Lose Enden Band 1 - Kapitel 2



Mona Kim Lose Enden Band 1 Roman
 
Donnerstag, 11. Januar 2007

In ausgezeichneter Stimmung stellte Krister Ullrik sein Auto auf dem Universitätsparkplatz ab. Nicht einmal die Tatsache, dass er wegen seiner späten Ankunft nur noch einen der am weitesten vom Gebäude entfernten Parkplätze ergattert hatte, trübte seine Laune. Pfeifend legte er die etwa hundert Meter zum Eingang zurück. Seiner Meinung nach gab es für die beschwingte Stimmung auch gute Gründe, hatte er doch am Abend zuvor bei einem Konzert im Edwin-Scharff-Haus eine wunderschöne Frau kennengelernt. Alles sprach dafür, dass sich aus dieser Begegnung eine interessante und zumindest zeitweilig befriedigende Verbindung entwickeln würde.

Die Ulmer Universität war mit knapp 9.000 Studenten eine sehr kleine Hochschule. Es gab dort nur vier Fakultäten, wobei der klare Schwerpunkt auf der Medizin lag. Mehr als die Hälfte aller Studenten und Angestellten forschten und arbeiteten im medizinischen Bereich. Ansonsten gab es nur noch die Fakultät Naturwissenschaften, die Chemie, Physik und Biologie einschloss, die Fakultät Mathematik und die Fakultät Informatik.
Krister betrat das Gebäude durch den Nordeingang, machte einen kurzen Abstecher zum Sekretariat seiner Fakultät, um die Post abzuholen, und begab sich dann direkt ins Kellergeschoss, wo in einem großen, fensterlosen Raum das physikalische Versuchslabor untergebracht war. Das kleine, vierköpfige Team, dessen Leiter Krister war, arbeitete auf dem Gebiet der organischen Halbleiter. Die Schaltkreise auf der Basis von organischen Feldeffekttransistoren erlaubten in Kombination mit organischen lichtemitierenden Dioden (OLED) die Fabrikation von flexiblen Displays. 
Im Labor herrschte schon geschäftiges Treiben. Die langen, dünnen Beine des Technikers und Elektronikers Bernd Kramer ragten unter der Versuchsapparatur hervor. Der Inder Arun Kanwar, Physiker wie Krister, versuchte, nach Bernds Anweisungen eine Schraube an einer gefühlt völlig unzugänglichen Stelle festzuschrauben. Das vierte Mitglied des Teams, die zierliche und resolute Informatikerin Irene Wildermuth, saß vor ihrem Computer-Bildschirm und erzeugte dort rätselhafte Grafiken. Dabei unterhielt sie wie üblich die anderen durch pausenloses Geplapper. Drei verschiedene, aber gleichzeitig vorgebrachten Grüße schallten Krister entgegen: ein schwäbisch-ironisches »Au scho do!«  von Bernd, ein exakt hochdeutsch artikuliertes »Guten Morgen, Krister« von Arun und das legere »Hi, Kris« von Irene.
Bernd lugte unter der Versuchsanordnung hervor und meinte zufrieden: »Du kommsch grad’ recht. I han a neia Eistellung ausprobierd. Guck dr des amol o.« 
»Sofort!«, antwortete Krister, während er seine Post öffnete. Ein Brief von der Fakultätsleitung interessierte ihn besonders.
»Sehr gut!«, seufzte er befriedigt, nachdem er die Zeilen überflogen hatte. Er reichte das Schreiben an Arun weiter. »Sie haben uns die halbe CTA-Stelle genehmigt. Ich setze heute noch eine Annonce für die Südwest-Presse auf. Vielleicht haben wir dann zum 1. Mai schon jemanden.«
»Hoffen wir es. Du kennst meine Befürchtungen. Die Tetracen-Synthese ist schon sehr anspruchsvoll. Wenn wir dann zu höheren Acenen übergehen, brauchen wir jemanden, der auf diesem Gebiet Erfahrung hat. Ich weiß nicht, ob die Ausbildung zum Chemisch-technischen Assistent da ausreicht.«
Arun war von Natur aus skeptisch veranlagt.
