Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Mit großer Erleichterung nahmen Frankas engeren Freunde die Partnerschaft von Terence und Franka auf und auch alle anderen an Bord glaubten damit zumindest eines ihrer gesellschaftlichen Probleme gelöst. Terence begleitete Franka in den Fitnessraum, zu ihrem Arbeitsplatz, ins Casino, und abends verschwanden die beiden gemeinsam hinter der Tür zu ihren beiden miteinander verbundenen Wohneinheiten. Nach außen hin schien Franka bald wieder die Alte zu sein. Nur Terence wusste, wie schwer sie das Verbrechen belastete, da nur er in seinem angrenzenden Schlafzimmer ihre Schreie hörte, wenn sie in einem nächtlichen Alptraum gefangen war und wenn er sie dann aufweckte und in den Armen hielt, ihr Zittern spürte, bis sie endlich, nach langer Zeit, wieder einschlafen konnte. Manchmal blieben sie danach beide wach bis zum Morgen, lasen oder unterhielten sich.
Inzwischen war ein weiteres halbes Jahr vergangen. Seit der Aufstellung der Regeln hatte es keine weiteren schwerwiegenden Zwischenfälle gegeben. Hin und wieder ein Streit oder Eifersüchteleien, die aber nie ein Maß erreichten, dass eine Generalversammlung nötig gewesen wäre.
Melanies Parkprojekt hatte sich als durchführbar erwiesen und war genehmigt worden. Viele machten wenigstens einmal pro Tag einen Abstecher in das oberste Deck, um die Fortschritte zu verfolgen. Die Techniker hatten ein Diorama aus Kunststoff gefertigt, das den kleinen Teich, sanfte Hügel und Wege vorformte, außerdem kleine Kuhlen an den Stellen, an denen Bäume wachsen sollten. Das Ganze musste nun mit einer dreißig Zentimeter dicken Erdschicht bedeckt werden. Nur die Bäume bekamen etwas mehr Pflanztiefe und somit Raum für ihre Wurzeln. Die Synthese der Erde dauerte natürlich geraume Zeit, aber Melanie und ihre Helfer begrüßten jeden Kubikmeter wie ein Weihnachtsgeschenk. Die Biotechniker arbeiteten zeitgleich an den Syntheseplänen für Bäume, Büsche, Blumen und Steine. Es war unglaublich, wie die Aussicht auf einen Park alle beflügelte. Lange gab es kaum ein anderes Gesprächsthema. Franka und Greg beschäftigten sich mit einem Programm für die Himmelssimulation. Tagsüber sollten eine Sonne und Wolken zu sehen sein und nachts ein Sternenhimmel. Vielleicht gelang ihnen sogar ein kleiner Regenschauer?
Die Versorgungsprogramme hatten sie inzwischen durchgearbeitet. Franka glaubte mittlerweile, jede einzelne Zeile zu kennen. Sie hatten sich gegenseitig verschiedene Unfälle simuliert und konnten den Fehler jedes Mal in einer annehmbaren Zeit beheben. Natürlich hatten die Forscher und Experten an Bord außer dem Park auch anspruchsvollere Projekte. Es galt, sich auf den Gravitationssprung vorzubereiten. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit sie die Erde verlassen hatten, und nach einem weiteren Jahr würde ihr Schiff an der Stelle angekommen sein, von der aus sie auf eine parallele Schleife des Universums überwechseln wollten. Zwar war der Gravitationssprung vorprogrammiert, aber Terence verließ sich nicht blind auf die vorgegebenen Berechnungen. Wieder und wieder zog er alle Gleichungen in Zweifel und rechnete nach. Es bestand nicht die Gefahr, zu kurz oder zu weit zu springen. Zahlreiche Versuche in den Gravitationslabors hatten gezeigt, dass das transportierte Objekt immer am Ziel ankam, egal wie groß die Energie gewählt wurde. Vorausgesetzt, sie überstieg ein gewisses Niveau, da es sonst einfach an seinem Ausgangspunkt blieb. Es schien nichts dazwischen zu geben. Gerade so, als ob die Faltenränder ohne Zwischenraum aufeinanderliegen würden. Doch gerade diese Schwelle galt es zu ermitteln, die natürlich von der Größe und dem Gewicht des Transportgegenstandes abhing. Die überschüssige Energie wurde in Wärme und Bewegungsenergie umgesetzt, was für die Schiffsbesatzung äußerst unangenehm werden könnte. Ein paar der Mäuse bei früheren Laborversuchen waren verschmort zurückgekommen.
