Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Franka hatte sich ihre eigene Routine geschaffen, die ihr kaum Zeit zum Nachdenken ließ. Und genau das war beabsichtigt. Noch vor Anbruch des Tages stand sie auf und begab sich auf das Fitnessdeck: eine halbe Stunde auf dem Laufband, eine halbe Stunde Fahrradfahren, anschließend ein alle vorhandenen Geräte einschließendes Programm. Morgens um diese Zeit war das Studio noch verwaist. Manchmal traf sie Terence Quist dort an, hin und wieder Lawrence, den Biologen, oder Tao, den Lebensmittelchemiker. Sie redeten kaum miteinander, sondern konzentrierten sich auf ihre Übungen. Ein kurzer Gruß beim Eintreten und beim Gehen, das war alles. Nach ihrem beinahe zweistündigen Training duschte Franka. Die Sauna besuchte sie nur dann, wenn sie sicher sein konnte, dort alleine zu sein und es auch zu bleiben. Sie war nicht prüde, aber sie hielt nichts davon, Begehren zu wecken, wenn sie nicht die geringste Absicht hatte, dieses Begehren zu befriedigen. Nach dem Sport frühstückte sie in ihrer Wohnung. Hin und wieder, wenn Tom und Alice schon auf waren, leisteten ihr die beiden Gesellschaft.
Wenn Franka dann so gegen acht Uhr Bordzeit in der Computerzentrale eintraf, war Greg gewöhnlich schon da. Greg Parsons war fünfundvierzig Jahre alt, ein mittelgroßer, stämmiger Mann, der von sportlicher Betätigung nicht viel hielt und nur auf massives Drängen der Bordärzte zu einem minimalen Trainingsprogramm bereit war. Greg stammte wie Alice aus Kanada und hatte eine Frau und drei Kinder auf der Erde zurückgelassen, außerdem einen Hund. Über Frau und Kinder sprach Greg nicht, nur manchmal über den Hund. Mit ihm war er stundenlang spazieren gegangen, das war seine einzige sportliche Betätigung gewesen.
Zwischen Franka und Greg entwickelte sich eine starke freundschaftliche Beziehung. Beide akzeptierten das Einsamkeitsbedürfnis des anderen. Franka bewunderte Gregs Fähigkeiten an der Computerkonsole, die ihrer Ansicht nach manchmal an Genialität grenzten, während Greg in Franka eine gelehrige Schülerin fand, die durchaus zu eigenen Ideen fähig war. Der Programmierer war ein Freak. Wenn er erst einmal vor seiner Tastatur saß, konnte ihn nichts ablenken. Meistens war es Franka, die vorschlug, eine kleine Pause zu machen und etwas zu essen. Die Mühe, ins Casino zu gehen, machten sich die beiden selten, sie ließen sich ihren Imbiss in die Computerzentrale kommen. Franka setzte sich dann an einen kleinen Tisch und las beim Essen ein Fachbuch, während ihr Kollege, stets vertieft in seine Arbeit, sich gerade genügend Zeit nahm, um sich ein paar Bissen zwischen die Zähne zu schieben. Danach machten sie wieder weiter mit ihrer Aufgabe, hartnäckig und unermüdlich.
Sonderbarerweise kannte Greg die selbstständig ablaufenden Programme nur wenig besser als Franka. Er war erst ein halbes Jahr vor dem Start eingestellt worden und hatte sich deswegen nur ziemlich oberflächlich mit den Programmen vertraut machen können. Das bereitete ihm Sorge und war zum Teil Grund für seinen ungebremsten Arbeitseifer. Eine drohende Störung der lebenserhaltenden Funktionen des Raumschiffes und der Gedanke, den Fehler nicht rechtzeitig zu finden, das verursachte ihm Alpträume. Demgemäß konzentrierte er sich zunächst vorrangig auf die Sauerstoff- und Wasserversorgung und auf das Abfallrecycling. Mit der Steuerung des Raumschiffes waren der Captain und sein Erster Offizier vertraut. Um die Programme, die der Fortbewegung zu Grunde lagen, würde Greg sich dann zu einem späteren Zeitpunkt kümmern. Vorerst flog das Raumschiff ohnehin von alleine: Noch auf der Erde war ein Kurs einprogrammiert worden, der sie nach zwei Jahren zu einer Sprungstelle führen sollte. Die Kompetenz des Captains und des Ersten Offiziers, später vielleicht auch die des angehenden Raumschiffpiloten Tom, waren erst dann gefragt, wenn sich Komplikationen ergeben sollten. Zum Beispiel, wenn sie auf durch das All fliegende Meteoritenschwärme treffen würden, die allerdings in diesem Teil der Galaxis eher selten waren.
