Lose Enden, Band 1 - Kapitel 1



Mona Kim Bücher Lose Enden Band 1 Roman

Donnerstag, 11. Januar 2007

Beim ersten Ton des melodischen Fünfklangs der Schulglocke flogen die Türen der Klassenzimmer auf, und, wie Wasser bei einem Dammbruch ergossen sich die Schüler auf den Flur. Fünf Minuten lang herrschten ohrenbetäubendes Geschrei und heilloses Durcheinander, bis sich beim nächsten Fünfklang-Signal die Türen wieder schlossen und für weitere fünfundvierzig Minuten Ruhe einkehrte.
Für die Klasse 3A war die Schule nach der dritten Stunde beendet. Die Lehrerin für Heimat- und Sachkunde war krank. Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien waren das einige Lehrer und es konnte so rasch kaum Ersatz gefunden werden. Nicht einmal für die Beaufsichtigung der Schüler war genug Personal vorhanden. Die Kinder waren darüber nicht traurig. Beneidet von denen, die noch dableiben mussten, durften sie für heute die schwere Glastür hinter sich ins Schloss fallen lassen.
Marion Kurz, Angela Berger und Leyla Kanwar gehörten zu diesen Glücklichen. Ihre Anoraks, Mützen, Handschuhe, Schultaschen und, weil Donnerstag war, auch noch die Turnbeutel, schleppten sie mit sich und versuchten, sich auf dem Weg nach draußen anzuziehen. Stehenbleiben hätte  bedeutet, wertvolle Freizeit zu vergeuden.
Außerhalb des Schulhauses war jedoch jede Eile schlagartig vergessen. Die Eltern erwarteten ihre Kinder sowieso noch nicht zu Hause. Ein paar Jungs begannen auf dem Schulhof Fußball zu spielen. Langsam und dabei ununterbrochen plappernd spazierten Leyla, Marion und Angela die leichte Steigung des Eselsbergs hinauf, auf dem sie alle drei wohnten: Angela Berger und Marion Kurz in den kleinen, älteren Einfamilienhäusern dort, wo sich der Eselsberg über sanft gewellte Wiesen zur B10 hin neigte, Leyla Kanwar in einem der Wohnblocks gegenüber.
An manchen Stellen waren noch ein paar kleine Flecken Schnee übriggeblieben. Gerade noch genug, um daraus schmutzige Schneebälle zu formen und sich gegenseitig damit zu bewerfen. Marion und Angela beschäftigten sich mit diesem Zeitvertreib, während Leyla ihr ungegessenes Vesperbrot in der Hand hielt und es widerwillig betrachtete. Ihre Mutter würde schimpfen, wenn sie es wieder mit nach Hause brachte.
»Es ist Schinken drauf«, versuchte Leyla bei Marion für das Brot zu werben.
»Ich hab' keinen Hunger!«, antwortete die Freundin und betrachtete dabei voller Sehnsucht das Brot.
»Du glaubst doch wohl nicht, was die blöde Kuh gesagt hat?« Angela warf Marion einen Schneeball vor die Füße. »Die ist doch bloß neidisch, weil sie selber fett ist.«
Angelas gehässiger Kommentar bezog sich auf einen Zwischenfall in der Turnstunde, in der eine Mitschülerin Marion »Fettwanst« genannt hatte.
Die Mädchen beachteten die drei Jungen nicht, die sich auf einer Bank lümmelten, Zigaretten rauchten und auf der Sitzfläche halbleere Bierflaschen abgestellt hatten. Plötzlich sprang einer der drei auf und packte Leyla am Zopf.
»He, Kaffeebohne!«, rief er und zog Leylas Kopf nahe zu sich heran, sodass sie Bier- und Zigarettenatem roch. »Wer hat dich denn hier freigelassen? Oder hast du bloß vergessen, dich zu waschen? Wenn du fest schrubbst, geht der Dreck vielleicht ab!«
Erschrocken ließ Leyla ihr Brot fallen. Der Zug an ihrem Haar war so stark, dass ihr Tränen des Schmerzes in die Augen schossen. Auch Marion und Angela starrten mit schreckgeweiteten Augen auf den großen Jungen. Der ließ Leylas Zopf los und riss ihr die Schultasche so heftig von den Schultern, dass das Mädchen stürzte.
»Das ganze Zeug hier ist doch auch bloß von unserem deutschen Geld gekauft worden«, knurrte er, riss den Schulranzen grob auf und kippte den Inhalt auf den nassen, schmutzigen Boden. »Wetten, dass dein Alter für alle möglichen, in Wahrheit natürlich gar nicht existierenden Wechselbälger Kindergeld kassiert? Und wir müssen dafür blechen!«
Leyla fing an zu weinen. Ihre Freundinnen standen immer noch bewegungsunfähig da. Die beiden anderen Jungs, die bisher das Geschehen beifällig grinsend von der Bank aus verfolgt hatten, erhoben sich nun auch und näherten sich im lässigen Halbstarken-Gang. Der eine Typ hielt Marion seine brennende Zigarette vor die Augen und drohte: »Macht, dass ihr wegkommt, ihr zwei, sonst brenne ich euch die Augen aus! Verdient hättet ihr es, weil ihr euch mit so einer abgebt.«
Angela rannte los. Marion zauderte noch kurz, dann tat sie etwas, worüber sie sich hinterher noch lange schämte: Sie bückte sich, hob blitzschnell Leylas Vesperbrot auf und rannte dann ihrer Freundin hinterher. Warum sie es mitnahm, hätte sie niemandem erklären können. Vielleicht deswegen, weil ihre Mutter oft nicht zu Hause war, manchmal kein Mittagessen auf dem Tisch stand und auch der Kühlschrank nicht viel hergab? Marion hatte früh gelernt, zuzugreifen, wenn es etwas zu essen gab. Leylas Schinkenbrot aber warf sie beschämt bei der nächsten Gelegenheit in einen Abfalleimer.
Völlig außer Atem kamen die beiden Mädchen bei Angela zu Hause an.
»Mami, schnell! Du musst Leyla helfen. Der böse Junge hat sie gestoßen!«
»Kind! Was ist passiert? Wo ist Leyla?«
Frau Berger warf das Messer, mit dem sie Zwiebeln geschnitten hatte, in die Spüle und wusch sich hastig die Hände. Aufgeregt zerrte Angela am Pulloverärmel ihrer Mutter: »Er hat sie am Zopf festgehalten, sehr schlimme Sachen zu Leyla gesagt und ihren Schulranzen kaputtgemacht. Schnell, komm! Leyla ist noch dort!«
»Wo ist das denn passiert? Ich laufe ja sofort los, aber ihr müsst mir zuerst sagen, wohin!«
»Im Park, bei der Bank! Es sind drei Jungs. Sie sind ganz groß und rauchen Zigaretten und trinken Bier.«
Angelas Mutter stürzte ans Telefon und alarmierte Leylas Mutter. Dann rannte sie los. Den beiden Mädchen schärfte sie ein, zu Hause zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren. Da es auf dem Schulweg ihrer Tochter nur eine Bank gab, wusste sie sofort, wohin sie sich wenden musste.
Als Frau Berger bei der Bank ankam, fand sie Leyla auf dem Boden liegend, inmitten ihrer zerrissenen und verschmutzten Schulhefte und Bücher. Von ihren Peinigern war nichts zu sehen. Überhaupt zeigte sich weit und breit kein anderer Mensch. Vorsichtig nahm Angelas Mutter die kleine Inderin in die Arme und wiegte sie sachte. Dabei sprach sie beruhigend auf das Kind ein. Außer einem leichten Zittern zeigte das Mädchen keine Reaktion.