»Da hast du sicher Recht, aber Ralf hat versprochen, uns zu unterstützen. Er hat seine Diplomarbeit über die Synthese von Oligoacenen geschrieben. Ich denke, da hat er genügend Erfahrung gesammelt. Mir wäre ein Chemiker oder eine Chemikerin auch lieber, aber so eine Stelle wird uns nie genehmigt. Falls es nicht klappt, müssen wir uns etwas anderes überlegen. Vielleicht in Zusammenarbeit mit einer anderen Universität.«
»Falls´r jetzd amol ferdig send, kenna mr vielleicht ofanga?« 
Verwaltungsangelegenheiten interessierten den Techniker wenig. Als geborener Ulmer hatte Bernd Kramer seine gesamte Ausbildung, angefangen von der Schule bis hin zur Techniker- und Elektroniker-Prüfung, in der Donaustadt absolviert. Er war eingefleischter Schwabe und gab sich nicht die geringste Mühe, seine Herkunft zu verbergen. Krister und Arun mussten sich oft von Irene einzelne Worte oder gar ganze Sätze ins Hochdeutsche übersetzen lassen, was immer wieder zu großer Erheiterung führte. Zwar stammte Irene aus Hamburg, lebte aber inzwischen lange genug im Schwabenland, um die meisten der sprachlichen Feinheiten zu verstehen. Als Bernd zum ersten Mal fragte: »Gosch mid?«,  hatte ihn Krister verständnislos angestarrt. Überhaupt hatte er zu Beginn seines Aufenthaltes in Süddeutschland den Eindruck gewonnen, die Sprache, die er gelernt hatte, und die Sprache, die hier tatsächlich gesprochen wurde, hätten nur wenig gemein. Er fühlte sich an eine Szene aus Vilhelm Mobergs Roman »Die Auswanderer« erinnert: Robert, ein junger Schwede, der nach Amerika ausgewandert war, hatte sich auf der langen und gefahrvollen Überfahrt aus einem Buch selbst Englisch beigebracht. Nach der Ankunft stellte er zu seiner großen Enttäuschung fest, dass er kein einziges Wort verstand und auch die Einheimischen ratlos auf seine langsam und deutlich artikulierten Laute reagierten: Im Zweifel darüber, wie die fremden Worte ausgesprochen würden, hatte er sich beim Lernen für die geschriebene Variante entschieden und die in Klammern angegebene Lautschrift ignoriert.
Bernd Kramer war ein unkomplizierter und liebenswerter Mensch. Oft tüftelte er stundenlang an einem Problem, solange, bis er die Lösung gefunden hatte. Fehlschläge verkraftete er mit einem lakonischen: »No fanga mr hald nomol von vorna o.«  Groß und klapperdürr, wie er war, schienen ihm seine langen Arme und Beine oft im Weg zu sein. Dabei erstaunte sein handwerkliches Geschick: Wenn er mit linkischen Bewegungen Einzelteile einer Apparatur zusammenfügte, überraschte es, wie schnell und sicher alles am richtigen Platz saß.
Kaum größere Gegensätze als Bernd Kramer und Arun Kanwar waren denkbar. Der kleine, zierliche Inder war in einem Dorf in der Region Kashmir geboren. Im Jahr 1975 vernichtete ein heftiges Erdbeben sein Heimatdorf, das sich genau im Epizentrum befand. Innerhalb von Sekunden starben fast alle der fünfzig Dorfbewohner. Nur Arun und seine kleine Schwester überlebten, da der Vater den Sohn und die Tochter nach der Schule mit der kleinen Ziegenherde zu einer mehrere Kilometer entfernten Wasserstelle geschickt hatte. Damit rettete er seinen beiden Kindern das Leben, verlor aber sein eigenes. Arun war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt, seine kleine Schwester fünf. In dem Chaos, das nach dem Erdbeben herrschte, suchte Arun nach seinen Angehörigen und kümmerte sich um seine Schwester, bis ein Mitarbeiter des Französischen Roten Kreuzes auf die beiden Kinder aufmerksam wurde. Mit Hilfe eines Dolmetschers erfuhr er von der Existenz eines Onkels in Neu Delhi, den der Junge und das Mädchen allerdings noch nie gesehen hatten. Der Onkel und seine Familie wurden ausfindig gemacht und die Kinder zu ihnen gebracht. 
