Das Gewicht der Leere - Kapitel 13


 Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman

Alle außer Franka, Jörg und Muhammed fanden sich pünktlich um acht Uhr auf der Brücke ein. Die Vergewaltigung hatte sich herumgesprochen, entsprechend aufgeheizt war die Stimmung. Viele Frauen taten ihre Meinung lautstark kund, während die meisten Männer betreten blickten. Noch wussten sie nicht, wie sie auf diese stillschweigend ihnen zugeschobene kollektive Mitschuld reagieren sollten. Manche äußerten in dem Bedürfnis, sich zu verteidigen, Dinge, die sie nicht so meinten und unter anderen Umständen auch nie gesagt hätten. Das alles war kein guter Start für eine sowieso schon schwierige Debatte.
Derek kam sofort zur Sache: »Ihr wisst alle, warum wir heute zusammengekommen sind. Es gilt ein paar grundsätzliche Dinge zu regeln. Wir müssen Verhaltensmaßstäbe für unser Zusammenleben festlegen – und auch, wie wir auf den Bruch dieser Regeln reagieren wollen. Jeder von uns bringt ein gewisses Rechtsverständnis mit, eine Vorstellung von Gut und Böse, Richtig und Falsch, die er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat. Eine Auffassung, die nicht immer mit der der anderen übereinstimmt. Zuerst müssen wir uns fragen: Gelten die alten Regeln aus Erdentagen noch? Wir haben kein Gesetz hinter uns, an das wir uns halten müssen. Keine Exekutive, die über die Erfüllung der Gesetze wacht und Verstöße bestraft. Wir sind nun Legislative und Exekutive in einem. Unsere neuen Gesetze werden uns nur von der Vernunft vorgeschrieben. Diese Vernunft hat uns ein halbes Jahr ohne gravierende Probleme überstehen lassen, doch nun sind wir eindeutig an einem Punkt angelangt, an dem wir um eine weitergehende Regelung nicht herumkommen. Nach Muhammeds Angriff auf Sofia haben wir, da bin ich mir sicher, alle diese Notwendigkeit erkannt. Doch nun haben wir es nicht mehr nur mit einem sexuellen Übergriff zu tun – ich will mit diesen Worten nicht Muhammeds Verhalten entschuldigen, sondern es nur in Relation stellen –, sondern mit einer vollzogenen Vergewaltigung. Obwohl die zwischengeschlechtlichen Probleme die dringendsten zu sein scheinen, sind sie bei Weitem nicht die einzigen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen. Aber ich will nicht vorgreifen. Ich werde jetzt Muhammed und anschließend Jörg holen lassen. Sie sollen sich zu ihren Taten äußern können. Anschließend darf als Erste Sofia Stellung nehmen, wenn sie möchte.
Franka ist natürlich nicht in einem Zustand, der es ihr ermöglichen würde, hier ihre Interessen zu vertreten, deshalb wird unser Erster Offizier diese Aufgabe übernehmen. Danach kann jeder, der es möchte, seine Meinung sagen. Wir werden diesen Raum hier erst verlassen, wenn wir uns auf klare, für uns alle gültige Gesetze geeinigt haben – und auch darüber, mit welchen Mitteln wir im Bedarfsfall diese Gesetze durchsetzen. Tom und Vasili werden nun Muhammed holen.«
Der Ägypter war nicht gefesselt. Wohin hätte er auch flüchten sollen? Tom und Vasili waren beide große, kräftige Männer und durchaus in der Lage, den eher zierlichen Muhammed notfalls auch gegen seinen Willen herzubringen. Doch Muhammed leistete keinen Widerstand. Er sah trotz seiner dunklen Gesichtsfarbe fahl und mitgenommen aus, sein Status als Angeklagter machte ihm offensichtlich zu schaffen. An der Universität von Kairo war er einer der vielversprechendsten Genforscher gewesen. Ein angesehener, wohlhabender Mann. Sprössling einer ebenso angesehenen und wohlhabenden Familie. Vater von vier Kindern. Nun stand er hier und musste sich verteidigen. Derek ergriff das Wort:
»Muhammed! Du hattest nun vierundzwanzig Stunden Zeit, dir über dein Verhalten Gedanken zu machen. Jetzt hast du Gelegenheit, diese Gedanken hier vorzubringen. Alles, was du zu sagen hast, wird gehört werden und seinen Platz in der späteren Diskussion finden. Du kannst jetzt beginnen. Ich habe dir heute Nachmittag auch die Option gegeben, einen anderen zu benennen, der für dich sprechen könnte, aber du hast dich dazu entschieden, deine Argumente selbst vorzutragen.«
Derek setzte sich. Im ganzen Raum war es bis auf gelegentliches Räuspern und Husten still. Muhammed erhob sich.

