Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman
Sommer 1994
Im Flur klingelte das Telefon. Hanna ignorierte es. Es würde ja sowieso nicht für sie sein. Bei einem Dutzend Mädchen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren auf demselben Flur des Ulmer Kinder- und Jugendheimes Paulinenpflege war die Wahrscheinlichkeit gering. Meistens war es für Melanie, deren Freund gefühlt zehnmal am Tag anrief. Melanie war auch schon fast sechzehn. Hanna war vierzehn und hatte keinen Freund. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, einen Freund zu haben. Der sah dann immer so aus wie Jens. Allerdings war Jens Simones Freund, und Simone war Hannas beste Freundin. Trotzdem: Wenn Jens sie ansah, spürte Hanna seinen Blick bis in ihre Zehenspitzen.
Die Tür flog auf. »Für dich!«
Schon war Katrin wieder weg und Hanna hörte, wie die Tür von Katrins Zimmer, zwei Räume weiter, zuknallte. Der Telefonhörer baumelte an seinem geringelten Kabel.
»Schaff’ dir endlich mal ein Handy an!«, schallte es gereizt aus der Membran. Und dann: »Kommst du mit ins Freibad?«
So etwas konnte nur von Simone kommen. Als ob sich Hanna ein Handy leisten könnte! Seit Simone diese neue Erfindung zum Geburtstag bekommen hatte, genoss sie die neidvolle Bewunderung aller ihrer Mitschüler.
»Wolltet ihr nicht zum Baggersee?«
»Das Einzige, was ich will, ist, diesen Kerl nie wiedersehen! Kommst du jetzt mit oder nicht?«
Hanna zögerte. Wenn Simone mit Jens gestritten hatte, dann war sie unerträglich.
»Okay, aber erst in einer halben Stunde. Ich muss noch was fertig machen.«
»Um vier am Eingang!«
Ungeduldig von einem Bein auf das andere tretend wartete Simone bereits vor dem Donaubad, obwohl Hanna bereits fünf Minuten vor vier Uhr ihr Fahrrad an einen der wenigen noch freien Fahrradständer anschloss.
»Na endlich! Ich bin fast geschmolzen!«
Die beiden Mädchen passierten das Drehkreuz und tauchten in den Lärm des Freibades ein. Schweigend und mit finsterem Blick drängte sich Simone, deren Mund sonst in Hannas Gegenwart nur selten stillstand, durch die Badegäste. Mit ihren Flip-Flops trat sie rücksichtslos auf Handtücher und Decken, die auf dem Rasen ausgebreitet waren, im Weg liegende Taschen oder Spielsachen stieß sie wütend beiseite. Hanna folgte in Simones Kielwasser und warf den empörten Badegästen entschuldigende Blicke zu. Auf diese Weise näherten sich die Freundinnen dem Bereich der Liegewiese, an dem sie sicher sein konnten, eine beachtliche Anzahl gleichaltriger Mädchen und Jungen aus ihrer Schule anzutreffen.
»Wo ist Jens?« Eva war, daraus machte sie keinen Hehl, in Jens verknallt.
»Der ist explodiert. Hast du den Knall nicht gehört?«
Sichtlich frohlockend hakte Eva nach: »Habt ihr gestritten?«
Verächtlich schnaubend drehte Simone der Klassenkameradin den Rücken zu. Dann streifte sie ihr hautenges Minikleid ab.
»Komm! Gehen wir ins Wasser!«, schnauzte sie Hanna an. Die entledigte sich rasch ihrer Shorts und des T-Shirts, dann folgte sie der Freundin zum Sportbecken.
Schwimmen war in diesem Hexenkessel nahezu unmöglich, und so setzten sich die beiden Mädchen nach kurzer Abkühlung auf den Beckenrand und ließen die Beine im Wasser baumeln. Wenig später waren sie von anderen – vor allem männlichen – Jugendlichen umringt. Hanna wusste genau, dass es nicht ihre Anwesenheit war, die diesen Effekt bewirkte. Die Jungs mochten Hanna zwar und unterhielten sich gerne mit ihr, bei Simone hingegen dachte keiner von ihnen an tiefgehende Gespräche. Und da Jens nicht in der Nähe war, witterten sie eine Chance.