Aruns Onkel betrieb in der indischen Hauptstadt ein gutgehendes Lebensmittelgeschäft. Zwar war er bereit, Arun mit seinen eigenen Söhnen erziehen zu lassen, weigerte sich aber, die kleine Nichte aufzunehmen. Mädchen waren nach seinem Verständnis wertlos und brauchten, wenn man sie verheiraten wollte, eine Mitgift. Erst als man ihm 200 amerikanische Dollar bot, war der Onkel bereit, auch dieses Kind in seine Familie aufzunehmen. Die Hilfsorganisation bezahlte die geforderte Summe aus spontanen Spenden der Helfer vor Ort, denn für solche Transaktionen war kein offizieller Fond vorhanden. Da sie sich aber in der indischen Gesellschaft auskannten, wussten sie, dass es gegen Bezahlung diesem Mädchen nicht schlechter ergehen würde als seinen Cousinen, den eigenen Töchtern des Händlers. Im Gegenteil: Eine für die örtlichen Verhältnisse großzügige Mitgift war übergeben worden. In ein paar Jahren konnte der Onkel das Kind für ein Drittel dieses Betrags verheiraten.
Arun durfte mit seinen Vettern die Schule besuchen und studierte später an der Universität in Bangalore. Über einen internationalen Studentenaustausch mit der Universität Göttingen war er im Alter von zwanzig Jahren zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Doch die Katastrophe hatte er nie vollständig überwunden, selbst nicht, als er mit sechsundzwanzig Jahren ein indisches Mädchen heiratete und sich mit seiner Frau dauerhaft in Deutschland niederließ. Inzwischen hatten sie drei Kinder, und auch Aruns Schwester Medha lebte seit einiger Zeit in Deutschland.
Als Krister vor vier Jahren sein kleines Forschungsteam zusammengestellt hatte, war ihm Arun aus der Reihe der Bewerber als der geeignetste erschienen. Der stille Inder war nicht nur fachlich hochqualifiziert, sondern ihm auch auf Anhieb sympathisch gewesen. Zwar konnte man Arun nur einen zeitlich begrenzten Vertrag anbieten, der jährlich von der Universitätsleitung neu genehmigt und verlängert werden musste, aber die Bezahlung ermöglichte einer Familie ein angemessenes Auskommen.
Mit ihren sechsundzwanzig Jahren war Irene Wildermuth das jüngste Mitglied der Forschungsgruppe. Ihr fröhliches, unbeschwertes Wesen hatte schon häufig aufkommende schlechte Stimmung vertrieben. Besonders Arun schien in Irenes Gegenwart seine unterschwellig immer vorhandene Schwermut wenigstens kurzzeitig zu vergessen. Zwischen den Mitgliedern des Forschungsteams hatte sich eine herzliche Freundschaft entwickelt, die sich auch auf Bernds und Aruns Familien ausdehnte.

Üblicherweise trafen sich die vier Mitglieder des Teams jeden Morgen in Kristers Büro, tranken Kaffee und hielten eine kleine Morgenbesprechung ab. Dieses Treffen hatte Krister heute durch seine verspätete Ankunft verpasst. Doch seither arbeiteten sie einträchtig, bis nach zwei Stunden das Klingeln des Telefons die Konzentration unterbrach.
Nari Kanwars normalerweise sanfte, melodische Stimme klang erschüttert. »Krister, ist Arun in der Nähe?«, fragte sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
Krister kannte Aruns Frau gut genug, um hinter diesem ungewohnt knappen Auftakt Unheil zu vermuten. Sofort und kommentarlos gab er deshalb den Hörer an seinen Kollegen weiter.
Arun war erstaunt. Nari rief selten an der Universität an.
Schon die ersten Worte seiner Frau ließen Arun in seine Muttersprache wechseln und seine Freunde erkannten nur an der Körpersprache und am Tonfall ihres Kollegen, dass etwas Ernsthaftes passiert sein musste.
»Was ist passiert?«, fragte Krister  besorgt, nachdem Arun, inzwischen leichenblass, den Hörer zurückgelegt hatte.
»Ich muss sofort nach Hause. Leyla ist auf dem Nachhauseweg von der Schule angegriffen worden.«
»Angegriffen? Wie meinst du das?«, erwiderte Krister erschrocken.