Die Bewegungsenergie war nicht weniger gefährlich. Zum einen konnte die Richtung des Sprunges nicht beeinflusst werden. Weder ein Aufprall auf eine Sonne oder auch nur einen Planeten noch ein zielloser Flug in die endlose Leere des Raumes waren wünschenswert. Auch wäre die Schubkraft dieser Bewegung für einen menschlichen Körper nicht auszuhalten. Terence untersuchte immer wieder die zugrunde liegenden Berechnungen. Sobald er für einen Abschnitt grünes Licht gab, überprüften Franka und Greg das entsprechende Programm. Bis jetzt hatten sie noch keinen Fehler gefunden.
Parallel zu seinen Berechnungen, auf einer zweiten geistigen Ebene sozusagen, grübelte der Physiker auch darüber nach, wie das Problem der Bewegungsrichtung nach einem Sprung in den Griff zu bekommen sei. Ungeahnte Möglichkeiten könnten sich daraus ergeben. Sie könnten die Gravitationsenergie dann auch zur Fortbewegung innerhalb der drei Raumdimensionen nutzen, indem sie hin und her sprangen und für den Rücksprung einen Energieüberschuss einsetzten. Bis jetzt war es Terence aber weder gelungen, das Rätsel der Richtung zu lösen, noch einen Maßstab für die Energie-Entfernungs-Relation zu finden. Doch diese Fragestellungen beschäftigten seine Gedanken auf eine eher angenehme Weise.
Derek hatte Toms Schulung zum Raumschiffpiloten vollständig übernommen. Der Erste Offizier absolvierte nur noch in regelmäßigen Abständen ein Training, um in Übung zu bleiben, ansonsten überließ er den beiden Freunden das Feld. Tom fühlte sich im Weltraum so wohl wie kaum ein anderer der Menschen an Bord. Er hatte auf der Erde eine krebskranke Mutter zurückgelassen, für die das abrupte Lebensende vermutlich ein Segen gewesen war. Natürlich vermisste Tom die Erde und er trauerte auch um seine Mutter, genau wie er um sie getrauert hätte, wenn sie irgendwann den Kampf gegen ihre Krankheit verloren hätte. Auch eine Freundin hatte Tom gehabt, doch war ihr Verhältnis zueinander schon etwas abgekühlt gewesen. Bereits bei dem sportlichen Wettkampf, mit dem sie sich einen Platz auf diesem Raumschiff erkämpft hatten, war ihm Alice aufgefallen. Spätestens nach dem denkwürdigen Start stellte er beglückt fest, dass die schöne Frau seine Gefühle erwiderte. Im Augenblick hatte Tom also alles, was er sich wünschte: Alice und ein unglaubliches Abenteuer. Nicht wieder auf die Erde zurückkehren zu können, das allerdings war ein Stachel, der in seinem Fleisch saß, sich aber nur selten schmerzhaft bemerkbar machte.
