Das Gewicht der Leere - Kapitel 8


 Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Die nächsten Tage verlebte Franka wie in Trance. In regelmäßigen Abständen trafen sich alle auf der Brücke. Nach und nach erfuhren sie, was bislang vor ihnen geheim gehalten worden war. Aber nicht nur vor ihnen, sondern vor allen Menschen auf der Erde, ausgenommen wenigen hundert Eingeweihten:
Vor achtzehn Jahren hatte ein Astrophysiker an der Universität von Sidney einen Meteoriten in der Nähe des Uranus entdeckt. Nach Berechnungen des Wissenschaftlers würde dieser Meteorit, falls er seine Bahn beibehielt und alle ihn beeinflussenden Kräfte berücksichtigt wurden, in achtzehn Jahren mit der Erde zusammenstoßen. Einem glücklichen Umstand zufolge war der Astrophysiker Mitglied von World Science. Um World Science anzugehören, genügte es nicht, ein hervorragender Wissenschaftler zu sein. World Science bildete sozusagen das Gewissen der Wissenschaft. Die Mitglieder verpflichteten sich, bei ihren Forschungen jegliche materiellen Aspekte außer Acht zu lassen und ihre Entscheidungen nach rein ethischen Gesichtspunkten zu treffen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Organisation über 2.528 Mitglieder aus zahlreichen Nationen, sie initiierte und betreute Forschungsarbeit in allen denkbaren Fachbereichen. Koordiniert wurde dies alles durch einen Vorstand, der aus sechsunddreißig gewählten Wissenschaftlern bestand.
Diese Personen wurden nach der fatalen Entdeckung des australischen Astrophysikers unter strengster Geheimhaltung zu einer Sitzung zusammengerufen, in der der Astrophysiker seine Berechnungen vorlegte und erläuterte. Natürlich bestand die Hoffnung, dass eine nicht vorhersehbare Störung noch eine Abweichung des Meteoriten von seiner erwarteten Bahn bewirken könne. Dann würde der gewaltige Klumpen aus Eisen und Nickel in ungefährlicher Entfernung an der Erde vorbeirasen und in den unendlichen Weiten des Alls verschwinden. Tatsächlich waren alle bei der Konferenz Anwesenden mit Ausnahme von einer Handvoll Schwarzseher davon überzeugt, es würde ein gutes Ende nehmen, alles würde glimpflich verlaufen. Dennoch wurde Futura 3000 ins Leben gerufen. Nur für den Fall der Fälle. Unter dem Deckmantel eines futuristischen Erlebnisparks arbeiteten Spezialisten fieberhaft daran, wenigstens einem kleinen Teil der Menschheit das Überleben zu ermöglichen, sollte die Katastrophe tatsächlich eintreffen. Weder die Leitungen der an diesem Mammutprojekt beteiligten Firmen noch die Regierungen der Länder kannten den tatsächlichen Zweck der Anlage. Jeder mitwirkende Wissenschaftler verpflichtete sich zu strengster Geheimhaltung. Zehn Jahre lang wurden die technischen Voraussetzungen zu genau dieser Reise ins All entwickelt. Anfangs war lediglich geplant, ein autonomes Raumschiff zu konstruieren, das in der Lage war, Generationen von Menschen eine Heimat zu bieten. Als dann vor vier Jahren überraschend das Rätsel der Gravitation entschlüsselt worden war und ein auf dieser Kraft basierender Raketenantrieb möglich wurde, erschien plötzlich vor den Augen der Wissenschaftler die Vision eines von Menschen bewohnbaren Planeten.
Vorher völlig undenkbare Entfernungen erschienen plötzlich überwindbar. Die Lichtgeschwindigkeit bedeutete keine natürliche Grenze mehr. Ab jetzt wurde das Raumschiff zwar immer noch als dauerhafte Wohnstatt konzipiert, da niemand vorhersagen konnte, ob die Reisenden jemals auf eine geeignete Lebenswelt treffen würden. Aber auch alle für eine Planetenbesiedelung notwendigen Voraussetzungen wurden bedacht und entsprechende technische Details an Bord integriert.