»Ich möchte mich bei Sofia für mein unverzeihliches Verhalten von gestern entschuldigen. Und nicht nur bei Sofia, sondern bei allen Frauen. Ich bin zutiefst beschämt. Was ich nun vorbringen möchte, soll mein Verhalten nicht verteidigen, sondern es nur erklären helfen.

Ich bin in den Traditionen meiner Religion aufgewachsen. Meine Familie war sehr strenggläubig und ich bin auch heute noch von der inneren Wahrheit meines Glaubens überzeugt. Ohne ihn hätte ich das zurückliegende halbe Jahr nicht überstanden. Nur das Wissen, dass alles, was wir hier erleben und erdulden müssen, eine Fügung Allahs ist und es mir nicht ansteht, Seine Beschlüsse anzuzweifeln, haben mich jeden Tag ermuntert, meine Arbeit zu tun und mein Schicksal anzunehmen. Ich werde nun nicht von meiner Familie sprechen, von meiner Frau und meinen vier Kindern. Alle hier haben ihre Familien verloren und verhalten sich trotzdem anständig. Aber ich möchte ein klein wenig auf die Rolle der Frau in unserem Glauben eingehen. Die meisten Christen sind der Meinung, der Islam stelle die Frau auf eine Stufe mit Tieren und Gegenständen. Das ist völlig falsch! Zwar gibt es im Koran Passagen, die entsprechend lauten, aber ich möchte darauf hinweisen, dass sich dieselben, beinahe gleichlautenden Passagen auch in der Bibel finden. Und genau wie die Bibel hat auch der Koran eine Wandlung in seiner Auslegung durchlaufen. Ein Imam interpretiert den Koran heute vollkommen anders als noch vor tausend Jahren. Genau wie die Bibel in unseren Tagen völlig anders ausgelegt wird als vor Urzeiten. Wir achten unsere Frauen. Das Erste, was mich bei näherem Kontakt mit christlichen Kollegen überrascht, ja fast entsetzt hat, war, wie wenig manche von ihnen ihre Frauen wertschätzen. Und wie wenig Rückhalt die Frauen in der christlichen Gesellschaft haben. Das Kopftuch bei uns Muslimen ist kein Zeichen der Unterdrückung, sondern ein Zeichen des Stolzes. Die Frau hat in der islamischen Gesellschaft einen fest definierten Platz, den ihr niemand streitig machen kann.
An der Universität von Kairo, an der ich studiert und geforscht habe, gibt es verhältnismäßig wenige Frauen. Diese wenigen habe ich als Kolleginnen geschätzt, ich habe in ihnen nie die Frau an sich gesehen. Ich hatte ja zu Hause eine Frau, die ich liebte, und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, meine Bedürfnisse außerehelich zu befriedigen. Als ich dann für ein Jahr nach Amerika ging, hat mich dort diese neue, mir vollkommen fremde Lebensphilosophie überfordert. Alle Frauen liefen nackt herum. Ja, wirklich, im Vergleich mit unseren verhüllten Frauen waren sie nackt! Ihre Brüste waren deutlich zu sehen. Ihre Kleider endeten fünf Zentimeter unterhalb des Gesäßes, manche trugen noch nicht einmal etwas darunter! Für mich war das eine Aufforderung, eine Provokation. Es hat mich erregt – und ich war weit weg von zu Hause. Viele Frauen waren willig. Ein Abendessen, ein paar Worte, anschließend eine Liebesnacht und dann good bye! Ein paar Tage später habe ich sie mit einem anderen Mann beim Abendessen gesehen. Ihr nennt das Freiheit und Selbstbestimmung. Mir war es vollkommen fremd. Was sollte ich davon halten? Ich gestehe, ich habe nicht viel darüber nachgedacht, sondern habe genossen, was mir geboten wurde. Mit einem ganz leicht schlechten Gewissen meiner Frau gegenüber, das ich aber gut mit dem Argument beruhigen konnte, Allah würde mir sicher nicht solche Möglichkeiten bieten, wenn ich sie nicht nutzen sollte.
Ich möchte kein falsches Bild von der christlichen Frau zeichnen, denn ich habe viele Frauen getroffen, die hohe moralische Wertvorstellungen hatten, solche, die denen der islamischen Frauen in nichts nachstanden. Diesen Frauen bin ich aus dem Weg gegangen, wie sich das für einen Mann meines Glaubens geziemt. Meine Annäherung hätte ihre Ehre empfindlich verletzt.
Als ich mich bei Futura 3000 verpflichtete, sah ich auch dort wieder leichtbekleidete, willige Frauen. Und ich war wieder weit von meinem Zuhause, von meiner Familie entfernt. Dann kamen wir auf dieses Raumschiff. Ich bin einfach davon ausgegangen, hier ist es ebenso. Doch das war ein Irrtum. Ihr Frauen hier seid Wissenschaftlerinnen, die meisten hatten auf der Erde eine Familie, um die sie trauern, genauso wie ich. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir etwas verwehrt, das mir bislang außerhalb meines Kulturkreises ohne jede Anstrengung meinerseits angeboten wurde. Das habe ich nicht verstanden, ich wollte es auch nicht verstehen. Ich habe nicht unterschieden. Für mich wart ihr Frauen hier dieselben, die nackt auf den Straßen von New York herumliefen. Warum verhieltet ihr euch also plötzlich so abweisend? Und dann, tja, dann habe ich Alkohol getrunken. Ich, ein Moslem, dem das strengstens verboten ist und der in seinem ganzen bisherigen Leben niemals Alkohol getrunken hatte! Der Alkohol hat mich Dinge sagen und tun lassen, für die ich mich jetzt entsetzlich schäme. Ich habe mich nicht nur gegen unsere Gesellschaft versündigt, sondern auch gegen meinen Glauben. Die Strafe dafür werde ich willig tragen.«