Heute Morgen hatte Tom, wie auch an jedem anderen Tag, ein umfangreiches Sportprogramm hinter sich gebracht und saß nun vor dem Flugsimulator. Wie so oft rief er sich die tatsächliche Umgebung der Conquest auf den großen Bildschirm. Das vermittelte ihm ein Gefühl der Realität für das simulierte Fliegen. Im Gegensatz zu den meisten anderen, die der Anblick der unendlichen Leere zutiefst deprimierte und auch ängstigte, liebte Tom die Vorstellung, sich als winziges Staubkorn durch den endlosen Raum zu bewegen. Und nicht zum ersten Mal liebäugelte er mit einem Gedanken: Er wollte in einem Raumanzug die Rakete verlassen und durch das All schweben, mit dem Raumschiff nur verbunden durch ein Seil, genauso wie der Säugling durch die Nabelschnur mit der Mutter. Raumanzüge gab es an Bord, schließlich konnte eine Reparatur an der Außenhaut des Schiffes nötig werden, sollten sie etwa von einem Meteoriten getroffen werden. Sämtliche Mitglieder der ursprünglichen Crew waren im Umgang mit einem Raumanzug schon auf der Erde geschult worden. Es gehörte selbstverständlich zum Ausbildungsprogramm, nun also auch zu dem von Tom. Das Raumschiff in einem Raumanzug verlassen konnten also einige, auch wenn sie es noch nie in Wirklichkeit getan hatten. Das Schiff zu manövrieren aber beherrschten nur zwei, und jetzt, mit Tom, drei. Er war sich inzwischen sicher, Derek und Terence in keiner Hinsicht mehr nachzustehen. Schließlich hatten auch sie in Anbetracht der ungewöhnlichen Umstände, die eine Geheimhaltung des Projektes unabdingbar gemacht hatte, ihre Fähigkeiten nie außerhalb des Simulators erprobt, zumindest nicht mit diesem Schiff. Beide waren sie natürlich schon im All gewesen, beide hatten sie bereits den Mond betreten. Wie Tom sie um diese Erlebnisse beneidete! Aber es waren immer wesentlich kleinere Raumschiffe mit Platz für maximal vier Personen gewesen, auf denen Derek und Terence ihre Erfahrungen gesammelt hatten. Also kein Vergleich zu der gigantischen Conquest!
Die Simulation war beendet. Das Schiff war unbeschadet auf dem fiktiven Planeten gelandet. Tom stellte seinen Monitor ab und streckte sich. Dann ging er auf die Suche nach Derek, den er auch, wie vermutet, in seinem kleinen Büro antraf. Der Captain brachte das Logbuch auf den neuesten Stand. Dieser Aufgabe widmete er viel Zeit und Aufmerksamkeit, obwohl es äußerst zweifelhaft war, ob jemals irgendwelche Augen diese Zeilen lesen würden. Jede Kleinigkeit hielt er fest, nicht nur technische Daten. Jedes Vorkommnis, auch die Sorgen und Ängste der Besatzung. Es war eher eine Art Tagebuch, das ihm half, in der außergewöhnlichen Situation den Blick für das Wesentliche zu bewahren. Wie viele andere Menschen auf dem Schiff vertrat auch er die Meinung, er müsse sein Leben so gestalten, als ob er jederzeit zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Die Ethik seines früheren Lebens hatte für ihn auch jetzt noch Bestand, war sie doch für einen atheistischen Menschen der einzige Maßstab.
Als Tom den Raum betrat, sah Derek auf, dankbar für die Unterbrechung und bereit, mit ihm einen Ausflug ins Casino zu unternehmen und dort eine Tasse Kaffee zu trinken. Natürlich gab es auch in der Nähe des Büros einen Automaten, aber die eingeschränkten Zerstreuungsmöglichkeiten auf dem Raumschiff hatten zu der Gewohnheit geführt, auch kleine Unterbrechungen der Arbeit möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Um halb elf Uhr am Vormittag war die Cafeteria nur spärlich besetzt. Mit ihren Kaffeebechern ließen die beiden Männer sich an einem der Tische nieder.