Hanna schloss die Augen und gab sich dem wohltuend kühlenden Gefühl der Wassertropfen hin, die auf ihrer Haut verdampften. Nach und nach schien der Lärm um sie herum in den Hintergrund zu rücken, ein Bild nahm in ihrem Kopf Gestalt an: Das Wasser, die Menschen, die Hektik, alles wurde zu Farbe! Die Konturen verschwammen zu Flecken und Tupfern. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wusste Hanna, wie sie in ihrer Vorstellung Objekte auf ein absolutes Minimum reduzieren konnte, ohne aber das Wesentliche dabei aus dem Blick zu verlieren. Im Gegensatz zu Karikaturisten, die mit wenigen Strichen Motive in ihren Konturen wiedergaben, reduzierte Hanna das, was sie sah, auf Flächen. Ein schwarzer Bogen, ein paar leicht bräunliche Tupfer, ein blaues Feld: Simone im Wasser, klar und unverkennbar. Nichts von der Schönheit der Freundin ging dabei verloren. Hanna malte ihre Bilder immer zuerst im Kopf. Auf die Leinwand oder auf Papier übertrugen sie sich dann fast von selbst.
»He, träumst du von mir?«
Ein Wasserfall ergoss sich über Hanna. Mit seinen achtzig Kilo war Dieter direkt vor ihr ins Becken geplatscht. Hanna lachte. Im Gegensatz zu Simone, die Dieter verachtete, mochte sie den Jungen. Er war fröhlich und witzig. Nun hievte sich Dieter schwerfällig aus dem Wasser und platzierte seinen massigen Körper neben Hanna auf den Beckenrand, genau dorthin, wo kurz zuvor noch ihre Freundin gesessen hatte.
»Falls du Miss Universum vermisst, die macht sich gerade an Mark ran. Oder umgekehrt.«
Dieter zeigte auf eine Stelle im Wasser, wo Simone und Mark sich gegenseitig unterzutauchen versuchten. Dabei amüsierten sie sich offensichtlich köstlich. Keine Spur mehr von schlechter Laune bei Simone.
»Ist die Jens-Ära vorbei, oder handelt es sich nur um eine Zwischeneiszeit?«, fragte Dieter.
»Keine Ahnung! Wahrscheinlich eine Zwischeneiszeit.«
Eine Weile schauten die beiden Jugendlichen vom Beckenrand aus schweigend dem Treiben im Wasser zu.
»Spielst du mit Beachball?«
Wie aus dem Nichts waren Klaus, Türke und Geli aufgetaucht und schauten Hanna auffordernd an. Türke hatte einen Volleyball unter den Arm geklemmt.
»Wenn du mich verlässt, suche ich den Freitod. Heute Abend wird meine aufgeschwemmte Wasserleiche aus dem Becken gefischt werden. Du wirst es dir niemals verzeihen!«
Theatralisch verdrehte Dieter die Augen und ließ sich rückwärts ins Wasser plumpsen. Die anderen lachten. Die Mühe, ihn zum Mitspielen aufzufordern, machte sich keiner der Vier. Dazu erfüllte ihr Mitschüler nicht den sportlichen Maßstab.
»Der sieht als Wasserleiche auch nicht viel anders aus.« Gelis kleine Bosheit wurde von den anderen mit Schmunzeln quittiert.
Eine Weile spielten die vier Jugendlichen mit ziemlich ausgeglichenem Punktestand, auf der einen Seite des Netzes Türke und Hanna, auf der anderen Klaus und Geli. Plötzlich tauchte Jens am Rand des Sandfeldes auf.
»Falls du Simone suchst, die amüsiert sich gerade mit Mark«, sagte Klaus taktlos.
»Tu ich nicht.«
Jens' Anwesenheit brachte Hanna aus dem Konzept. Sie machte Fehler und ärgerte sich darüber. Geli ging es offensichtlich ebenso: »Mir reicht's! Du kannst für mich rein.« Damit übergab sie Jens den Ball.
Nachdem der neue Mitspieler Türke zu Klaus auf die andere Seite geschickt hatte, waren die Mannschaften wieder halbwegs ausgeglichen. Angefeuert von den Zuschauern, die sich am Rand des Sandfeldes angesammelt hatten, prellten die vier Spieler unter vollem Körpereinsatz abwechselnd den Ball über das Netz. Doch plötzlich wechselte die Stimmung: Simones Erscheinen ließ Ärger erahnen. Ihr Streit mit Jens hatte sich schnell herumgesprochen und alle kannten Simone: Wenn sie hier, in der Nähe von Jens, auftauchte, dann sicher nicht, um sich entspannt das Match anzuschauen. Die konzentrierten Spieler bemerkten als Letzte den plötzlichen Stimmungsumschwung. Simones Anblick animierte Türke zu einem besonders aggressiven Schlag. Schmerzhaft traf der Ball Hannas Ohr.