Obwohl ein ansehnlicher Vorrat an Atemluft und Wasser mit auf die Reise genommen worden war, diente dieses Reservoir nur als Notversorgung, sollte eine Störung auftreten. Im komplikationsfreien Betrieb basierte die Sauerstoffversorgung auf einem geradezu idealen Kreislauf. Jedes Atom und jedes Molekül durchwanderte endlose Male diesen Zyklus. Egal, welcher chemische Vorgang einem Prozess zugrunde lag, ob es sich um schlichtes Atmen, um den Sauerstoffkreislauf im Blut oder um Verdauungsprozesse handelte: Ein Kohlenstoffatom blieb immer ein Kohlenstoffatom, genauso wie ein Sauerstoffatom immer ein Sauerstoffatom sein würde. Jedes Atom konnte isoliert und zu neuen Verbindungen zusammengesetzt werden. Bis jetzt reichte es aus, die Abfälle in Atome zu zerlegen und diese, gefügt zu neuen Molekülen, in den Kreislauf zurückzuschleusen.
Solange die Anzahl der Menschen auf dem Schiff gleichblieb, funktionierte dieser Ablauf. Die Geburt eines Babys aber würde eine Menge Atome auf – hoffentlich – sehr lange Zeit binden. Das Vorhandensein von zu vielen Babys – ohne dass in der gleichen Zeit Menschen starben – konnte zu einem Engpass oder sogar zur völligen Erschöpfung der Reserven führen. Welche Bevölkerungsentwicklung das Schiff verkraften konnte, darum würde sich die Raumschiffbesatzung noch kümmern müssen. Es war keines der vorrangigen Probleme. Schwangerschaften dauerten auch im All neun Monate. Bis jetzt standen die meisten Passagiere jedoch der Fortpflanzung unter den gegebenen Bedingungen eher skeptisch gegenüber, auch wenn diese Einstellung nicht gerade das Überleben der Menschheit sicherte.
Energie war kein Problem. In der derzeitigen Flugphase konnten die Astronauten noch die Sonnenstrahlung nutzen. Später würden sie fremde Sonnen anzapfen. Sollte diese Möglichkeit ausscheiden, war bereits für die notwendigen Einrichtungen zur Nutzung der Gravitationsenergie gesorgt.
Franka blieb abends oft bis zehn Uhr an ihrem Computer und war dann reif für einen tiefen und traumlosen Schlaf. Manchmal eisten Tom und Alice sie mit sanfter Gewalt von der Arbeit los. Sie aßen dann gemeinsam und saßen eine Weile im Casino bei einem Glas Wein zusammen. Oft gesellten sich auch andere Mitreisende dazu.
Gesprächsthemen gab es in ausreichender Menge, trotz der vielen Themen-Tabus. Jeder einzelne von ihnen war auf Erden einer interessanten und anspruchsvollen Arbeit nachgegangen, über die er oder sie berichten konnte. Auch der Captain und der Erste Offizier waren manchmal mit von der Partie bei diesen entspannten Zusammenkünften. Tom sprach sie mit Derek und Terence an, beide boten auch den anderen Passagieren diese Anrede an. Der Captain war inzwischen mit der großen, rothaarigen Melanie liiert. Melanie war Biologin und träumte von einem kleinen Park, den sie im obersten, bislang leeren Stockwerk der Raumfähre anlegen wollte. Ein Park mit Blumen, schnell wachsenden Bäumen, richtigem Gras und Büschen. An und für sich waren Pflanzen kurzlebige Geschöpfe, aber da aus der sterbenden Flora wieder neue entstehen sollte, war die Substanz dem übrigen Kreislauf entzogen. Mit Hilfe des Mathematikers Anders und des Chemikers Tao stellte Melanie Berechnungen darüber an, wie groß der Atombedarf für eine derartige Anlage sein müsste. Dann erst konnte darüber entschieden werden, ob dem Projekt zuzustimmen sei oder nicht. Prinzipiell standen die meisten einem kleinen Park positiv gegenüber. Vor allem, und das war das Hauptargument, könnte er ja schnell wieder abgebaut und die Rohstoffe anderweitig eingesetzt werden, falls dringendere Dinge benötigt würden.
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