»Ich weiß es auch nicht genau. Jugendliche haben sie wohl auf dem Nachhauseweg von der Schule überfallen. Nari hat sie bei einer Bank im Park auf dem Boden gefunden. Offensichtliche Verletzungen hat Leyla wohl nicht, aber sie spricht nicht, sie tut überhaupt nichts, sagt Nari. Ich muss sofort nach Hause!«
Bei seinen den letzten Worten war Arun schon halb aus der Tür, da hielt ihn Krister zurück: »Nimm mein Auto, damit bist du schneller. Oder noch besser, ich fahre dich! Komm!«
Da Arun so nahe an der Universität wohnte, ging er meistens zu Fuß zur Arbeit und wieder nach Hause. Dafür brauchte er, wenn er den direkten Weg durch den Wald nahm, zehn Minuten. Mit Kristers Auto schafften sie die Strecke, obwohl die Straße eigentlich einen Umweg bedeutete, in der Hälfte der Zeit. Noch bevor Krister richtig angehalten hatte, sprang der Freund aus dem Fahrzeug und stürmte die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Eine Frau, die Arun vage als die Mutter einer der Freundinnen seiner Tochter erkannte, erwartete ihn an der Tür.
»Der Arzt ist gerade gekommen«, sagte sie.
Das Kind lag im Bett. Auf der Seite, zusammengerollt und den Daumen im Mund. Das hatte sie schon seit mindestens vier Jahren nicht mehr getan. Auf ihrer Bettkante saß Dr. Pfälzer.
»Leyla hat einen Schock. Ich habe ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Davon wird sie in Kürze einschlafen. Ansonsten können wir das Kind nur warmhalten und beobachten. Wenn sich Leylas Zustand nicht bessert, muss sie in die Kinderklinik. Aber vorerst ist Ihre Tochter zu Hause besser aufgehoben. In einem fremden Bett und in einem fremden Zimmer aufzuwachen, das würde sie zusätzlich noch verstören. Es wäre hilfreich, genau zu wissen, was sie in diesen Zustand versetzt hat.«
Arun hatte sich vor dem Bett seiner Tochter niedergekniet und streichelte sanft über ihr Haar. Bei den Worten des Arztes blickte er auf. Nari sah das Entsetzen in seinen Augen. Sie kniete sich neben ihn auf den Boden und schlang die Arme um seinen Hals.
»Ich weiß nichts. Rein gar nichts«, schluchzte sie.
Da räusperte sich die andere Frau: »Viel weiß ich auch nicht, nur das, was ich aus meiner Tochter und Marion herausbekommen habe. Wenn ich die beiden richtig verstanden habe, sind die Kinder auf dem Heimweg von der Schule von Jugendlichen angegriffen worden. Sie haben Leyla festgehalten, beschimpft und misshandelt, Marion und Angela wurden davongejagt.«
Bisher hatte Krister sich schweigend im Hintergrund gehalten. Doch nun räusperte er sich: »Vielleicht kann ich mehr erfahren. Darf ich mich mit Ihrer Tochter und Marion unterhalten?«, fragte er Frau Berger. Mehr konnte er im Augenblick wohl nicht tun. Unvorstellbar, jetzt einfach wieder in die Uni zurückzufahren, als sei nichts geschehen!
Mit Kindern konnte Krister umgehen. Er war mit kleineren Geschwistern aufgewachsen und hatte inzwischen schon einige Neffen und Nichten. Frau Berger war sichtlich erleichtert. Ihr Mann würde sofort nach der Polizei verlangen, wenn er von der Sache erfuhr. Das würde die verstörten Mädchen erst recht erschrecken. Gut also, wenn vorher noch jemand anderer mit ihnen sprach.
»Die beiden sind bei uns zu Hause«, meinte sie deshalb. »Kommen Sie mit mir. Vielleicht können Sie etwas Licht in diese Angelegenheit bringen.«

Völlig verängstigt hatten Angela und Marion die Anweisung, sich nicht von der Stelle zu rühren, wörtlich genommen: Frau Berger fand sie noch genau da vor, wo sie die beiden Freundinnen verlassen hatte, als sie mit Krister das kleine Einfamilienhaus betrat. Beruhigend lächelte Krister die Kinder an. 
»Ich heiße Krister«, sagte er und reichte zuerst dem blonden Mädchen die Hand. »Und wie heißt du?« 
Die pummelige Kleine lächelte unsicher zurück: »Marion. Bist du von der Polizei?« 
»Nein, ich bin nicht von der Polizei. Ich bin Leylas Freund.« Krister wandte sich dem anderen Mädchen zu. »Dann bist du Angela?« Als das Kind nickte fuhr er fort: »Kommt, setzt euch zu mir.« Folgsam ließen sich die beiden Kinder zusammen mit Krister am Küchentisch nieder. Frau Berger machte sich am Herd zu schaffen, und bald durchzog der süße Geruch von heißer Schokolade den Raum.