»Sorry!«, entschuldigte sich der Junge, fügte aber gleich rechtfertigend hinzu: »Pass eben auf!«
Benommen setzte sich Hanna in den Sand. Sie sah nur noch Sternchen. Jens ignorierte Simones giftige Blicke, kniete sich neben Hanna nieder und fragte besorgt: »Alles in Ordnung? Soll ich einen Sanitäter holen?«
»Quatsch!«
Das Dröhnen in Hannas Ohr ließ schon wieder nach, die Nebel verzogen sich, auch die leichte Übelkeit verflog. Dass Hanna sich beim Aufstehen auf Jens' bereitwillig dargebotenen Arm stützte, konnte ihr ja wohl niemand verübeln. Als sie leicht schwankte, spürte sie sofort den festen Griff des Jungen um ihre Taille. Schnaubend machte Simone auf dem Absatz kehrt und ließ die Gruppe stehen.
»Dicke Luft!«, konstatierte Geli trocken.
Am nächsten Tag, in der Pause, löste sich Jens von der Gruppe seiner Freunde und wandte sich Hanna zu, die mit Simone und eine paar anderen zusammenstand.
»Na, wie geht's? Hast du noch Probleme mit deinem Ohr?«
Hanna warf Simone einen vorsichtigen Seitenblick zu, konnte ihre Freude aber nicht verbergen.
»Danke! Alles in Ordnung«, sagte sie und lächelte Jens an.
»Hey Hanna, sag bloß: Ist Jens jetzt in dich verknallt? Wenn ich du wäre, ich würde sofort zugreifen!«
Voller Neid blickte Andrea Jens nach, der wieder zu seiner Clique zurückschlenderte. Auch die anderen Mädchen machten mehr oder minder gehässigen Bemerkungen. Das war ihre Rache dafür, dass Simone bei den Jungs so gut ankam.
Simone starrte finster vor sich hin. Zu gerne hätte sie mit Hanna Streit angefangen, aber das konnte sie sich im Augenblick nicht leisten. Am kommenden Freitag war nämlich Sporttag und Simone hatte nicht die geringste Absicht, an diesem schulischen Ereignis teilzunehmen. Trotz ihrer Größe und ihrer schlanken Figur war sie unsportlich, was zum größten Teil auf ihre Faulheit zurückzuführen war. In einen Sandkasten zu hüpfen oder Kugeln durch die Gegend zu stoßen, dem konnte sie absolut nichts abgewinnen. Deshalb brauchte sie eine Entschuldigung, und die würde Hanna ihr beschaffen. Hanna konnte nämlich jede beliebige Schrift perfekt imitieren, beispielsweise die Unterschrift von Simones Vater. Schon häufig hatten die beiden Mädchen das ausprobiert. Und natürlich bekam Simone auch dieses Mal ihren Willen. Hanna war froh, durch diesen Gefallen Simones Gunst erneut zu gewinnen und den Frieden wiederherstellen zu können und die beiden Mädchen verabredeten sich für den Abend im Jugendhaus.
Die alte Villa, an die sich ein wunderschöner alter Park anschloss, war von der Stadt als Begegnungsstätte für Jugendliche zur Verfügung gestellt worden. Die Schatten der großen Bäume und ausladenden Büsche waren zum Knutschen ideal. Dass die Zärtlichkeiten nicht zu weit gingen, dafür sorgten ein paar Aufsichtspersonen, die hin und wieder einen Kontrollgang durch den Park machten und die beliebtesten Winkel genau kannten.
Im Innern des Gebäudes machte die laute Musik jegliche Unterhaltung unmöglich. Jeder tanzte mit jedem. Alkohol wurde nicht ausgeschenkt. Es gab Cola, Säfte und Mineralwasser.