»Derek, wo sind die Raumanzüge? Einen davon möchte ich ausprobieren. Natürlich nicht, solange wir zu unseren Absprungkoordinaten unterwegs sind. Ich würde mich aber einfach gerne mal mit der Technik vertraut machen. Irgendwann will ich aussteigen. Vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit dazu, bevor wir springen, oder eben dann nach dem Sprung.«
»Die Anzüge sind im Lager. Greg kann dir genau sagen, wo. Er hat ganz zu Anfang die aufgeführten Bestände überprüft. Es sind sechs Anzüge vorhanden. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass du dich mit ihnen vertraut machst. Es ist nämlich gar nicht so einfach. Wenn du willst, gehen wir gleich anschließend zu Greg.«
»Das Gefühl, ganz allein im Weltall zu schweben, mit nichts als einem dünnen Anzug als Schutz, muss großartig sein«, schwärmte Tom. »Oder sogar einen fremden Planeten betreten! Was hast du dabei empfunden, als du den ersten Schritt auf dem Mond getan hast?«
»Es war ein grandioses Gefühl! Etwas zu erleben, das vorher nur einer Handvoll Menschen vergönnt war. Am tollsten war es, am Himmel die von der Sonne angestrahlte Erde zu sehen und zu wissen: Von dort komme ich her!«
Dereks Gesicht hatte einen sehnsüchtigen Ausdruck angenommen. Diesen Anblick würde er nie wieder genießen können.
»Weißt du eigentlich«, fuhr der Captain dann überraschend fort, »warum ich Science-Fiction nicht mag? Weder Filme noch Bücher?«
Tom schüttelte den Kopf.
»Du hast das bisher nie erwähnt!«
»Weil sie da immer alles vorwegnehmen. Die Technik ist perfekt. Alles ist so einfach. Das All ist vollgestopft mit Planeten und Lebewesen. Im Gegensatz dazu sind die tatsächlichen Fortschritte in der Raumfahrt vernachlässigbar gering. Alles geht so langsam! Erst der Gravitationssprung ist ein wirklicher Meilenstein, der das, was in Science-Fiction schon lange Alltag ist, wenigstens in vorstellbare Nähe rückt. Und jetzt gibt es nicht einmal mehr eine Erde, deren Menschen sich über diesen Fortschritt freuen könnten! Und wir, die wir übriggeblieben sind, haben andere Probleme.«
»Falls es dir hilft: Ich für meinen Teil freue mich darüber!«, entgegnete Tom schmunzelnd.
Da musste auch Derek lachen.
»Irgendwie hast du mich heute in einer depressiven Phase erwischt. Komm! Suchen wir nach den Raumanzügen! Das wird mich aufmuntern. Ich freue mich jetzt schon darauf, dich auf dem Rücken liegen zu sehen wie ein zappelnder Käfer und dir beim Aufstehen helfen zu müssen.«
Als sie in Gregs und Frankas Büro kamen, entging Tom nicht, wie Franka bei ihrem Eintritt zusammenzuckte, um ihnen gleich darauf freundlich entgegenzulächeln. Selbst jetzt noch, nach einem halben Jahr, erschrak sie immer noch, wenn ein Mann zur Tür hereinkam, während sie alleine war. Und das war sie gerade, wo auch immer Greg stecken mochte.
»Hallo Franka! Kannst du uns sagen, wo die Raumanzüge aufbewahrt werden? Wo hat sich Greg versteckt? Ich habe noch nie erlebt, dass er nicht hier war, wenn ich gekommen bin. Ich hab's allerdings noch nie mitten in der Nacht probiert. Aber vermutlich wäre er auch dann da.«
»Ich kann gerne mal nachschauen, wo die Raumanzüge deponiert sind.« Frankas Finger huschten blitzschnell über die Tasten. »Was Greg anbelangt: Sogar er muss hin und wieder mal zur Toilette. Und essen und trinken muss er auch. Auf Alices Anweisung hin weigere ich mich, ihm etwas mitzubringen, damit er gezwungen ist, sich wenigstens minimal selbst zu bewegen.«
Tom und Derek grinsten. Gregs ungesunde Lebensweise war ein ständiges Streitthema zwischen Alice und dem Programmierer. Anscheinend hatte die pragmatische Ärztin aber hier einen Weg gefunden, Greg anzutreiben.