»Eure Freundin Leyla ist jetzt zu Hause. Sie liegt im Bett und schläft. Der Arzt kann ihr besser helfen, wenn er weiß, was passiert ist. Deshalb solltet ihr mir alles erzählen, was geschehen ist und was ihr gesehen habt.«
Marion und Angela blickten einander unsicher an. Aber als Frau Berger mit zwei großen Bechern heißen Kakaos kam, war der Bann gebrochen. Marion, die Mutigere, berichtete. Hin und wieder steuerte Angela ein oder zwei Worte zu der Geschichte bei. Doch was die Jugendlichen Leyla angetan hatten, nachdem sie davongelaufen waren, das wussten Marion und Angela natürlich nicht.
Bedrückt murmelte Angela: »Hätten wir nicht davonlaufen dürfen? War das feige? Aber er hat gesagt, er brennt uns die Augen aus, wenn wir nicht abhauen!«
»Nein, das war überhaupt nicht feige. Ihr habt genau das Richtige getan. Ihr seid nach Hause gelaufen und habt deiner Mutter gesagt, was passiert ist. Nur so hat sie schnell Leylas Mutter holen und Leyla helfen können!« 
Die Worte des fremden Mannes erleichterten die beiden Mädchen sichtlich. Dann schickte Angelas Mutter die Kinder zum Spielen ins Kinderzimmer. Krister erhob sich.
»Danke, dass ich mit den Mädchen reden durfte!«
»Ich danke Ihnen! Die Familie Kanwar wird sicher die Polizei einschalten. Wenn Marion und Angela dann ihre Geschichte nochmals erzählen müssen, ist es nicht mehr so schlimm wie beim ersten Mal. Vermutlich müssen wir sie eher davon abhalten, das Erlebnis auszuschmücken. Ich werde Marion später nach Hause bringen. Ihre Mutter kommt so gegen halb eins. Es ist besser, sie erfährt von mir, was passiert ist.«

Bevor Krister seinen indischen Freunden berichten konnte, was er von Leylas Schulkameradinnen erfahren hatte, bat ihn Nari: »In fünf Minuten ist der Kindergarten aus. Kannst du bitte Shashi abholen? Ich möchte jetzt nicht weggehen.«
Als Krister mit Leylas kleinem Bruder zurückkam, ermahnte die Mutter den Fünfjährigen, heute leise zu sein, damit Leyla ungestört schlafen konnte und bald wieder gesund wurde. Verständig nickte der Junge. Nachdem er etwas zu essen bekommen hatte, schaltete sein Vater im Wohnzimmer den Fernseher ein und suchte einen Kinderfilm aus. Wenn es nach Shashi ging, konnte Leyla noch eine Weile krank sein. Sonst durfte er um diese Zeit nie Filme anschauen! 
Im Kinderzimmer erzählte Krister Leylas Eltern endlich, was er von Marion und Angela erfahren hatte. Arun und Nari waren zutiefst schockiert. Seit sie in Deutschland lebten, waren sie zwar schon hin und wieder fremdenfeindlichen Anpöbelungen ausgesetzt gewesen, aber bis jetzt hatten sich diese Vorfälle auf verbale Schmähungen beschränkt, im Vorübergehen zugerufen. Nie hatte sie jemand tätlich angegangen.
»Was müssen das für Menschen sein, die ein achtjähriges Mädchen angreifen? Sie begreift das doch gar nicht. Wahrscheinlich war sie sich bis jetzt ihrer dunklen Hautfarbe gar nicht bewusst«, flüsterte Nari mit Tränen in den Augen.
