Das Gewicht der Leere - Kapitel 16

Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Unaufhaltsam näherten sie sich jenem Punkt im All, von dem aus sie den ersten Sprung wagen wollten. Seit siebenhundertachtundvierzig Erdentagen waren sie nun unterwegs, das entsprach einhundertsechs Wochen oder beinahe fünfundzwanzig Monaten. Nach und nach, beinahe unmerklich, hatte eine erwartungsvolle, zuweilen auch ängstliche Spannung die Menschen an Bord ergriffen. Heute, am Vorabend des Tages, an dem sie das erste Ziel auf ihrer Reise erreichen sollten, hatte sich diese Spannung noch einmal deutlich wahrnehmbar gesteigert. Um zu verhindern, dass die Unruhe in eine Eskalation mündete, wurde ein Vergnügungsabend anberaumt. Es gab an Bord, wie in jeder größeren Gruppe von Menschen, ein paar Leute, die mit unterhaltsamen Talenten aufwarten konnten. Einige von der ursprünglichen Raumschiffbesatzung, die ja gewusst hatten, dass es für sie keine Rückkehr zur Erde geben würde, hatten Musikinstrumente mit an Bord gebracht. Es gab zwei Trompeten, ein Saxophon, ein Keyboard, drei Klarinetten, eine Geige, ein Horn und zwei Gitarren. Auch unter den Gästen waren Hobbymusiker, die sich die Instrumente ausliehen. Anfangs spielte jeder nur für sich allein in seiner Wohnung, vielleicht auch mal vor dem Freund oder der Freundin. Dann hatte vor einiger Zeit Hermann offiziell eine Band aufgestellt. Hermann kam aus Wien und hatte dort ein kleines Vorstadtorchester dirigiert. Er bearbeitete einige der in der Datenbank des Raumschiffes gespeicherten Musikstücke für die außergewöhnliche instrumentale Zusammenstellung. Bald hatte er eine ansehnliche und vor allem gut klingende Sammlung von Werken arrangiert, die er mit seiner neuen kleinen Band einstudierte. Die neun Bandmitglieder probten einmal wöchentlich, in etwas größeren Abschnitten traten sie im Casino auf. Außer denjenigen, die zu offiziellen Arbeiten abkommandiert waren, fehlte niemand bei diesen Anlässen. Der frenetische Applaus nach jeder Nummer belohnte die Musiker. Bei diesen Gelegenheiten konnte auch getanzt werden. Denn als er gesehen hatte, welcher Erfolg seiner Band beschieden war, hatte Hermann mit seinen Leuten auch einige Tanzmelodien einstudiert.

Angestachelt durch den Enthusiasmus der Musiker wurde wenige Zeit später eine Theatergruppe ins Leben gerufen. Ebenso wie die Musik waren in der Datenbank des Raumschiffes so ziemlich alle jemals aufgeführten Theaterstücke gespeichert, sodass die Schauspieler und vor allem ihre Regisseurin Lotta eher die Qual der Wahl hatten. Anfangs beschränkte sie sich auf kleine, lustige Komödien, die mit wenig Aufwand und wenig Schauspielern in Szene gesetzt werden konnten. Später wagten sich Lotta und ihre Truppe, mutiger geworden, auch an klassische Stücke. Beim Publikum war beides gleichermaßen beliebt, entführte doch jede der Vorstellungen – wenn auch nur für kurze Zeit – aus dem doch manchmal sehr bedrückenden Raumschiff-Alltag. Sogar Greg, dem es auf der Erde niemals eingefallen wäre, ein Theater oder ein Konzert zu besuchen, war an diesen Abenden im Casino anzutreffen. Aber es gab auch Einzelinterpreten. Michelle hatte eine wunderbare Stimme und trug, begleitet von Karel am Keyboard, bevorzugt Chansons vor. Und dann war da noch Terence ...