»Hier, ich hab's!«
»Was hast du?«
Greg war hereingekommen und warf einen kurzen Blick auf Frankas Bildschirm.
»Aha, die Raumanzüge! Lager 23. Na, das hätte ich euch auch ohne Computer sagen können.«
Franka seufzte. In hundert Jahren würde sie sich auch nicht einen Bruchteil dessen merken können, was Greg in seinem Kopf hatte. Sie neigte eher dazu, alles, was sie nachschauen konnte, sofort wieder aus ihrem biologischen Speicher zu löschen.
»Ihr habt's gehört: Lager 23. Greg hätte euch das natürlich auch ohne Computer sagen können. Manchmal frage ich mich, wozu überhaupt Computer in dieses Schiff eingebaut sind. Es hätte vollauf gereicht, Greg mitzuschicken.«
»Und was hättest du dann den ganzen Tag getan?«
Kaum hatte Greg diese Frage ausgesprochen, bereute er sie auch schon. Frankas mögliche Antwort, sie wäre dann vielleicht nicht gebraucht worden und hätte bei ihrer Familie bleiben können, lag zu nahe. Aber Franka lächelte nur.
»Treffen wir uns heute Abend im Casino?«, fragte Tom noch, bevor er zusammen mit dem Captain durch die Tür verschwand. Franka nickte.
Lager 23 war, wie die meisten Magazine, im untersten Stockwerk. Als sich die Tür sanft öffnete, um die beiden Männer einzulassen, blieben sie erstaunt stehen. Entweder war dies nicht Lager 23, oder der Computer hatte falsche Daten gespeichert: Der Raum war völlig leer.
Über seine Kommunikationseinheit rief der Captain Greg an. »Wir sind in Lager 23! Es ist leer. Prüfe doch bitte mal nach, ob wir etwas falsch mitbekommen haben!«
»Ihr habt es doch selbst gesehen«, erwiderte Greg. »Laut Computer müssen die Anzüge in Lager 23 sein. Wartet, ich sehe eben nochmal nach ... ja, die Anzüge sind genau dort.«
»Nun, das sind sie offensichtlich nicht. Vielleicht wurden die Informationen falsch eingegeben, oder jemand hat die Anzüge nachträglich noch umgelagert?«
»Der Inhalt der Lagerräume wird automatisch gescannt, da muss niemand etwas eingeben. Das funktioniert ähnlich wie früher auf der Erde beim Einkaufen mit den Einkaufswagen. Und aus diesem Grund kann auch niemand etwas falsch eingeben«, erklärte Greg.
»Und wieso wurde dann nicht ein leerer Raum gescannt?«, fragte Derek.
»Keine Ahnung! Eigentlich ist das unmöglich. Man muss das Programm schon bewusst manipulieren, um so etwas fertig zu bringen.«
»Du willst doch hoffentlich damit nicht sagen, dass keine Raumanzüge an Bord sind?« Die Stimme des Captains klang alarmiert.
»Bis jetzt will ich gar nichts sagen, außer dass offensichtlich der Inhalt eines Lagerraums nicht mit den gespeicherten Daten übereinstimmt. Ich schlage vor, wir vergewissern uns, wie es mit den anderen Lagern steht. Wir geben euch nacheinander durch, was in welchem Raum sein müsste, und ihr prüft es nach. Vielleicht finden wir auf diese Weise auch die Anzüge.«
Die Kontrolle der Lagerräume nahm den ganzen Rest des Tages in Anspruch. Derek hatte Terence auf die Brücke abkommandiert. Die Durchsicht der Lagerbestände war dem Captain im Augenblick wichtiger. Zwar konnte die Brücke ohne weiteres auch längere Zeit unbemannt bleiben, da sich etwaige Störungen durch Alarmmeldungen ankündigten und außerdem extrem unwahrscheinlich waren. Aber Derek wollte auch nicht das geringste Risiko eingehen.