»Wir müssen die drei Kerle anzeigen!« Aruns Stimme klang gepresst. »In diesem Viertel gibt es sehr viele ausländische Kinder. Wer weiß, wen die Typen sich das nächste Mal vornehmen. Meinst du, Angela und Marion können die Täter beschreiben? Wiedererkennen müssten sie diese Dreckskerle doch in jedem Fall!«
»Angelas Mutter geht auch davon aus, dass ihr die Polizei einschaltet. Für Marion und Angela ist der Vorfall inzwischen eher interessant als belastend. Ich bin sicher, sie werden nach Kräften helfen. Frau Berger informiert auch Marions Mutter. Wenn du möchtest, komme ich mit dir zur Polizei!«
»Am besten, ihr geht sofort«, sagte Nari. »Der Kleine schläft jetzt für mindestens zwei Stunden und Shashi ist mit seinem Film beschäftigt. Wenn nötig, lege ich ihm einen zweiten ein. Ich setze mich zu Leyla, solange du fort bist.«
Arun stand auf. Er drückte seine Frau kurz an sich, bevor sie sich auf seinen Platz setzte. Dann verließ er zusammen mit Krister das Haus.

Auf der Polizeidienststelle am Münsterplatz nahm ein Beamter das Protokoll auf. Ausführlich schilderte Krister, was er von den beiden Freundinnen Leylas erfahren hatte und gab die Namen und die Adressen von Marion Kurz und Angela Berger an. Die Anwesenheit seines Freundes erleichterte Arun sehr, da er sich auf deutschen Ämtern immer sehr befangen fühlte. Warum das so war, hätte er allerdings nicht definieren können, wäre er gefragt worden. Während der Protokollaufnahme stieß ein zweiter Beamter zu ihnen, der sich als Polizeihauptkommissar Mehldorn vorstellte.
»Ich leite eine Sonderkommission, die sich mit Straftaten befasst, bei denen ein rechtsradikaler oder fremdenfeindlicher Hintergrund vermutet wird«, erklärte er Arun und Krister.
»Ist die Anzahl dieser Straftaten in Ulm so bedeutend, dass eine Sonderkommission gebildet werden musste?«, fragte Krister erstaunt.
»Absolut gesehen, also im Vergleich zu anderen Straftaten, ist die Anzahl eher gering. Besorgniserregend ist nur die Entwicklung. Während wir in anderen Bereichen, wie zum Beispiel bei Diebstählen, Raubüberfällen oder Tötungsdelikten mit nicht-rechtsradikalem Hintergrund eine Stagnation oder sogar einen Rückgang verzeichnen, ist die Anzahl der fremdenfeindlich begründeten Straftaten in den letzten Jahren rapide angestiegen. Ulm ist da beileibe nichts Besonderes. Wir tauschen unsere Erfahrungen natürlich auch mit anderen Städten aus.«
Hauptkommissar Mehldorn las sich das inzwischen fertige Protokoll durch und stellte noch ein paar Fragen. Auch erläuterte er seine weitere Vorgehensweise: Den beiden Schülerinnen Angela und Marion würden seine Beamten Fotos von Jugendlichen vorlegen, die der Polizei bereits aufgefallen waren. Vielleicht würden die Mädchen ja Leylas Peiniger wiedererkennen. Auch spreche viel dafür, dass sie sich nicht zufällig in dieser Gegend aufgehalten hatten, sondern in der Nähe wohnten. Der Hauptkommissar war recht zuversichtlich, die Täter relativ schnell zu ermitteln.
»Leider ist damit das Problem aber nicht gelöst. Wenn sie vorher noch nicht straffällig geworden sind und dazu noch unter das Jugendstrafrecht fallen, erhalten sie vom Richter einen Klaps auf die Finger und werden nach Hause geschickt. Wenn sie schon früher einmal polizeilich erfasst wurden, müssen sie mit ein paar Stunden gemeinnütziger Arbeit rechnen. Ihr Hass auf Fremde wird dadurch bestimmt nicht geringer werden und sie werden in jedem Fall ziemlich schnell wieder die Gegend unsicher machen.«
Hauptkommissar Mehldorn, Arun und Krister erhoben sich.
»Ich wünsche Ihrer kleinen Tochter alles Gute! Vorerst können wir uns mit den Aussagen der beiden anderen Mädchen behelfen. Sollten wir die Täter allerdings fassen, so wird die Aussage Ihrer Tochter natürlich das größte Gewicht haben, da nur sie sagen kann, was passiert ist, nachdem ihre beiden Freundinnen weggelaufen sind.«

Als Krister und Arun wieder im Auto saßen, meinte Arun bedrückt: »Eine Aussage! Ich bin schon froh, wenn Leyla überhaupt redet. Ihre momentane Teilnahmslosigkeit ist ganz besonders erschreckend. Wenn sie wenigstens weinen würde!«
 


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