Eines Abends, ziemlich am Anfang ihrer »Partnerschaft«, war Franka spät von ihrer Arbeit zurückgekommen. Greg hatte sie bis zu ihrer Tür begleitet. Schon als Franka die Wohnung betrat, hörte sie die Klänge der Gitarre im Nebenzimmer. Lauschend blieb sie stehen. Die kleine, schwermütige Melodie klang wunderschön. Als das Stück zu Ende war, folgte ein weiteres. Diesmal sang Terence dazu mit seiner tiefen, melodischen Stimme ein kleines Liebeslied. Franka hörte wie gebannt zu und bemühte sich, kein Geräusch zu machen, das den Interpreten zum Abbruch hätte bewegen können. Nie zuvor hatte sie ihn musizieren gehört, deshalb nahm sie an, dass er das nur dann tat, wenn er sich alleine glaubte. Als Terence nach dem Ende eines weiteren Liedes dann aus dem Zimmer kam, ertappte er seine heimliche Zuhörerin. Eine Weile standen sie sich wortlos gegenüber.

»Bist du schon lange hier?«, fragte Terence schließlich. »Ich habe dich nicht kommen hören. Du solltest mich doch anrufen, damit ich dich abholen kann.«

»Greg hat mich herbegleitet. Es tut mir leid. Vielleicht magst du es nicht, wenn ich dir zuhöre? Aber es war so schön, ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, dich zu unterbrechen.«

»Es macht mir überhaupt nichts aus, wenn du mir zuhörst. Aber du hast sicher Hunger. Gehen wir ins Casino?«

»Mir würde eine Kleinigkeit hier aus dem Automaten reichen. Aber ich gehe mit dir, wenn du möchtest. Spielst du später noch einmal?«

Als er nicht sofort antwortete, fügte sie schnell hinzu. »Oder an einem anderen Tag, wenn dir danach zumute ist?«

Franka hatte Terence gegenüber ein chronisch schlechtes Gewissen. Er tat so viel für sie und erhielt von ihr nichts dafür zurück. Und dabei schaffte er es auch noch, den Eindruck zu vermitteln, das alles gerne zu machen. Auch jetzt lächelte er sie liebevoll an.

»Lass uns etwas essen. Dann spiele ich gerne für dich. Was hörst du denn am liebsten?«

»Alles! Solche Lieder wie die von eben.«

Sie holten sich ihr Essen und ein Glas Wein dazu aus dem Automaten und ließen sich am Tisch nieder.

»Hast du früher auch vor Publikum gespielt, oder immer nur für dich allein?«

»Ich habe öfter in meiner Stammkneipe an unserem Wohnort gespielt. Auf diese Weise habe ich übrigens meine Frau kennengelernt. Sie kam zufällig vorbei, als ich spielte. Anfangs hat sie nur zugehört, dann hat sie mitgesungen. Pam hatte eine sehr schöne Stimme. Später sind wir dann gemeinsam dort aufgetreten. Es war eine wunderbare Zeit.«

»Vermisst du deine Frau sehr?«

»Einen Monat nachdem ich die Stelle bei Futura 3000 angenommen hatte, wurde mir Pamelas Scheidungsantrag zugestellt. Wir hatten uns schon seit einigen Jahren auseinandergelebt.«

»Das tut mir leid!«

»Mir auch. Vor allem, weil es meine Schuld war. Ich habe sie viel zu oft alleine gelassen. Mein Beruf war mir wichtig. Zu wichtig! Aber am wenigsten kann ich mir verzeihen, dass ich mich kaum um meinen Sohn gekümmert habe. Joshua vermisse ich am meisten. Nach der Scheidung hätte ich ihn wahrscheinlich nur ein paar Mal im Jahr gesehen. Irgendwie war er von Anfang an Pamelas Kind. Ich hätte das nicht zulassen dürfen.«

Franka legte ihre Hand auf seine. Wie sollte sie ihn trösten? Die Vergangenheit konnten sie beide nicht ändern. Kurz drückte er ihre Hand, dann stand er auf.

»Komm! Ich spiele dir etwas vor. Setz dich hier auf das Sofa und mach es dir gemütlich. Sag mir, wenn ich aufhören soll. Wenn ich spiele und singe, vergesse ich die Zeit.«

Sie nahmen ihre Weingläser mit. Terence sang zuerst ein paar melodische Stücke, die Franka nicht kannte. Dann heitere Trinklieder von Franҫois Villon, über die sie beide lachen mussten. Auch anrührende Volkslieder, meist aus Irland oder Schottland, gehörten zu seinem Repertoir. Deutsche Lieder kannte er nur von Hannes Wader, und Terence trug sie mit einem eigenartigen weichen amerikanischen Akzent vor. Ganz am Schluss sang er das kleine Liebeslied, das Franka ganz am Anfang »heimlich« gehört hatte, noch einmal.