Franka und Greg meldeten die unter den einzelnen Lagernummern aufgeführten Gegenstände, Tom und Derek prüften deren Vorhandensein und Menge. Abgesehen von einer kleinen Mittagspause arbeiteten sie konzentriert, bis sie abends um zehn den letzten Lagerraum verließen. Der Captain hatte den Ersten Offizier über die sonderbare Entdeckung informiert, sonst aber niemanden. Er hielt nichts davon, Unruhe auf dem Schiff zu verbreiten, bevor sie wussten, ob dazu überhaupt Anlass bestand.
Die drei Piloten und die beiden IT-Spezialisten trafen sich in der Computerzentrale.
»Also, rekapitulieren wir.« Derek klang erschöpft. »Es fehlen die Raumanzüge, die Wartungsroboter für Reparaturen an der Außenwand und die Raumgleiter. Alles andere ist wie verzeichnet vorhanden.«
Die sorgenvollen Gesichter seiner Kollegen zeigten Derek, dass sie die Tragweite dieser Erkenntnis durchaus verstanden hatten.
Schließlich war es Terence, der die Sache auf den Punkt brachte: »Das heißt im Klartext, wir können das Raumschiff nicht verlassen. Zumindest nicht, solange wir uns im All befinden. Die einzige Chance für uns besteht darin, einen Planeten zu finden, dessen Lebensbedingungen mit denen auf der Erde vergleichbar sind.«
Tom drückte es noch etwas drastischer aus: »Das heißt außerdem, wir sind erledigt, sobald eine Reparatur an der Außenhaut der Rakete oder an irgendwelchen Bereichen nötig wird, für die Raumanzüge notwendig wären. Verdammt! Wie ist so eine Schlamperei möglich?«
»Das ist keine Schlamperei.« Gregs Stimme klang fest. »Die Programme müssen manipuliert worden sein, um Dinge anzuzeigen, die aber in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Es ist ziemlich aufwändig, so etwas zu programmieren. Das kann kein Versehen sein. Jemand hat uns absichtlich in die Irre geführt!«
»Aber warum? Technisch gesehen sind Reparaturen an der Außenhaut zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Auf den stationären Raumstationen waren sie an der Tagesordnung. Wer hätte Interesse daran, den Erfolg dieser zehn Jahre lang geplanten Rettungsaktion zu gefährden? Was sind ein paar Raumanzüge, Roboter und Gleiter im Vergleich zu dem Gesamtprojekt?«
Terence hatte mit seiner üblichen undurchschaubaren Miene zugehört. Nun räusperte er sich. »Für mich sieht es so aus, als ob jemand verhindern wollte, dass einer von uns das Raumschiff verlässt, solange wir uns im All befinden. Aber warum? Was hätte das für einen Sinn?«
»Kann es eine Einzelaktion von einem Programmierer gewesen sein? Einer, der uns das Überleben nicht gegönnt hat?«
»Wenn, dann käme dafür nur Andreaz Vukinokz in Frage.«
»Ist das denkbar? Ich selbst habe Vukinokz nie kennengelernt. Mit den Programmierarbeiten hatte ich nichts zu tun. Wenn er so genial war, wie ihr behauptet, warum ist er dann nicht selbst hier? Ohne deine Fähigkeiten herabwürdigen zu wollen, Greg, aber er kannte die Programme doch schon in- und auswendig.«
Dereks Frage richtete sich an Greg und Terence, die einzigen, die den Starprogrammierer gekannt hatten.
