen Minuten die Luft angehalten hätten. Dann frenetischer Applaus.
Die Kamera sah unbeschadet aus. Die Versammelten waren mehr als glücklich über den ersten gelungenen Teil ihrer so zukunftsentscheidenden Aufgabe. Jemand schlug eine kleine Feier im Casino vor, alle willigten in ihrer Erleichterung ein.
»Ich möchte mir sofort die Bilder ansehen«, entschuldigte sich Terence auf Frankas fragenden Blick hin, worauf sie sofort beschloss, ihn zu begleiten. Auch Derek, Tom und Alice verzichteten auf Entspannung im Casino und folgten ihnen. Vor allem Tom hätte sich von nichts auf der Welt davon abhalten lassen. Er war vor Neugierde aufgeregt wie ein kleiner Junge kurz vor der Weihnachtsbescherung.
»Ihr könnt gerne mitkommen, aber ihr werdet enttäuscht sein«, warnte Terence. »Die Kamera hat eine riesige Anzahl von Bildern gemacht, aber auf den meisten wird nichts zu erkennen sein. Es dauert mindestens eine Woche, sie alle auszuwerten.«
Natürlich begleiteten trotzdem alle Terence. Franka versprach Greg, in einer Stunde wieder in der Computerzentrale zu sein. Sie arbeiteten dort an einem Programm für die Steuerung des Raumgleiters. Genauer gesagt: Franka arbeitete daran. Greg hatte sich die Raumschiffsteuerung vorgenommen. Dies war der letzte und schwierigste Teil ihres Pensums zum Kennenlernen der Versorgungs- und Steuerungsprozesse. Erst wenn Greg den Eindruck hatte, jedes Detail verstanden zu haben, dann würde auch Franka sich damit befassen. Die Tatsache, dass sie bis heute die vorprogrammierte Steuerung der Rakete nicht vollständig durchschauten, war nicht so besorgniserregend wie es klang: Sollten Fehler auftreten, konnten sie immer noch die automatische Steuerung abschalten und sozusagen manuell weiterfliegen. Allerdings behoben sich die meisten Fehler durch Korrekturprogramme selbst. Auch ihre bisherige Reise war nicht ganz so glatt abgelaufen, wie es den Anschein hatte. Insgesamt viermal waren kleinere Fehler aufgetreten. Dreimal hatten sie sich selbst korrigiert, einmal hatte sich die automatische Steuerung kurzzeitig abgeschaltet. Warum, das war bis heute nicht ganz klar. Nach ein paar Minuten hatte sie sich ebenso automatisch wieder aktiviert. Tom hatte zu diesem Zeitpunkt Brückendienst gehabt und noch heute schwärmte er davon, zumindest für wenige Minuten das Schiff manuell gesteuert zu haben.
Der Erste Offizier schloss die Kamera an seinen Computer an. Sofort erschien die Übersicht einer großen Anzahl von Aufnahmen. Auf den ersten Blick sah es wirklich so aus, als ob sie alle schwarz und ohne erkennbare Bilder wären.
»Die Auflösung ist in dieser Übersicht viel zu gering. Ich muss jedes einzelne Bild anschauen und so weit wie möglich vergrößern«, erklärte Terence seinen Begleitern. »Von den wenigen Fotos, auf denen hoffentlich Sterne zu sehen sind, muss ich die Aufnahmedaten erfassen und gezielte Aufnahmerichtungen für den nächsten Kamerasprung einprogrammieren. Dann kann ich auch eine höhere Schärfe erreichen. Und erst im dritten Schritt des Versuchs, wenn ich tatsächlich Sonnenaufnahmen habe, werden wir davon Spektralanalysen anfertigen und daraus schließen können, ob es Sonnen sind, die unserer Erden-Sonne ähnlich sind und vielleicht Planeten haben. Außerdem natürlich, ob sie sich in für uns erreichbarer Entfernung befinden.«
Terence rief die zahlreichen Bilder auf, eines nach dem anderen. Nach der dreißigsten schwarzen Fläche auf dem Bildschirm wurde es den Zuschauern langweilig, sie verschwanden einer nach dem anderen. Nur Franka hielt noch durch. In Terences Gegenwart machte es ihr nichts aus, gänzlich schwarze Fotos anzuschauen.