Auch Jens war anwesend. Schon lange interessierte er sich für Hanna. Der Umstand, dass sie Simones beste Freundin war, gab dem Ganzen in seinen Augen noch zusätzliche Würze. Absichtlich hatte er den Streit mit Simone provoziert, denn nach einem Jahr mit ihr hatte Jens nun wirklich genug. Es gab nichts mehr, was ihn an dem Mädchen reizte. Zugegeben, Simone war eindeutig die schönste Frau der ganzen Schule, da konnte ihr keine das Wasser reichen, aber sie war auch launisch und schrecklich verwöhnt. Bei Hanna lagen die Dinge ganz anders. Wahrscheinlich hatte sie bisher noch nicht einmal einen Jungen geküsst. Diesen Zustand hatte Jens in seiner Fantasie schon seit langem und häufig geändert. Aber leider war Hanna eine loyale Freundin Simones, deshalb musste er vorsichtig zu Werke gehen. Einen Plan hatte er sich für sein Vorhaben auch schon zurechtgelegt. Jens kannte Simone genau: Jedes Mal, wenn er mit Hanna redete, schäumte Simone vor Wut. Damit konnte er einen Keil zwischen die beiden Mädchen treiben, was irgendwann zum endgültigen Bruch führen und den Weg für ihn freimachen würde. Keine Sekunde zweifelte Jens daran, bei Hanna Erfolg zu haben.
Doch heute Abend versuchte Simone, den Exfreund zu provozieren, indem sie ungeniert mit den Jungs in seiner Begleitung flirtete. Jens dagegen flirtete mit Hanna. Insgeheim hatte sich Hanna zwar ersehnt, Jens wäre an diesem Abend auch da, aber nun, da sich ihr Wunsch erfüllt hatte, wurde die Situation doch zunehmend unangenehm. Sosehr sie auch die Aufmerksamkeit des Jungen genoss, mochte sie doch die Freundin nicht allzu offensichtlich verärgern. Deshalb verließ Hanna in einem unbeachteten Augenblick das Jugendhaus. Vorbei an verschlungenen Pärchen flanierte sie den Weg entlang, bis sie eine einsame Stelle gefunden hatte. Dort setzte sie sich auf einen Holzstapel, schlang die Arme um die Knie und genoss nach dem Dröhnen der Musik und dem Kreischen der Stimmen die Ruhe.
An diesem schönen klaren Sommerabend funkelten die hellsten Sterne des Nachthimmels stärker als das künstliche Leuchten der Donaustadt Ulm. Die Augen dem Sternenzelt zugewandt rief sich Hanna den Nachmittag vor zwei Tagen ins Gedächtnis. Wie so oft war sie nach der Schule zur Donau gejoggt. Ein Stück am Ufer des Flusses entlang und dann wieder zurück zur Paulinenpflege, das waren ungefähr acht Kilometer. Und ungewöhnlicherweise war ihr Jens begegnet. Hanna war nicht dumm: Das konnte kein Zufall gewesen sein! Jens hatte diese Begegnung absichtlich herbeigeführt. Zusammen waren die beiden Jugendlichen weitergelaufen, und das hatte Spaß gemacht, genauso wie das Beachball-Spiel nach dem Auftauchen von Jens noch schöner geworden war.
Hannas angenehme Gedanken wurden unterbrochen, als plötzlich eine Gestalt aus dem Schatten auftauchte. Jens! Rasch kletterte Hanna von dem Holzstapel herunter. Als wäre das völlig selbstverständlich, fassten sie und Jens sich an den Händen und verließen gemeinsam das Gelände des Jugendhauses.
Vierzehn Tage später
Hanna war auf dem Waldparkplatz angekommen und wartete auf Jens. In der Paulinenpflege stand man der Freundschaft eines knapp vierzehnjährigen Mädchens mit einem älteren Jungen etwas skeptisch gegenüber, deshalb zogen die beiden es vor, ihre junge Liebe geheim zu halten. Hanna hätte nur riskiert, über jeden ihrer Schritte Rechenschaft ablegen zu müssen. Da sie aber schon immer die Angewohnheit hatte, mit Asco, dem Schäferhund des Heimes, ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen, fiel ihre nun oft lange Abwesenheit nicht weiter auf.
Schon von weitem hörte Hanna das Zweirad den Kiesweg entlang rattern. Jens hatte die Vespa Cosa 125 zu seinem sechzehnten Geburtstag bekommen. Sie war bis vor kurzem noch sein größter Stolz gewesen. Hingebungsvoll hatte er sie gepflegt, auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Die Drosselung des Motors, die das Gesetz verlangte, solange Jens noch nicht achtzehn war, hatte er eigenhändig ausgebaut. So schaffte die Maschine locker über einhundert Stundenkilometer!
Nun aber stellte er den Roller achtlos auf dem Wanderparkplatz ab und verstaute Helm und Lederjacke im Bordcase, alles unter den stürmischen Freudenbezeugungen Ascos, der einen ausgedehnten und interessanten Spaziergang erhoffte. Hanna wartete, bis der Hund sein Begrüßungsbedürfnis gestillt hatte und die Gerüche der Waldtiere ihn wieder in Bann zogen.