»Das ist wunderschön! Wie heißt es?«

Terence zögerte kurz, bevor er antwortete: »Es hat noch keinen Namen.«

»Hast du das selbst komponiert?«

»Ja. Es ist erst zwei Wochen alt. Gehen wir schlafen. Es ist spät!«

Er strich ihr zärtlich über die Wange, bevor er ihr einen kleinen Schups in Richtung Tür gab.


Oft hatte Terence in der Folgezeit noch für Franka gespielt, und als Tom und Alice einmal unvermutet dazukamen, auch vor ihnen. Ihrer aller Begeisterung hatte sich herumgesprochen, und irgendwann erklärte sich Terence dazu bereit, im Casino aufzutreten. Sobald er mit seiner Gitarre auftauchte, sprach sich das wie ein Lauffeuer herum und das Casino füllte sich schnell bis zum letzten Platz.

Auch heute Abend wollte Terence spielen. Es gab sogar ein richtiges Programm: Zuerst würde die Band mit ein paar Stücken zu hören sein, dann sollte die Theatergruppe Die Mausefalle von Agatha Christie aufführen. Danach war eine kleine Pause geplant, in der zu den Klängen der Band getanzt werden konnte. Nachdem sich alle etwas ausgetobt hatten, wollte Michelle einige Chansons vortragen. Terence sollte dann den Schluss machen.

Offizieller Programmbeginn war für sechs Uhr abends angesetzt, aber schon ab fünf Uhr füllte sich das Casino. Wie auch schon damals auf der Erde war jeder darauf erpicht, einen möglichst guten Platz zu ergattern. Tom hatte angeboten, für Franka und Terence Plätze frei zu halten. Da er beim Aufbau des Bühnenbildes für das Theaterstück mithalf, war er schon früh vor Ort.

Franka und Terence kamen zehn Minuten vor sechs Uhr und fanden einen schon vollen Saal vor. Tom hatte ihnen einen Tisch direkt an der Tanzfläche reserviert, an dem sich schon Alice, Derek, Melanie, Greg, Michelle, Irina und Kurt niedergelassen hatten. Michelle verwickelte Terence sofort in ein Gespräch über Musik. Auf der Bühne hatten bereits die Mitglieder der Band Aufstellung genommen. Die Requisiten für das Theaterstück, die nur aus ein paar Möbelstücken bestanden, waren zur Seite geschoben und gaben für die Musiker einen leicht unpassenden Hintergrund ab.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Derek, wobei er dicht an Frankas Ohr herankommen musste, da ein unglaublicher Lärm herrschte. »Ich bringe dir etwas mit.«