Alles musste simuliert werden. Ein Probestart war unmöglich. Sofort wären ja die Geheimdienste aller Staaten aufmerksam geworden. Die Folge davon war den verantwortlichen Wissenschaftlern klar: Die Rakete würde dann nicht sorgfältig ausgesuchte, geeignete Personen an Bord nehmen und damit die Menschheit vor dem Aussterben retten, sondern Staatsmänner und Industriemagnaten mit ihren Familien nebst jenen Menschen, die sie für wichtig erachteten. Auch die Presse bekäme Wind davon. Eine Panik unter der Weltbevölkerung wäre unausweichlich und würde die Menschheit vernichten, bevor der Meteor überhaupt in Erdnähe käme.
Nicht nur Naturwissenschaftler, sondern Experten aller Fachrichtungen gehörten World Science an. Ökonomen kümmerten sich um die finanzielle Seite von Futura 3000. Der Erlebnispark wurde ins Leben gerufen und brachte mehr Geld ein, als der Wissenschaft jemals zuvor zur Verfügung gestanden hatte. Politologen gründeten eine Organisation, deren Aufgabe es war, die Geheimhaltung des Projektes zu sichern. Alle Mitarbeiter wurden sorgfältigen Prüfungen unterzogen, nur wenige weihte man in die entscheidenden Sachverhalte ein.
Seit Jahren war nun schon alles für die große Reise bereit. Der Meteorit näherte sich unaufhaltsam der Erde: Die Berechnungen des Astrophysikers waren korrekt gewesen. Die Crew des Raumschiffes stand in den Startlöchern. Sorgfältige Forschungen hatten zu präzisen Ergebnissen geführt, wie eine auch nach der Katastrophe überlebensfähige Gruppe von Menschen zusammengesetzt sein musste. Welche Anzahl, welche Berufe, welche Charaktereigenschaften, welches Alter, welche Verteilung der Geschlechter, welche ethnische Gewichtung wären von Vorteil? Politologen organisierten eine weltumspannende Umfrage. Leider gab es Länder, auf die World Science keinen Einfluss hatte. Mit Hilfe dieser Umfrage wurden zweihundert prinzipiell geeignete Personen ausgewählt und unter dem Vorwand, sie hätten einen Aufenthalt in Futura 3000 gewonnen, auf das Gelände gelockt. Einhundertzweiundsiebzig waren angereist. Aus diesen wurden wiederum vierzig herausgepickt. Zusammen mit zweiundvierzig Wissenschaftlern, Ärzten, Ingenieuren, Psychologen, Soziologen, Computerspezialisten und Technikern war somit die für die Expedition optimale Teilnehmerzahl von zweiundachtzig Personen erreicht.
Diese zweiundachtzig Personen reisten nun auf der Conquest durch das All und hatten sich inzwischen sieben Millionen Kilometer von jener Position entfernt, an der noch vor einer Woche der Planet Erde zu finden gewesen war.

Auf dem Raumschiff hatte sich bereits eine Art von Routine eingespielt. Morgens wurde auf der Brücke eine Besprechung abgehalten. Jeder Mitreisende durfte seine Meinung äußern, es gab keine Rangunterschiede zwischen der ursprünglichen Besatzung und den Gästen, außer natürlich bei Entscheidungen, die die Funktionsfähigkeit des Schiffes betrafen. Wut, getäuscht worden zu sein, die Trauer um die toten Angehörigen, die Unfassbarkeit der Zerstörung ihres Heimatplaneten, ja, mit der Zeit auch ein wenig Stolz, unter Millionen Menschen ausgewählt worden zu sein, bestimmten anfangs die Gespräche. Viele Fragen betrafen die alte Heimat, die Erde. Hatten die Menschen dort gewusst, was auf sie zukam? Hatten sie gelitten?
Doch nach und nach begann sich der Blick der Überlebenden von der Vergangenheit in die Zukunft zu richten. Wann konnten sie mit dem ersten Gravitationssprung rechnen? Wie würde diese Prozedur vor sich gehen? Was würde man dabei empfinden? Auf die meisten Fragen wusste jedoch niemand eine sichere Antwort. Die Gruppe musste sich mit Wahrscheinlichkeiten und Eventualitäten zufriedengeben.
