Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Obwohl Franka davon überzeugt gewesen war, kein Auge zutun zu können, hatte sie in der Nacht tief und traumlos geschlafen. Die Erschöpfung nach den Strapazen des Starts – ob simuliert oder nicht – waren wohl der Grund dafür. Tom hatte auf dem Sofa im Wohnzimmer genächtigt.
»Du bist einfach zu schön«, war seine mit einem spitzbübischen Lächeln vorgebrachte Erklärung, als sie die Verteilung der Schlafplätze besprochen hatten. »Ich könnte nicht garantieren, meine Hände bei mir zu behalten.«
Um zehn Uhr am Vorabend, zumindest zeigte die Computeruhr diese Zeit an, war die tageslichtähnliche Helligkeit langsam, anfangs fast unmerklich, schwächer geworden, bis sie eine halbe Stunde später ganz gewichen war. Doch auch danach saßen Tom und Franka nicht im Dunkeln, denn sie konnten mit herkömmlichen Lichtschaltern eine ganz normale künstliche Beleuchtung erzeugen. Am Morgen nach ihrer ersten Nacht an Bord, um sieben Uhr, erschien das »Tageslicht« wieder. Die Simulation einer Tag-Nacht-Abfolge jedenfalls war geglückt.
Mit dem Aufwachen kehrte Frankas Angst wieder. Was, wenn sie sich tatsächlich nicht mehr auf der Erde befanden? Wenn sie tatsächlich ins All geflogen waren? Kehrten sie dann nach einigen Tagen wieder nach Hause zurück? Oder würden Victor, Philippa und Valerie vergeblich am Flughafen auf sie warten?
»Mach dir keine unnötigen Sorgen«, beruhigte sie Tom, der sich auf dem Computerbildschirm gerade ein opulentes Frühstück zusammenstellte. »Sie können uns nicht ewig eingesperrt lassen. Spätestens danach erfahren wir, was hier eigentlich gespielt wird.«
Franka bewunderte Toms Ruhe. Die Vorstellung, die Erde verlassen zu haben, schien ihn nicht im Mindesten zu belasten. Sie hingegen fing jedes Mal zu zittern an, wenn sie auch nur daran dachte, ein Zentnergewicht legte sich dann auf ihre Brust. Bei der Vorstellung, etwas essen zu müssen, wurde ihr übel, obwohl die kulinarische Auswahl nichts zu wünschen übrig ließ. Demgemäß saß Tom jetzt auch vor einer reichlichen Portion Eier mit Speck und Kartoffeln, während Franka sich mit einem Müsli abmühte – und das auch nur, weil sie ihrer Vernunft gehorchte, das Loch im Magen füllen zu müssen.
Den ganzen Tag über zeigte sich niemand. Sie vertrieben sich die Zeit mit Lesen und Musikhören. Tom wurde zunehmend gereizter. Nichtstun war nicht seine Stärke. Franka hingegen hätte stundenlang tatenlos zubringen können, wenn nur die besorgniserregenden Gedanken nicht gewesen wären. So war auch sie mit ihren Nerven am Ende, als sich gegen Abend plötzlich die Tür öffnete und Terence Quist, der Erste Offizier, hereintrat. Erstaunt stellte Franka fest, dass es ihm anscheinend nicht besser erging als ihr selbst. Trotz seiner dunklen Hautfarbe wirkte er angegriffen und fahl, er schien eine große Last mit sich herumzuschleppen.
»Kommen Sie!«, forderte er sie mit unbewegter Miene auf. »Die anderen warten schon auf der Brücke.« Dann wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten voran. Franka und Tom folgten ihm.
»Hören Sie mal!« Tom packte Quist grob am Arm. »Finden Sie nicht, dass Sie uns eine Erklärung schulden? Oder ist es bei Futura 3000 üblich, Gäste über Nacht einzusperren?«
Der Physiker war stehen geblieben. Er machte keinen Versuch, sich aus Toms Griff zu befreien. »Natürlich schulden wir Ihnen eine Erklärung. Der Captain wird sie Ihnen auf der Brücke liefern.«
Eine Weile musterten sich die beiden Männer schweigend. Dann ließ Tom den Arm des Anderen los und sie setzten ihren Weg fort. Franka trottete hinterher. Je näher sie der Brücke kamen, desto zögerlicher wurden ihre Schritte. Bis jetzt hatte sie sich immer noch mit viel Mühe einreden können, alles sei in Ordnung. Ob das in einer Stunde auch noch so sein würde?
Sie waren die Letzten. Alice sprang bei ihrem Anblick erleichtert auf: »Tom, Franka, wo habt ihr gesteckt? Wart ihr auch in einer Wohnung eingesperrt? Das ist eine Frechheit. Da bin ich aber gespannt, welche Ausrede der Captain für dieses Verhalten vorbringen wird. Meine Beschwerde bei der Leitung dieses Parks wird er damit allerdings nicht verhindern!«
»Da wirst du nicht die Einzige sein!«, vermutete Tom und fügte beschwichtigend hinzu: »Warten wir ab, was unser Captain zu sagen hat.«
Der Sitz des Captains war noch leer, während der Erste Offizier schon Platz genommen hatte, ebenso alle anderen Besatzungsmitglieder. Sie bildeten einen geschlossenen Kreis um die empörten Reisenden. Das war schon gestern beim Start so gewesen, aber erst jetzt fiel es Franka auf. Das erregte Geschnatter der Gäste erstarb nach und nach, während sich Franka, Tom und Alice auf die drei letzten noch freien Plätze setzten. Als Captain Hunter schließlich eintrat, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören.