»Ein Glas Rotwein bitte!«

Derek machte sich auf den Weg durch das Gedränge und fragte im Vorübergehen auch Terence nach seinen Wünschen. Kaum war er mit vollen Gläsern zurückgekommen, erlosch die Saalbeleuchtung und es war bis auf ein paar kleine Lämpchen am Rand dunkel. Nur die Bühne erstrahlte in hellem Licht. Amir übernahm die Aufgabe des Conférenciers. Schon bei früheren Gelegenheiten hatte er sein Talent für diese Aufgabe unter Beweis gestellt. Locker und mit spaßigen Kommentaren kündigte er jeden Programmpunkt an und schaffte es so, von Anfang an eine gute Stimmung zu erzeugen. Nach ein paar Einführungsworten, in denen er es absichtlich vermied, auf den folgenden Tag hinzuweisen, überließ er der Band die Bühne. Die Musikerinnen und Musiker waren in dem einen Jahr, in dem sie erst miteinander probten, unglaublich gut geworden! Jedem einzelnen war anzumerken, welchen Spaß ihm das Spielen machte. Hermann hatte in seine bearbeiteten Stücke Soloparts für jeden eingebaut, der Lust darauf hatte. Franka gefielen die Trompeten und das Saxophon besonders gut. Die überschäumende Stimmung riss sie mit, sie fühlte sich so frei und entspannt wie schon lange nicht mehr. Ganz gegen ihre Gewohnheit hakte sie sich bei Terence ein, der ihre Hand sofort in seine nahm und ihr zulächelte. Franka wünschte sich, die Musik würde ewig weiterspielen und sie könnte hier sitzen bleiben und Terences Hand in ihrer spüren. Doch leider verließen die Bandmitglieder nach tosendem Applaus die Bühne, um Platz für Lottas Theatergruppe zu machen. Das heitere Stück mit Happy End lenkte die Gedanken der Zuschauer auf angenehme Weise von der bedrohlichen Ungewissheit der folgenden Tage ab. Die Schauspieler und Schauspielerinnen erhielten nicht weniger Applaus als Hermann mit seiner Band. In der Tanzpause löste sich die bisherige Sitzordnung an den Tischen etwas auf. Die Band war wieder auf die Bühne geklettert. Ziemlich schnell füllte sich die Tanzfläche, auch wenn nicht jeder Rücksicht auf traditionelle Tanzschritte nahm. Michelle war sofort aufgesprungen und hatte Terence mit sich gezogen. Franka sah ihnen zu. Sie waren beide hervorragende Tänzer, denen Musik und Bewegung im Blut lagen. Mit Victor hatte sie auch sehr gerne getanzt, nun versuchte sie sich diese Gelegenheiten ins Gedächtnis zu rufen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, heute gelang es ihr nicht, Victors Gesicht vor ihrem inneren Auge erscheinen zu lassen. Dafür ertappte sie sich bei dem Wunsch, sich mit Terence über die Tanzfläche zu bewegen. Doch das scheiterte schon an Michelle, die gar nicht daran dachte, ihren Partner wieder freizugeben. Franka kam in den Sinn, dass Alice einmal behauptet hatte, die Französin sei eines Morgens aus Terences Zimmer gekommen. Lange bevor Franka mit Terence zusammenzog war das gewesen, aber plötzlich beunruhigte sie dieser Gedanke. Denn sie hatte Terence ja versprochen, ihre Schein-Partnerschaft sofort zu beenden, sobald er eine Freundin gefunden hatte, mit der er zusammenleben wollte. Heute Abend schien diese Möglichkeit in greifbare Nähe zu rücken. Frankas Herz fing wild an zu klopfen. Was, wenn er sich für Michelle entscheiden würde? Die beiden passten gut zusammen. Die Musik verband sie. Franka liebte Musik zwar, aber sie konnte weder singen noch ein Instrument spielen. War Zuhören auf die Dauer vielleicht doch zu wenig? Aber das Entscheidende war doch: Mit Michelle könnte Terence schlafen. Die Französin würde sich nachts nicht in ein anderes Bett zurückziehen und ihn alleine lassen! Panische Angst stieg in Franka auf. Sie wollte Terence nicht verlieren! Er war, beinahe unbemerkt, zum Wichtigsten in ihrem Leben geworden.

»Was ist los mit dir?«, fragte Greg. »Du bist ganz blass geworden. Ist dir nicht gut? Soll ich dich nach Hause bringen?« 

Besorgt berührte er Franka am Arm. Sie hatte, versunken in ihre verstörenden Gedanken, ihre Umgebung völlig vergessen. Nun zuckte sie zusammen.

»Du zitterst ja! Was hast du denn?«, erkundigte sich Greg beunruhigt. Er legte den Arm um ihre Schultern.

»Es ist nichts! Mir ist nur ganz kurz schwindelig geworden. Es geht schon wieder«, murmelte Franka.

Um keinen Preis wollte sie Aufmerksamkeit erregen, am wenigsten die von Terence. Gerade verklangen die letzten Takte der Musik. Applaus brandete auf und die Band räumte die Bühne für den nächsten Auftritt. Michelle und Karel machten sich bereit. Nun saß Terence wieder neben Franka, und allein dadurch waren ihre Ängste verflogen. Allerdings nicht für lange. Denn Michelle sang mit ihrer einschmeichelnden Stimme heute Abend ausschließlich Liebeslieder, und für wen sie das tat, das war für jeden eindeutig zu erkennen: Sie ließ Terence nicht aus den Augen.