Warum sie plötzlich vor dem Kinder- und Jugendheim stand, in dem Hanna seit ihrer Geburt lebte, hätte Simone sich selbst nicht erklären können. Niemals würde sie zugeben, die Freundin zu vermissen. Seit jenem Tag im Jugendhaus, an dem Jens sich an Hanna herangemacht hatte, strafte sie die Freundin mit gespielt gleichgültiger Nichtbeachtung. Aber Simone war stinksauer. Ihre beste Freundin hatte sie verraten und hintergangen. Zweifellos wäre Jens wie schon so oft zuvor bald wieder zerknirscht vor ihrer Tür gestanden, wenn sich Hanna nicht eingemischt hätte. Das konnte Simone keinesfalls widerstandslos hinnehmen!
Jetzt allerdings war Hanna nicht zu Hause. Die ehemalige Freundin hatte das Gelände kurz zuvor mit dem Hund verlassen, wie Simone von einem kleinen Jungen erfuhr, der auf dem Hof mit seinem Fahrrad Kreise zog. Wohin Hanna sich verkrümelt hatte, war nicht schwer zu erraten, da die Straße in der einen Richtung direkt in die Stadt und in der anderen auf Felder und in den Wald führte. Simone lag richtig, als sie den schmalen Feldweg nahm: Schon bald konnte sie Hannas vertraute Gestalt in der Ferne ausmachen. Aber Hanna war nicht allein. Eine andere, ebenfalls sehr vertraute Gestalt war bei ihr.
Von einer Welle des Verlustes und der Wehmut überschwemmt wartete Simone regungslos, bis die beiden Verliebten im Wald verschwunden waren. Langsam verwandelte sich der Schmerz über das, was sie da gesehen hatte, in blanken Hass. Sie setzte ihren Weg fort und kam auf den Wanderparkplatz, auf dem Jens seinen Motorroller geparkt hatte.
Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Rasch trat sie auf den Roller zu, holte Werkzeug aus dem Helmfach und lockerte die Befestigung des Bremszuges am Vorderrad. Während ihrer Freundschaft mit Jens hatte Simone ihm oft zugesehen, wenn er an dem Fahrzeug herumgebastelt hatte. Stundenlang musste sie seinen technischen Ausführungen lauschen und so tun, als ob es sie brennend interessieren würde, während sie nur mühsam ihr Gähnen unterdrücken konnte. Damals hatte sie nicht erwartet, dieses Wissen einmal so nutzbringend anwenden zu können. Sorgfältig verstaute sie das Werkzeug wieder und verschwand mit klopfendem Herzen. Das Ergebnis ihrer Bemühungen wollte sie nicht vor Ort abwarten.
Der Waldspaziergang fiel an diesem Tag für die beiden Liebenden etwas kürzer aus als sonst, da Jens am Abend Basketballtraining hatte. Kurz nach siebzehn Uhr trennten sie sich nach einer zärtlichen Umarmung auf dem Parkplatz und Jens bestieg seinen Roller. Er war spät dran und beschleunigte schon auf dem Kiesweg. Die Einfahrt zur Bundesstraße war übersichtlich und frei. Ohne zu bremsen, bog er mit Schwung auf die Hauptstraße ein und beschleunigte weiter. Nach einem halben Kilometer kam eine Kreuzung. Die Ampel stand auf Rot, vor ihr stauten sich die Autos im Abendverkehr. Jens bremste. Der Roller jedoch machte nur einen kurzen Ruck und schoss dann mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Jens spürte, wie Panik eiskalt in ihm aufstieg. Trotzdem schaffte er es, sein Gefährt links an der Autoschlange vorbei zu lenken. Genau in diesem verhängnisvollen Augenblick bog ein Bus von rechts in die Hauptstraße ein.
Am nächsten Morgen, in der dritten Stunde, erklang in allen Klassenzimmern eine Durchsage des Rektors. Er forderte sämtliche Schüler auf, unverzüglich in die Aula zu kommen. Dort teilte er ihnen mit gemessener Stimme, die seine innere Aufgewühltheit verriet, mit, dass am Abend zuvor ihr Mitschülers Jens Dreher aus der Klasse 10B mit seinem Roller tödlich verunglückt war. Der Schulleiter bat alle Lehrer und Schüler, eine Gedenkminute für den Verstorbenen einzulegen.
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