Seit der vergangenen Nacht hatte sich Frankas Gemütszustand grundlegend gewandelt. Nach ihrem Start von der Erde und dem unbegreiflichen Anblick ihrer Zerstörung war Franka für lange Zeit in eine Art von Trance abgeglitten. Der Tod ihrer Kinder und ihres Mannes erschien ihr weit schmerzlicher als die Zerstörung der Erde, eine Katastrophe, die schlichtweg zu unfassbar war. Franka vergrub sich in Arbeit, doch sobald sie einschlief, erschienen vor ihrem inneren Auge deutlich Victors, Philippas und Valeries Gesichter. Sie hörte ihre Stimmen und glaubte ihre Hände zu spüren. Eines Nachts wachte sie sogar von Sindbads Bellen auf. Tagsüber war es nicht so schlimm, da die Raumschiffumgebung so völlig fremd war und keinerlei Erinnerungen an Vergangenes wachrief. Gerade als die schmerzvollen Bilder an die verlorene, geliebte Familie in Franka langsam verblassten, brachte ihre Vergewaltigung durch Jörg Norford die mühsam aufgebaute seelische Schutzmauer vollständig und nachhaltig zum Einbruch. Zuvor hatte sie der jedem Menschen eigene Lebenswille durchhalten lassen. Nun war ihr selbst dieser abhandengekommen. Sie wollte einfach nicht mehr leben, für ihre Existenz gab es keinerlei Grund mehr. Als Franka nach dem traumatischen Ereignis aus ihrer Bewusstlosigkeit im Bett der Krankenstation erwachte, waren ihre ersten Gedanken darauf gerichtet, wie sie ihrem Leben ein Ende bereiten könnte. Sie hätte dieses Vorhaben vielleicht in die Tat umgesetzt, wenn sie nicht plötzlich Terences Stimme vor der Krankenstation gehört hätte. Seine besorgte Frage nach ihrem Gesundheitszustand und Alices zornige, ungerechte Beschuldigungen ließen ihren Entschluss dann aber ganz plötzlich ins Wanken geraten. Mit einem Schlag war der Überlebenswille wieder da. Zorn drängte die Depression in den Hintergrund. So leicht würde sie es dem Dreckskerl Jörg nicht machen! Doch neben der Wut blieb auch die Angst. Franka hatte die Ohnmacht kennengelernt, die aus reiner Unterlegenheit in der Körperkraft resultiert. Es gab auf diesem Schiff einundvierzig Männer, die ihr alle an Körperkraft überlegen waren. Franka war zwar relativ groß, aber zierlich. Wäre es um Beweglichkeit, um Flucht gegangen, wäre sie klar im Vorteil gewesen. Aber auf einem Raumschiff kann man nicht flüchten. Natürlich betrachtete Franka nicht alle anwesenden Männer als potenzielle Gefahr, nicht die Hälfte, nicht einmal ein Drittel von ihnen. Aber es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass doch ein zweiter Jörg Norford darunter war. Muhammeds Beispiel hatte das deutlich gezeigt. Aus dieser Angst heraus hatte sie sich überwunden, Terence um eine Schein-Partnerschaft zu bitten. Er war der Einzige, der dafür in Frage kam, da Tom, ihr anderer Vertrauter, schon mit Alice zusammenlebte. In den danach folgenden anderthalb Jahren hatte Franka diesen Schritt nie bereut. Terence verhielt sich ihr gegenüber immer gleich zuvorkommend und zurückhaltend. In der Öffentlichkeit zeigte er beschützende und sogar zärtliche Gesten, die ihre Verbindung nach außen hin plausibel erscheinen ließen. Und noch einen weiteren Vorteil hatte die Partnerschaft mit Terence: Franka war nicht jenem Mitleid ausgesetzt, das Vergewaltigungsopfern oft entgegengebracht wird und das häufig darin gipfelt, dass man aus Verlegenheit oder Unsicherheit den Betroffenen aus dem Weg geht. Tatsächlich gab es anfangs einige Männer, die ihr nicht in die Augen schauen konnten, aber das hatte sich schnell gelegt. Inzwischen war der Vorfall bei den meisten schlichtweg in Vergessenheit geraten. Nicht so bei Franka. Aber immerhin konnte sie inzwischen damit umgehen. Und sie hatte in den vergangenen anderthalb Jahren Terence lieben gelernt. Er hatte sie nie bedrängt. Vielleicht genau deshalb hatte sie sich in letzter Zeit hin und wieder gefragt, wie sich seine Hände wohl auf ihrem Körper anfühlen, wie seine Lippen schmecken würden. Anfangs mit schlechtem Gewissen Victor gegenüber. Obwohl er tot war, glaubte sie, ihm und ihrer Liebe in der Erinnerung zu Treue verpflichtet zu sein. Auch wurde sie nie ganz das Gefühl los, ihre Familie im Stich gelassen zu haben. Vermutlich hatten ihre Liebsten von der drohenden Gefahr nichts gewusst, der Tod hatte sie völlig überraschend und in Sekundenbruchteilen ereilt. Aber dennoch hätte Franka bei Victor und den Kindern sein müssen, dort wäre ihr Platz gewesen.