Um die langen Tage besser zu strukturieren, wurden die Reisenden in der Erfüllung verschiedener Aufgaben geschult. Das war freiwillig, jedoch nahmen alle diese Gelegenheit zur Ablenkung dankbar wahr. Tom begann die langwierige Ausbildung zum Raumschiffpiloten. Alice war Ärztin und unterstützte den Bordarzt bei seiner Arbeit und seiner Forschung. Vasili erweiterte seine bereits vorhandene Elektronik- und Technikerausbildung um die speziell das Raumschiff betreffenden Gebiete. Chemiker und Biologen hielten Kurse und Praktika ab. Es gab ein Treibhaus, in dem man Obst und Gemüse ziehen konnte, doch die meisten Lebensmittel wurden synthetisch hergestellt. Das war auch schon auf der Erde so gewesen und bedeutete insofern kein Absinken des Lebensstandards.
Alice und Tom waren in eine der größeren Wohneinheiten gezogen. Der Amerikaner und die Kanadierin wurden Franka gute Freunde. Gemeinsam versuchten sie, Franka aus ihren immer wiederkehrenden Depressionen zu reißen. Doch häufig zog sie sich in ihre kleine Wohnung zurück und holte das Foto von ihren Lieben hervor. Victor und ihre beiden kleinen Mädchen waren tot. Mit diesem einen grellen Lichtblitz im Weltall zerstäubt. Lange Nächte verbrachte Franka weinend in ihrem Bett, voller Sehnsucht danach, Victors Arme um sich zu spüren. Oft träumte sie von ihren Kindern, danach war die Realität besonders schwer zu ertragen. In diesen Nächten spürte sie das Gewicht der Leere, die sie einhüllte und sich wie ein Felsbrocken auf ihre Brust legte. Sie war freilich nicht die Einzige, die solchen Qualen ausgesetzt war, das konnte sie an den bleichen und übernächtigten Gesichtern ihrer Leidensgenossen ablesen.
Tagsüber riss Franka sich zusammen. Sie war Informatikerin und befasste sich nun mit den Programmen der Bordcomputer. Greg Parsons, Offizier der Raumschiffbesatzung und jetzt ihr Lehrmeister, war ein begnadeter Programmierer. Stunde um Stunde studierten sie gemeinsam die Programme, um bei eventuell auftretenden Fehlern gerüstet zu sein. Die Grenze zwischen Besatzung und Reisenden wurde von Woche zu Woche unschärfer und durchlässiger. Die meisten Menschen sprachen sich inzwischen mit Vornamen an.
Nicht allen gelang allerdings die Integration. Fernand Poiret, ein Geologe aus Nizza, weigerte sich standhaft, an die Vernichtung der Erde zu glauben und versuchte ständig, den Captain zum Umkehren zu bewegen. Irina, ehemals norwegische Staatsbürgerin und Psychologin, führte mehrere Gespräche mit Fernand. Sie hielt seine Psyche für ernsthaft angeschlagen und warnte den Captain, da sie davon überzeugt war, Fernand würde eines Tages versuchen, seine Forderung mit Gewalt durchzusetzen.
Nadine Krusowa war seit ihrem Ohnmachtsanfall auf der Brücke, als sie von der Zerstörung der Erde erfuhren, in tiefe Depression versunken. Teilnahmslos lag sie im Krankenquartier und musste künstlich ernährt werden. Eine Besserung ihres Zustands war nicht zu erwarten.
Der Tagesablauf auf dem Raumschiff folgte einer Routine, die den Menschen die Illusion eines normalen Lebens geben sollte. Die einprogrammierten Hell-Dunkel-Phasen trennten eine achtstündige Nacht von einem sechzehnstündigen Tag. Je nach persönlicher Vorliebe durfte man das Frühstück im Casino gemeinsam mit anderen, alleine oder paarweise in den Wohneinheiten einnehmen.
Danach konnte zwar theoretisch jeder seinen Tag frei gestalten, doch machten sich die meisten – vermutlich aus einer beruhigenden Gewohnheit heraus – bald an ihre Tätigkeiten. Zum Mittagessen traf man sich wieder im Casino. Anschließend legten viele eine Ruhepause ein, bevor sie sich wieder ihren Aufgaben widmeten. Viele ließen den Tag dann beim Abendessen im Casino ausklingen, manche zogen sich gleich in ihre Wohnungen zurück, wieder andere ließen sich die Mahlzeit sogar an ihren Arbeitsplatz liefern.