Muhammed setzte sich. Ein paar Sekunden lang war kein Laut im Raum zu hören.
Dann räusperte sich Derek. »Sofia, möchtest du etwas dazu sagen?«
Sofia schüttelte den Kopf.
»Jetzt nicht, vielleicht nachher. Ist das später auch noch möglich?«
»Natürlich! Dann holen wir jetzt Jörg.«
Tom und Vasili erhoben sich. Nach wenigen Minuten kamen sie mit Jörg zurück. Seine Haltung war eine völlig andere als die Muhammeds. Herausfordernd musterte er die versammelten Menschen.
»Jetzt kannst du dich äußern«, sagte Derek knapp. »Du weißt, um was es geht. Wir haben heute Nachmittag darüber gesprochen.«

»Ich habe nichts zu sagen. Ihr seid weder Richter noch Polizei. Es gibt keine Richter mehr und auch keine Polizisten. Mir gegenüber habt ihr keinerlei Rechte. Nicht einmal das, mich festzuhalten und einzusperren.«

»Ich bin der Captain dieses Schiffes. Gäbe es die Erde noch, hätte ich in meiner Rolle absolute Befehlsgewalt. Ich könnte sogar über dein Leben oder deinen Tod entscheiden. Allerdings gibt es die Erde nicht mehr. Ich habe mich zu einer Führung des Raumschiffes entschieden, die demokratischen Grundsätzen folgt, weil ich der Meinung bin, unsere Gemeinschaft ist zu einer funktionierenden Demokratie fähig. Dabei wird es so lange bleiben, bis ich das Gegenteil erkennen muss. Niemand kann dich zwingen, etwas zu deiner eigenen Verteidigung zu sagen. Aber der Erste Offizier wird die Interessen von Franka Reinhardt vertreten. Deine Tat wird weder ungenannt noch ungesühnt bleiben.«

»Der Nigger! Na, das hätte ich mir ja denken können. Der ist ja bloß neidisch, weil ich ihm zuvorgekommen bin. Hätte die kleine Franka am liebsten selbst unter sich. Aber die mag keine Bimbos, so ein Pech! Wenn ihr es genau wissen wollt: Die süße kleine Franka war vollkommen damit einverstanden. Konnte den Anzug gar nicht schnell genug runter bekommen. Und es war auch beileibe nicht das erste Mal! In meine Wohnung ist sie gekommen, nachts, damit sie tagsüber die gramgebeugte Mutti spielen kann. Aber sie ist eine heiße Nummer, kann ich euch sagen! Hat mir einiges beigebracht ...«