»Sie möchten eine Erklärung von mir haben. Und die werden Sie auch bekommen. Sie wird Ihnen nicht gefallen, aber leider kann ich an den Tatsachen nichts ändern. Ich möchte Sie bitten, sich etwas anzusehen.«
Captain Hunters Handbewegung wies einen der Offiziere an, verschiedene Knöpfe auf einer der Konsolen zu drücken. Die Beleuchtung im Raum erlosch, ein riesiger Bildschirm erschien. Zunächst war er nur ganz dunkel, fast schwarz. Aber dann tauchten aus der Schwärze nach und nach Sterne auf. Bald sahen die staunenden Fluggäste einen Sternenhimmel vor sich, der dem ähnelte, den sie am Abend ihrer Anreise von den Jeeps aus bewundert hatten. Doch genauso, wie jener ein Vielfaches der Sterne gezeigt hatte, die in einer Nacht über Deutschland erkennbar waren, so waren nun auf diesem Sternenhimmel, der sich auf dem Bildschirm betrachten ließ, noch einmal unendlich viel mehr funkelnde Lichter erkennbar. Die einzelnen Punkte waren stellenweise kaum mehr voneinander zu unterscheiden, sondern bildeten größere helle Flächen. Es war ein ehrfurchtgebietender Anblick! Dann schwenkte die Kamera. Die Lichtpunkte zogen Schweife wie Kometen und verschwanden am rechten Bildschirmrand. Eine dunkle Kugel glitt über den Bildschirm, bewegte sich bis zu dessen Mitte und blieb dann reglos in der Leere stehen. Strahlender Dunst umgab sie wie ein Heiligenschein.
»Die Erde!« Wie ein Raunen klang es durch den Saal. Plötzlich begann der linke Teil der Erdkugel zu erstrahlen. Wie im Zeitraffer vergrößerte sich die leuchtende Fläche von einer schmalen Sichel zur Halbkugel, bis nach einigen Minuten der gesamte Planet wie ein phosphoreszierendes türkisgrünes Juwel im schwarzen Raum schwebte. Ein Aufseufzen ging durch die Zuschauer.
»Wie schön!«
»Unglaublich!«
»Wahnsinn!« So klang es von allen Seiten.
Doch plötzlich näherte sich von rechts oben ein riesiger schwarzer Schatten. Rasend schnell bewegte er sich auf die Erde zu. Bruchteile von Sekunden schien die Zeit still zu stehen, als die beiden gigantischen Massen aufeinanderprallten. Ein greller Blitz, der über den ganzen Bildschirm flammte und die Zuschauer zwang, ihre Augen zu schließen. Dann war der Schirm leer – bis auf eine unermessliche Anzahl von blutrot leuchtenden Punkten, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit vom Zentrum der Kollision entfernten. Der Bildschirm wurde dunkel und das Raumlicht erstrahlte wieder. Wie erstarrt saßen alle auf ihren Plätzen. Lange Zeit war kein Ton zu hören.
»Ich hoffe nur, das war eine Simulation«, klang es plötzlich fast flehentlich aus einer der hinteren Reihen. »Dann war es zumindest eine äußerst geschmacklose Simulation.«
Der Captain räusperte sich. »Das war keine Simulation, so sehr ich das auch bedauere. Die Erde wurde vor acht Stunden von einem gigantischen Meteoriten, dessen Masse mehr als die Hälfte der Erdmasse betrug, getroffen. Wir alle hier haben dieses Ereignis nur überlebt, weil wir gestern tatsächlich die Erde verlassen haben.«
Wieder herrschte atemlose Stille. Von Zeit zu Zeit wurde sie von einem eigenartigen Laut durchbrochen, der wie ein Schluckauf klang. Plötzlich fing ein Mann an zu schreien. Zuerst waren es kleine, überraschend spitze Schreie, die sich dann aber rasch zu einem hysterischen Kreischen steigerten. Sofort waren einige der Besatzungsmitglieder zur Stelle. Einer von ihnen schien Arzt zu sein, denn er verabreichte dem Tobenden zuerst eine Ohrfeige und dann eine Beruhigungsspritze, bevor er auf einer Liege abtransportiert wurde.
Alle hatten zugesehen, unfähig, sich zu bewegen. Ein dumpfes Geräusch ließ sie aufschrecken: Eine Frau war ohnmächtig zusammengesunken und vom Sitz gerutscht. Auch sie wurde weggetragen. Tom erhob sich, ging zu Alice und nahm sie in die Arme. Sein Beispiel ermunterte andere. Bald hielten sich eine ganze Reihe von Menschen eng umschlungen.
Franka kauerte in ihrem Sitz. Sie hatte die Beine hochgezogen und schaukelte vor und zurück. Stumm, immer wieder, mit starrem Blick. Ihr einziges Bestreben in diesen Minuten war, nicht zu denken. Sie wusste genau: Wenn sie damit anfing, würde sie zusammenbrechen. Eine dunkle Hand legte sich auf ihren Arm. Franka musste nicht aufblicken, sie wusste, wem diese Hand gehörte.
»Sie haben es gewusst!«, murmelte Franka fast unhörbar. »Sie hätten es mir sagen müssen! Ich hatte das Recht, mit meiner Familie zu sterben.«
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