Anfangs versuchten die Männer und Frauen, Leerlauf und Müßiggang zu vermeiden. Freie Zeit lud zum Grübeln ein und Grübeln führte zu nichts. Im Raumschiff gab es einen Fitnessbereich, der sich über ein ganzes Stockwerk ausdehnte und mit Trainingsgeräten aller Art ausgestattet war. Diese Art der Freizeitgestaltung wurde noch am häufigsten betrieben. Denn sich körperlich fit zu halten, dazu gab es auf einem Raumschiff ansonsten nur begrenzte Möglichkeiten. Außerdem schaffte ein erschöpfendes Training die nötigen Voraussetzungen für eine traumlose Nacht.
An das Fitnessstudio angegliedert waren Duschen, eine Sauna mit Solarium und natürlich eine Bar. Es gab auch ein Kino, in dem man alle nur denkbaren neuen und alten Filme genießen konnte. Doch ertrug es keiner der Anwesenden an Bord, die Erde zu sehen, Bäume, Blumen, Berge, das Meer. Wer es dennoch versuchte, brach nach kurzer Zeit mit Tränen in den Augen ab und stürzte sich erneut in die Arbeit oder in ein hartes Training auf Laufband oder Ergometer. Star-Trek: Raumschiff Voyager und Krieg der Sterne waren die einzigen Filme, die man halbwegs ruhig ansehen konnte, erweckten sie doch die Hoffnung, irgendwann auf einen bewohnbaren Planeten und vielleicht sogar auf Leben zu stoßen.
Das Casino war gemütlich eingerichtet und wie geschaffen dafür, bei einem Glas Wein zusammenzusitzen, sich näher kennenzulernen und allerlei Gespräche zu führen. Doch auch solche persönlichen Annäherungen führten zwangsweise zu Fragen wie: Wo kommst du her? Was hast du vorher gemacht? Warst du verheiratet? Hattest du Kinder? Und das war zu diesem Zeitpunkt schlimmer als jede andere denkbare Qual.
Im Casino gab es auch harte Getränke: Alkohol wurde ein Problem. Und auch Sex. An Bord befanden sich zwar einundvierzig Männer und einundvierzig Frauen. Das ging aber nur rein rechnerisch auf. Schon in den ersten Tagen hatten sich Paare gebildet, zum Beispiel Tom und Alice. Aber nicht immer waren Begehren und die Neigungen derer, die begehrt wurden, miteinander kompatibel. So gab es eine ganze Reihe sehr gutaussehender Frauen und Männer an Bord, die alle Hände voll zu tun hatten, sich die Bewerber vom Halse zu halten. Sich dann schließlich für eine oder einen zu entscheiden, das war einfacher. Wer aber am Ende zurückblieb, das waren die Abgewiesenen. Letztendlich bildeten sich also drei Gruppen: diejenigen Paare, die bis auf gelegentliche Unstimmigkeiten am besten mit der aufgezwungenen Situation zurechtkamen, sodann die Männer und Frauen (zu ihnen gehörte auch Franka), die mit ihrer Vergangenheit noch nicht abgeschlossen hatten und kein Bedürfnis nach einer neuen Partnerschaft verspürten, und zu guter Letzt all jene, die sich nach Zweisamkeit vergeblich sehnten, weil sie einfach nicht den geeigneten Partner fanden. Diese dritte Gruppe sorgte unablässig für Spannungen, angefangen von Eifersüchteleien und Mobbing – eine Spezialität der Frauen – bis hin zu Schlägereien und sexuellen Übergriffen, wodurch die Männer ihre Unzufriedenheit kundtaten. Das Problem musste also grundlegend gelöst werden, sonst würde es früher oder später zum großen Eklat kommen.
Nun rächte sich die klischeebeladene, dennoch aber seit eh und je gepflegte Einstellung: Ein Mann ohne Frau war kein richtiger Mann, eine Frau ohne Mann war keine richtige Frau. Haarstäubend, welche Äußerungen da oft zu hören waren: Längere Zeit ohne Sex führe zu Impotenz und Debilität. Frauen ohne Mann alterten schneller. Sex steigere die Leistungsfähigkeit. Sexmangel führe zu Entzugserscheinungen wie bei anderen Drogen auch.
Schnell zeigte sich, dass Alkohol und Unzufriedenheit in der Liebe eine gefährliche Kombination waren. Nach mehreren Schlägereien in Folge von Alkoholkonsum wurde die Ausgabe harter Getränke beschränkt. Greg und Franka programmierten die Computer entsprechend um. Damit war das Problem jedoch nicht gelöst, sondern lediglich aufgeschoben.

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