Toms Faust traf Jörg am Kinn, er kippte nach hinten. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, waren schon drei andere Männer bei ihm und hielten ihn fest.
Alice schrie: »Stopft ihm das Maul! Warum tut denn keiner was?«
Tumult brach aus. Viele waren aufgesprungen.
»Ruhe!«, brüllte der Captain. »Setzt euch wieder!«
Dann wies er die drei Männer, die Jörg festhielten, an: »Bringt ihn in die Wohnung zurück. Er hatte Gelegenheit, sich zu verteidigen. Die hat er nicht genutzt. Das ist nun einzig sein Problem.«
Dann wandte er sich an seinen Ersten Offizier: »Terence! Du warst es, der heute Morgen Zeuge der Tat war und Franka gerettet hat. Trage vor, was geschehen ist, damit jeder weiß, worüber wir reden.«
Terence erwachte wie aus Trance. Die rassistischen Entgleisungen Jörgs berührten ihn nicht. Schon häufig in seinem Leben hatte Terence das Wort Nigger gehört. Aber Jörgs Auslassungen über Franka, sein vollkommen fehlendes Schuldgefühl, all das entsetzte ihn. Knapp trug er die Fakten vor. Sie waren schlimm genug und bedurften keiner detaillierteren Erklärung. Nachdem Terence geendet hatte, forderte der Captain alle auf, ihre Meinung über die einzelnen Vorfälle zu äußern, auch, wie sie sich eine Bestrafung der Schuldigen vorstellten und wie man weitere Ausschreitungen verhindern könnte.
Sofia stand auf.
»Ich möchte zuerst etwas zu dem sagen, was mich und Muhammed betrifft. Muhammeds Entschuldigung nehme ich an und bin der Meinung, wir sollten die Sache damit auf sich beruhen lassen und uns mit der Vergewaltigung beschäftigen. Muhammed wird sich in Zukunft vorbildlich benehmen, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
Sie setzte sich wieder und spontaner Applaus zeigte, wie viele sich Sofias Vorschlag anschlossen.
»Gut! Ich denke, das Thema können wir abhaken«, sagte Derek. »Muhammed wird Allahs Strafe fürchten müssen, nicht unsere. Wenden wir uns Jörg Norford zu. Wer möchte dazu etwas äußern?«
Alice erhob sich.
»Er bereut nichts, das hat sein Auftritt gerade eben deutlich gezeigt. Dieser Kerl hat ein Mitglied unserer Gesellschaft schwer physisch und psychisch verletzt, und zwar mit ganzer Absicht und in vollem Bewusstsein. Für mich ist sonnenklar: Er wird es jederzeit wieder tun. Er kann ja nicht einmal für sich in Anspruch nehmen, betrunken gewesen zu sein! Für so jemand ist in unserer Gemeinschaft kein Platz. Wenn ihr meine ehrliche Meinung hören wollt: Es wäre das Beste für uns alle, wenn Jörg Norford sterben würde. Aber ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass ich dafür keine Mehrheit gewinnen kann. Also müssen wir ihn wegsperren – und zwar auf Dauer. Mit allen Konsequenzen, die das für unsere Gesellschaft hat.«
Die meisten waren bei Alices Vorschlag, Jörg Norford hinzurichten, zusammengezuckt. In sämtlichen Ländern, aus denen diese Menschen kamen, war die Todesstrafe seit langem abgeschafft gewesen. Einer der beiden Techniker, mit denen der Angeklagte häufig zusammen war, stand auf.
»Ich möchte Jörgs Tat beileibe nicht verteidigen. Auch ich finde sie abscheulich. Aber auf der Erde wäre er dafür mit ungefähr fünf Jahren Gefängnis bestraft worden. Die Todesstrafe scheint mir doch etwas übertrieben.«
»Ihn fünf Jahre lang einzusperren, das würde bedeuten, sich fünf Jahre lang um ihn kümmern zu müssen! Ich nehme an, das Einsperren an sich ist kein Problem? Wenn wir seine Netzhautdaten aus dem Computer löschen, kann er keine einzige Tür passieren«, nahm der Arzt Reuben den Faden auf. 