Frau Bergers Anruf erreichte Nari Kanwar gerade in dem Moment, als sie ihren drei Monate alten Sohn Dilip aus seinem Bettchen genommen und sich zum Stillen gemütlich hingesetzt hatte. Kurz überlegte sie, ob sie das Klingeln einfach ignorieren sollte. Dilip würde unweigerlich zu brüllen anfangen, wenn sie ihn jetzt wieder abnahm. Aber es konnte ein Anruf aus der Schule oder aus dem Kindergarten sein. Nari brachte es nicht fertig, so zu tun, als sei sie nicht zu Hause. Sie erhob sich und legte Dilip zurück in sein Bettchen. Er begann, wie befürchtet, sofort ohrenbetäubend zu schreien, was seine Mutter zwang, mit dem Telefon ins Nebenzimmer zu flüchten. Frau Bergers Worte trafen Nari wie ein Faustschlag in den Magen. Ohne nachzudenken, packte sie den brüllenden Säugling, zog ihm seinen Daunenoverall über und stürzte aus der Tür und die Treppe hinab. Unter der Treppe stand der Kinderwagen. Nari riss ihn hervor, steckte den quäkenden Dilip unsanft hinein und eilte los.
Nur wenige Minuten nach Frau Berger kam sie bei ihrer Tochter an. Außer ein paar Hautabschürfungen an den Knien vom Hinfallen schien Leyla keine äußerlichen Verletzungen zu haben. Unablässig in ihrer melodischen Muttersprache beruhigend auf Leyla einredend, nahm Nari ihre Tochter in die Arme und trug das Mädchen nach Hause. Frau Berger sammelte die herumliegenden Schulsachen und den kaputten Schulranzen ein und folgte mit dem Kinderwagen. 
Als sie in der Wohnung der Kanwars ankamen, war Dilip vor Wut und vom Schreien blaurot angelaufen. Erst als Angelas Mutter ihn aus dem Wagen hob, verstummte er sofort und musterte neugierig die fremde Frau. Währenddessen zog Nari ihrer Tochter die schmutzigen, feuchten Kleider aus und packte das Kind mit einer Wärmflasche ins Bett. Dann rief sie zuerst den Kinderarzt der Familie und anschließend ihren Mann an.


 



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