Terence wiegte zweifelnd den Kopf. »Er war wohl ein Genie. Aber Genialität und Wahnsinn liegen ja bekanntlich nahe beieinander. Vielleicht hat er irgendwann diese Grenze überschritten? Ich habe ihn als ziemlich exzentrischen Menschen kennengelernt. Auch hat er mehrmals zum Ausdruck gebracht, seiner Ansicht nach sei es um die Menschheit nicht schade, das Universum wäre ohne Menschen besser dran. Vielleicht ist er auch aus diesem Grund nicht auf dem Raumschiff. Außerdem war er schon älter. Er hatte die Siebzig schon überschritten. Von uns ist keiner über fünfzig Jahre alt. Ich nehme an, das Alter war ein Auswahlkriterium.«
Greg nahm sein Idol sofort in Schutz: »Er war exzentrisch, ja, aber das Gerede von einem verdienten Untergang, das war nur eine Masche von ihm. Er hat die Leute absichtlich vor den Kopf gestoßen, einfach, weil es ihm Spaß gemacht hat. Ich war bei ihm zu Hause, damals, als wir zum einzigen Mal das Gelände verlassen durften. Bei dieser Gelegenheit habe ich seine beiden Enkel kennengelernt. Zwei reizende Kinder. Da hat er zu mir gesagt: ›Das sind die Menschen, derentwegen es sich lohnt, die Menschheit zu erhalten. Weil immer wieder solche Exemplare darunter sind.‹ Vukinokz stand voll und ganz hinter der Sache. Wenn er für diese sonderbare Programmierung verantwortlich ist, dann muss es dafür einen guten Grund geben.«
»Dann müssen wir nur noch herausfinden, welchen!«, bemerkte Tom sarkastisch. Das Fehlen der Ausrüstungsgegenstände hatte ihn zutiefst verunsichert. Bis jetzt hatte er sich im All wohlgefühlt, in dem sicheren Glauben, für alle Eventualitäten ausreichend gerüstet zu sein. Nun schien es, dass es sich um eine trügerische Sicherheit gehandelt hatte. Sie waren nun ein Jahr ohne einen Zwischenfall unterwegs. Das konnte sich innerhalb von Sekunden ändern. Der kleinste Meteorit, dem sie nicht ausweichen konnten, würde das Ende des Raumschiffs und seiner Bewohner bedeuten. Zorn stieg in Tom auf, das sah man seinem Gesicht deutlich an. Die Tatsache, dass alle, die er für dieses Versäumnis hätte verantwortlich machen können, tot waren, änderte daran überhaupt nichts.
»Können wir Raumanzüge herstellen?«, fragte der Captain. »Oder wenigstens einen Roboter, der in der Lage wäre, kleinere Reparaturen an der Außenwand durchzuführen? Vielleicht könnten wir einen der Innenroboter entsprechend umbauen?«
»Dazu müssten wir die Ingenieure befragen. Das Programmieren eines solchen Roboters traue ich mir schon zu, aber ob wir die technischen Voraussetzungen dazu haben, wage ich nicht zu beurteilen.«
»Wen könnten wir fragen? Ich will die Sache geheim halten. Im Augenblick ist es auf dem Schiff ruhig, das soll auch so bleiben. Die Leute haben schon mit genug Ängsten zu kämpfen. Zur Lösung des Problems können sie sowieso nichts beitragen.«
»Wie wär's mit Francine und Jeremias?«, schlug Terence vor. »Beide waren am Bau der Raumgleiter beteiligt. Deswegen haben sie vermutlich in diesem Punkt am meisten Ahnung.«
Der Captain nickte nach kurzer Überlegung zustimmend.
»Gut! Setzen wir uns gleich morgen früh mit ihnen zusammen. Heute erreichen wir sowieso nichts mehr. Außerdem habe ich Hunger. Wer geht mit ins Casino?«
Diesmal schloss sich ihnen sogar Greg an.