»Das ist richtig, allerdings kann er dann auch die Speise- und Getränkeautomaten nicht bedienen. Sie funktionieren auch über Netzhautzulassung«, gab der Captain zu bedenken.
Hier mischte sich Greg ein. Die Nachricht von Frankas Vergewaltigung hatte ihn in rasende Wut gestürzt. Von ihm aus hätte der Kerl verhungern können. Aber hier ging es um seine Kompetenz als Programmierer.
»Wir können einen Automaten für ihn freigeben. Das ist programmtechnisch kein Problem.«
»Wie stellt ihr euch das praktisch vor? Wir können ihn nicht einfach in eine Wohnung sperren, für sein körperliches Wohl sorgen und ihn dann völlig sich selbst überlassen. Nach spätestens vier Wochen dreht er durch! Da wäre es humaner, ihn gleich zu töten«, argumentierte Vasili.
»Wir können ihn nicht umbringen! Damit begeben wir uns auf sein niedriges moralisches Niveau!«
»Du kannst ja mit ihm Mensch ärgere dich nicht spielen!«
Kurt, der Psychologe, schaltete sich ein: »Vasili hat recht. Das hält kein Mensch auf Dauer aus. In irgendeiner Weise müssen wir uns um Jörg Norford kümmern. Schon im Hinblick auf eine spätere Reintegration. Wir können ihn ja nicht für den Rest seines Lebens hinter Schloss und Riegel halten.«
»Meinetwegen schon!«
»Wisst ihr, was ich zum Kotzen finde? Genau wie bei einer Gerichtsverhandlung auf der Erde finden sich nun auch hier sofort Dutzende, die um das Wohl des Verbrechers zutiefst besorgt sind. Ich habe noch keinen einzigen gehört, der auch nur einen Gedanken an Franka verschwendet hat. Über die Opfer wird möglichst geschwiegen. Wahrscheinlich ist der eine oder andere sogar der Meinung, sie ist selbst daran schuld, was ihr da passiert ist. Vielleicht hat sie ihn irgendwie ermuntert, sodass er gar nicht anders konnte? Ich kenne diese Argumente, denn ich habe jahrelang in der Justiz gearbeitet. Sie kommen bei jeder Vergewaltigung aufs Tapet!«
»Das ist doch Quatsch! Natürlich denken wir an Franka. Und niemand ist der Meinung, sie könnte in irgendeiner Weise selbst schuld sein.«
»Bist du da so sicher? Vielleicht findet ihr leichter eine Mehrheit dafür, Franka umzubringen. Dann könnt ihr Jörg sofort wieder frei lassen, und alle Probleme sind gelöst.«
»Ich bin dafür, wir beschränken uns auf sachliche Argumente. Langsam wird's kindisch!«
»Gehen wir mal von einer Freiheitsstrafe aus. Wie lange? Und was machen wir danach?«, schaltete sich der Captain wieder in die Diskussion ein.
»Das können wir uns ja überlegen, wenn die Zeit gekommen ist. Vielleicht leben wir bis dahin alle nicht mehr!«
»Vielleicht sollten wir nicht vollständig ausschließen, dass er sich im Laufe der Zeit ändert. Er ist nicht der negativen Beeinflussung von Mitgefangenen ausgesetzt und wird schnell feststellen, wie alleine er dasteht. Möglicherweise fängt er dann an nachzudenken.«
»Eine psychologische Betreuung wäre sowieso angebracht. Schon um ein Abrutschen in den Wahnsinn zu verhindern.«
»Aber ohne mich!« Irina klang entschieden. »Ich gehe nicht in seine Nähe! Von mir aus kann er verrecken!«
»Ziemlich unprofessionell, Kollegin«, bemerkte Kurt.
»Dir geht er ja auch nicht an die Wäsche!«
Ein paar kicherten verhalten. Der Captain stand auf.
»Könnten wir vielleicht zu einem Beschluss kommen? Es scheint sich eine deutliche Mehrheit dafür abzuzeichnen, Jörg Norford auf längere Zeit einzusperren.«
Aus dem Hintergrund hetzte eine Frau: »Ich bin für fünfzig Peitschenhiebe zusätzlich!«
»Ich finde Elektroschocks angebracht!«, ergänzte eine andere.