»Blöde Kuh!«, flüsterte Alice Franka zu. »Wenn ich du wäre, ich würde ihr die Augen auskratzen!«

Was hätte Franka darauf erwidern sollen? Alice ging wie alle anderen von einer normalen Liebesbeziehung zwischen Terence und Franka aus. Jetzt, anderthalb Jahre nach der Vergewaltigung, gab es für niemanden einen Grund, etwas anderes zu vermuten. Wie hätte Franka Alice also glaubhaft machen sollen, dass das Intimste, was sie mit Terence bis dahin erlebt hatte, die wunderschönen Abende gewesen waren, an denen er nur für sie seine Gitarre hervorgeholt und gespielt hatte? Wie hätte sie ihr erklären sollen, dass sie keinerlei Recht auf Terence hatte, sich im Gegenteil tief in seiner Schuld fühlte? Und wirklich: Nach dieser langen Zeit konnte er von ihr auch ohne Weiteres verlangen, ihr Leben wieder vollständig alleine zu meistern. Nein, wenn Terence etwas für Michelle empfand, dann hatte Franka keinerlei Recht dazu, sich zwischen die beiden zu drängen. Aber trotzdem wäre sie nun am liebsten in Tränen ausgebrochen. Auf Terences Auftritt hatte sie sich so sehr gefreut. Immer, wenn er vor mehreren Leuten sang, hatte sie bisher das Gefühl genossen, er sänge in Wahrheit nur für sie alleine. Nun, heute würde er das natürlich für Michelle tun. Am liebsten wäre Franka in ihre Wohnung gegangen, aber nicht einmal das konnte sie, da sie damit Terence ein schlechtes Gewissen machen würde. Und das hatte er wirklich nicht verdient.

Frankas bedrückte Stimmung war Terence nicht entgangen. Allerdings interpretierte er sie falsch. Er glaubte, sie habe wieder unter einem ihrer Anfälle von Angst vor anderen Menschen zu leiden. Solche Panikattacken hatten sie nach dem schrecklichen Morgen im Fitnessraum häufig heimgesucht. Zwar waren diese Zustände in der letzten Zeit seltener aufgetreten, aber Franka hatte sich auch nicht oft unter so vielen Menschen bewegt. Terence hatte sich danach gesehnt, mit Franka zu tanzen, aber wie hätte er sie auf die überfüllte Tanzfläche holen können, wenn sie sich offensichtlich schon dann nicht wohlfühlte, wenn sie lediglich am Tisch saß? Michelle zu entkommen, ohne direkt unhöflich zu werden, das wäre ebenfalls nicht ganz einfach gewesen. Doch bevor er den Konflikt hatte lösen konnte, hatten die Tanzmusik geendet und Michelles Auftritt begonnen. Aufatmend hatte Terence sich wieder zu Franka gesetzt. 

Ihre Hand fühlte sich eiskalt an. »Möchtest du gehen?«, fragte Terence, aber sie schüttelte nur den Kopf. Das erleichterte ihn. Er hätte sie in der Wohnung allein lassen müssen, da sein Auftritt ja noch bevorstand. Das tat er besonders ungern, wenn er nicht genau wusste, welche Gedanken oder Erinnerungen Franka quälten. Vorerst legte er den Arm um sie und zog sie an sich. Das schien sie zu beruhigen. Zumindest lächelte sie nun wieder.

Strahlend und glücklich über den überwältigenden Applaus kehrte Michelle an den Tisch zurück. Terence erhob sich, da nun sein Auftritt folgte. Michelle fiel ihm um den Hals. Sie küsste ihn zärtlich und wünschte ihm viel Erfolg.

Terence spielte und sang heute vorwiegend fröhliche Lieder, bei denen die meisten mitsingen konnten. Das sorgte ordentlich für Stimmung. Franka war erleichtert, dass er auf Liebeslieder verzichtete. Die hätte sie heute nicht ertragen. Aber sie hatte zu früh aufgeatmet: Das Publikum applaudierte frenetisch und verlangte eine Zugabe.

»Ich möchte zum Ausklang des Abends ein Liebeslied singen«, sagte Terence. »Es ist ein neues Lied. Ich habe es erst hier auf dem Raumschiff komponiert, es erlebt heute sozusagen seine Premiere!«

Schon nach den ersten Tönen erkannte Franka es: das Lied ohne Namen! Sie hatte es seitdem nicht wieder gehört. Wäre Michelle nicht gewesen, hätte sie sich einbilden können, Terence sänge es für sie. Aber ein Blick auf Michelle, die mit Tränen in den Augen hingerissen lauschte, nahm ihr jede Illusion: Michelle wusste natürlich genau, an wen dieses Lied gerichtet war!