Die Nacht mit Terence hatte dann endgültig hinter die Vergangenheit einen Schlusspunkt gesetzt. Von da an richtete Franka den Blick nur noch in die Zukunft, und zwar – dank Terence – in eine hoffnungsvolle. Franka war intelligent genug, die Wahrscheinlichkeit, einen Planeten mit erdähnlichen Lebensbedingungen zu finden, realistisch einzuschätzen: Sie tendierte gegen Null. Ihrer aller Zukunft war das Raumschiff! Dort mussten sie ihr Leben einrichten. Das Schiff konnte bis zu fünfhundert Menschen Platz bieten. Es würde einige Generationen dauern, bis diese Zahl erreicht war. Vermutlich mussten sie sowieso eher gegen das Aussterben ankämpfen. Nur dann, wenn jedes Paar an Bord mindestens zwei Kinder bekam, konnte die jetzige »Einwohnerzahl« mühsam aufrechterhalten werden. Platzmangel würde also noch für lange Zeit kein Problem darstellen. Auch die Versorgung der Menschen an Bord war sichergestellt. Gefahren lagen allerdings in unvorhergesehenen Ereignissen wie Meteoriten-Kollisionen oder in Versorgungsengpässen aufgrund von Programmabstürzen oder Computerfehlern. Nun, gegen das Erste konnte sie nichts tun, aber sie war entschlossen, das Zweite nach Kräften zu verhindern. Greg war ihr dabei eine große Beruhigung. Es würde noch sehr lange dauern, bis sie sich auch nur annähernd mit ihm messen konnte.
Nun bemerkte Franka, dass ihre Aufmerksamkeit schon lange nicht mehr bei den Bildern lag, die Terence unverdrossen studierte. Stattdessen betrachtete sie sein dunkles, konzentriertes Gesicht. Terences Finger lagen auf der Tastatur und zauberten in gleichmäßigen Abständen ein Foto nach dem anderen auf den Bildschirm. Ansonsten bewegte er sich nicht. Sie hatte diese Fähigkeit zu völliger Konzentration schon früher an ihm bemerkt.
Doch plötzlich grinste er sie an: »Sieh mich nicht so an! Das lenkt mich ab! Wenn ich mich nicht auf die Fotos konzentriere, entgeht mir vielleicht das einzige wirklich vielversprechende Bild. Schon zweimal musste ich das vorhergehende Foto nochmals aufrufen, weil ich mich nicht mehr erinnern konnte, ob ich es sorgfältig geprüft habe.«
Franka lachte und umarmte ihn zärtlich.
»Ich sehe dich so gerne an. Aber jetzt lasse ich dich allein. Ich muss wieder an die Arbeit. Greg würde zwar nie etwas sagen, aber er würde dann stillschweigend meine Arbeit auch noch erledigen. Essen wir zusammen zu Abend? Deine Augen werden auch hin und wieder eine Pause brauchen.«
»Natürlich! Ich hole dich ab. Warte, ich bringe dich in die Computerzentrale!«
»Nicht nötig!« Schon war sie verschwunden

Kommentare