Derek seufzte. »Solche Fantasien sparen wir uns besser. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr sachlich bleiben könntet. Zur Debatte steht jetzt die Länge der Haftstrafe. Jörgs Kollege hat fünf Jahre ins Spiel gebracht, das Strafmaß, das auf der Erde für Norfords Vergehen üblich gewesen wäre. Wer hat einen anderen Vorschlag?«
»Hundert Jahre!«
Wieder lachten ein paar.
»Könnten wir uns vielleicht tatsächlich auf fünf Jahre einigen? Danach wird geprüft, ob eine Reintegration ohne Gefahr für die anderen möglich ist.« Der Captain ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. 
Alice meldete sich noch einmal: »Ich möchte, dass über die Möglichkeit der Todesstraße ebenfalls abgestimmt wird. Auf der Erde war auch ich eine Gegnerin der Todesstrafe. Aber dort waren die Verhältnisse völlig andere. Hier, wo wir nun leben müssen, sind sämtliche Ressourcen begrenzt. Ein Gefangener auf zweiundachtzig Menschen, das macht etwa 1,2 Prozent. Übertragen auf die ehemalige Bevölkerung der Erde wären das zweiundsiebzig Millionen Gefangene. Ich glaube, da hätte man auch auf dem Blauen Planeten wieder ernsthaft die Todesstrafe in Erwägung gezogen. Deswegen möchte ich wissen, wie viele gleich mir der Meinung sind, dass wir keine Zeit und keine Ressourcen für jemanden verschwenden dürfen, der eine Gefahr für die anderen darstellt.«
»Gut! Ich bin bereit, auch darüber abstimmen zu lassen. Allerdings halte ich die Auswirkungen dieser Maßnahme für sehr gravierend und votiere deshalb für eine Dreiviertelmehrheit, die erreicht werden muss, um den Antrag anzunehmen.«
»Von mir aus. Mit einer Dreiviertelmehrheit wäre ich einverstanden.«
»Hat jemand noch sonstige Einwände oder Bedenken? Nein? Gut, dann stimmen wir ab. Wer für die Todesstraße ist, hebe bitte die Hand!«
Eine erstaunlich große Anzahl von Händen ging nach oben. Die meisten gehörten Frauen, aber auch Männer stimmten für Jörgs Hinrichtung. Die Auszählung ergab sechsunddreißig Ja-Stimmen. Muhammed hatte darum gebeten, sich der Votierung enthalten zu dürfen. Ohne Jörg und Franka stimmten neunundsiebzig Personen ab. Alice lehnte sich zufrieden zurück. Sie hatte zumindest einen Beweis dafür erhalten, mit ihrer Meinung nicht so vollkommen alleine dazustehen, wie es zu Anfang ausgesehen hatte.
»Nun zur Freiheitsstrafe: Möchte jemand eine andere Straflänge zur Diskussion stellen? Nein? Also fünf Jahre. Diesmal genügt eine einfache Mehrheit, sonst kommen wir nie zu einem Ende. Also: Wer ist für eine Freiheitsstrafe von vorerst fünf Jahren?«
Dreiundvierzig Hände hoben sich. Der Beschluss war gefasst.
»Damit sind wir leider noch nicht fertig«, sagte Derek. »Zwar haben wir über einen Verbrecher zu Gericht gesessen, aber wir haben bis jetzt nicht grundsätzlich über das Problemfeld Sexuelle Belästigung gesprochen. Zusätzlich möchte ich noch zwei andere Themen zur Diskussion stellen. Das eine ist das der rassistischen Diskriminierung. Ihr alle habt gehört, wie Terence von Jörg bezeichnet wurde. So etwas soll auf diesem Raumschiff nicht geduldet werden. Wir stammen alle aus verschiedenen Kulturen und haben unterschiedliche Hautfarben. Niemand darf also deswegen diskriminiert werden, auch nicht verbal. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich möchte die Rassengleichheit festgeschrieben haben. Der zweite Punkt betrifft die Religionsfreiheit. Damit wir hier nicht endlos sitzen und debattieren, habe ich mit Hilfe von  Terence, Tom, Alice und Irina eine Art Gesetzestext erarbeitet, den ich zur Diskussion stellen möchte und der dann bei Bedarf entsprechend abgeändert wird.«
Derek gab Terence ein Zeichen, worauf dieser die Raumbeleuchtung dämpfte und den riesigen Monitor einschaltete.