Als Terence an den Tisch zurückkam, fiel ihm die Französin erneut um den Hals: »Du warst großartig! Was für ein wunderschönes Lied! Es hat mich zutiefst berührt.«

Terence lächelte nur und setzte sich. Es war schon lange nach Mitternacht, doch niemand machte Anstalten, aufzubrechen. Der Saal war nun wieder hell erleuchtet, der Lärmpegel stieg gewaltig an. Terence flüsterte Franka ins Ohr: »Ich möchte gehen. Einverstanden?«

Sie nickte nur. Ihr war klar, was er vorhatte: Nachdem er sie nach Hause gebracht hatte, würde er zu Michelle verschwinden.

Sie drängten sich zum Ausgang. Schweigend folgten sie den langen Fluren bis zum Lift. Während sie nach unten fuhren, überwand sich Franka.

»Ich möchte dich etwas fragen«, begann sie zögernd und ohne Terence anzusehen.

»Das darfst du, aber ich kann dir die Antwort auch schon vorher geben. Sie lautet: Nein!«

Franka blickte überrascht auf.

»Woher willst du wissen, was ich dich fragen wollte?«

»Du wolltest dich erkundigen, ob ich unsere Partnerschaft auflösen und mit Michelle zusammenziehen will. Die Antwort lautet: Nein. Und wenn du jetzt nicht aussteigst, dann fahren wir wieder hoch in den siebten Stock!«

Sie waren auf dem Wohneinheitendeck angekommen und die Fahrstuhltür hatte sich automatisch geöffnet. Terence zog Franka auf den Flur.

»Kannst du Gedanken lesen?«, stammelte sie verblüfft.

»Nur deine. Und die auch nur manchmal.«

Schweigend betraten sie ihre Wohnung.

»Ich muss duschen. Diese Scheinwerfer verbreiten eine Hitze, die mich jedes Mal fast zum Schmelzen bringt! Gute Nacht, Franka!«

Er küsste sie leicht auf die Wange und verschwand im Badezimmer. Eine Weile blieb Franka stehen, dann ging sie zu Bett. Sie versuchte, an Victor zu denken, aber es gelang ihr nicht. Zwischen Victors Gesicht und ihres schob sich das von Terence. Sein Gesicht und sein schlanker, dunkler Körper.

Das Wasserrauschen war schon lange verstummt. Terence musste inzwischen auch im Bett liegen. Vermutlich schlief er schon. Franka hatte keine Schwierigkeiten, sich seine Hände vorzustellen, wie sie sanft über ihren Körper glitten. Und sie verscheuchte diese Vorstellung nicht. Die Erinnerung an den schrecklichen Morgen im Fitnessraum, sie schien plötzlich all ihre Schrecken zu verlieren. Franka stand auf. Durch die Dunkelheit ihres Schlafzimmers tastete sie sich hinüber zu Terence. Schwaches blaues Licht durchflutete den Raum. Terence schlief nicht. Als sie sich auf seine Bettkante setzte, legte er seine Hand sanft an ihre Wange. Mit zärtlichen Fingern zeichnete er die Kontur ihres Halses nach und ließ die Finger dann über die sanfte Wölbung ihrer Brust gleiten. Dann richtete er sich auf. Ihre Lippen trafen sich diesmal nicht in einem flüchtigen geschwisterlichen Abschieds- oder Begrüßungskuss, sondern voller Leidenschaft.  


»Ich wusste, du würdest irgendwann zu mir kommen!«, flüsterte Terence Franka ins Ohr, als sie einige Zeit später erschöpft und glücklich nebeneinander lagen.

»Heute Abend dachte ich, ich hätte dich an Michelle verloren«, bekannte sie. »Als ich euch miteinander tanzen sah, war ich verzweifelt. Ihr habt so gut miteinander harmoniert!«

»Ich hätte so viel lieber mit dir getanzt. Aber du warst so blass. Ich hielt es für einen deiner Anfälle. Wie hätte ich dich da auf die überfüllte Tanzfläche holen können?«

»Es war wohl eher ein Eifersuchtsanfall. Ich hätte Michelle umbringen können!«

Terence lachte leise: »Ich sollte mich bei Michelle bedanken. Sie hat an einem Abend geschafft, was mir in anderthalb Jahren nicht gelungen ist!«


 

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