Auf ihrem Weg zum Abendessen fragte Tom: »Was ist mit Alice und Melanie? Können wir sie einweihen? Alice merkt sofort, wenn ich ihr etwas verschweige, und dann lässt sie mir keine Ruhe. Mir wäre es ehrlich gesagt auch lieber, wenn sie Bescheid wüsste.«
»Wenn die anderen keine Einwände haben, schenken wir Alice und Melanie reinen Wein ein. Mir geht es da ebenso wie dir. Melanie wittert auch sofort, wenn etwas nicht stimmt. Schlimmstenfalls vermutet sie eine andere Frau hinter meiner Geheimnistuerei und macht mir die Hölle heiß.«
Trotz der allgemeinen bedrückten Stimmung lachten alle. Terence hatte den Arm um Franka gelegt. Solche kleinen Zärtlichkeiten gestattete sie ihm gerne, und zwar nicht nur, um den anderen ein überzeugendes Schauspiel vorzuführen. Sie mochte inzwischen seine Nähe und sie genoss es, seine sanften Hände auf ihren Schultern zu spüren. Nach wie vor begleitete er sie überall hin und verließ sie nur, wenn er sie in der Gesellschaft von Greg, Tom, Alice, Derek oder Melanie wusste. Abends zog er sich in sein Schlafzimmer zurück und eilte nur zu ihr hinüber, wenn sie einen ihrer mittlerweile seltener werdenden Alpträume hatte.
Melanie und Alice hatten sich nach ihrem Tagwerk daran gemacht, sich gegenseitig die Haare zu schneiden. Denn einen Friseur gab es nicht an Bord. Dieser Beruf war als nicht überlebensnotwendig erachtet worden. Nach einem Vierteljahr, als die Ersten darüber klagten, bald nicht mehr aus den Augen sehen zu können, sann man auf Abhilfe. Manche der Männer entschlossen sich, ihrem Haarschopf einfach mit dem Rasiermesser zu Leibe zu rücken. Andere ließen das Haar wachsen und banden es, als es lang genug war, zusammen. Genauso machten es die meisten Frauen. Dennoch aber musste die Frisur hin und wieder in Form gebracht werden. Jeder an Bord, der einen Haarschnitt nötig hatte, verfügte zur Erledigung dieses kleinen Problems über eine Freundin oder einen Freund. Natürlich revanchierte man sich im Gegenzug mit demselben Dienst. Franka hatte ihr dichtes glattes Haar bis jetzt einfach wachsen lassen. War es beim Start etwas über kinnlang gewesen, so reichte es jetzt schon bis zur Schulter. Meist band sie es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Auch Terences Haare wurden länger und länger. Die meisten Frauen beneideten ihn um seine dichten schwarzen Locken, die er mit einem Stirnband in Zaum hielt. Tom und Derek konnten sich weder zum Kahlschlag noch zu langem Haar entschließen und hatten sich deswegen Melanies Künsten anvertraut. Und sie hatte ihre Sache wirklich ordentlich gemacht, wenn auch nicht ganz so perfekt wie ein professioneller Friseur.
Als Melanie und Alice fertig waren, genehmigten sie sich ein Glas Sherry, während sie auf Tom und Derek warteten. Die beiden Frauen waren zwar über die erfolgte Überprüfung der Lagerräume unterrichtet, kannten aber noch nicht den Grund für diese Maßnahme. Nachdem sich Derek und Tom auch etwas zu trinken eingeschenkt hatten, legte der Captain die Karten auf den Tisch.
Zunächst herrschte betroffenes Schweigen. Schließlich sagte Melanie: »Welchen Grund kann es dafür gegeben haben? Vor allem, warum die Täuschung? Warum sollen wir irrtümlich glauben, die entsprechende Ausrüstung an Bord zu haben? Das ergibt doch keinen Sinn! Nicht auszudenken, wenn bereits wirklich eine Situation eingetreten wäre, bei der jemand das Schiff hätte verlassen müssen und wir dann erst das Fehlen der Anzüge oder Skater bemerkt hätten!«
Keiner wusste eine Antwort auf Melanies Fragen. Die Hoffnung, mit Hilfe der Ingenieure und von Greg und Franka wenigstens teilweise Abhilfe schaffen zu können, war nur eine geringe Beruhigung, solange sie Francine und Jeremias nicht um Rat gefragt hatten. Ein bedrohlicher Schatten hatte sich über die Gemüter gelegt – gerade jetzt, wo sich nach dem aufregenden ersten Jahr ihrer Reise durchs All an Bord ein wenig Ruhe eingestellt hatte.
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