§ 1
Das Zusammenleben auf dem begrenzten Raum der Conquest soll nach dem Prinzip des Kategorischen Imperativs von Immanuel Kant geregelt werden: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.«

§ 2
Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Die freie Partnerwahl bleibt unangetastet.
Alle ethnischen Gruppen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seiner Hautfarbe und ethnischen Herkunft diskriminiert werden.
Alle Religionen sind gleichberechtigt. Niemand darf in der Ausübung seiner Religion behindert oder an der Ausübung gehindert werden, solange die Ausübung nicht für andere Nachteile bringt oder eine Gefährdung darstellt.

§ 3
Jeder ist verpflichtet, seine beruflichen Fähigkeiten und Kenntnisse zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen.

§ 4
Jeder ist verpflichtet, sich über seine beruflichen Fähigkeiten und Kenntnisse hinaus an den Tätigkeiten, die zur Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Lebens notwendig sind, zu beteiligen.

§ 5
Verstöße gegen die §§ 1 bis 4 werden geahndet. Über Form und Länge der Strafe entscheidet die Gemeinschaft in mehrheitlicher Abstimmung.

Derek las die einzelnen Paragraphen vor. Gleich beim ersten war aus einer der hinteren Reihen zu hören:
»Und was heißt das im Klartext?«
Bevor der Captain auf die Frage eingehen konnte, kam die Antwort aus dem Plenum: »Kennst du das Sprichwort ›Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu‹? Wenn du dich daran hältst, liegst du ziemlich richtig!«
Alle lachten.
Es wurde noch ein wenig über die eine oder andere Formulierung diskutiert, aber inhaltlich kamen keine Einwände. Mitternacht war bereits vorüber, als sich die Versammlung auflöste. Die Spannungen der letzten Tage hatten sich verflüchtigt. Alice sah noch kurz nach Franka auf die Krankenstation und berichtete ihr über den Ablauf der Zusammenkunft und über die Beschlüsse. Franka äußerte sich nicht dazu.
»Könntest du Terence bitten, morgen früh zu mir zu kommen?«, fragte sie, bevor sich Alice verabschiedete.

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