Phoenix

 


Mona Kim Kurzgeschichten Phoenix


Phoenix bewegte sich lautlos durch die riesige, verfallene Lagerhalle. Überall standen zurückgelassene Gegenstände, die ein Anschleichen zwar erleichterten, den Gegner aber auch erst recht spät entlarvten. Sein durchtrainierter, kraftvoller Körper hatte kein Problem damit, sich längere Zeit gebückt anzuschleichen. Auch konnte er mit einem lautlosen Sprung scheinbar unüberwindliche Barrieren überwinden, ohne deshalb seine Laserwaffe auch nur für eine Sekunde aus der optimalen Schusshaltung zu bewegen. Er wusste seine Gefährten hinter sich. Zwar war die Leitung dieses gefährlichen Unternehmens ihm übertragen worden und die Anderen hatten nur die Aufgabe, ihm Rückendeckung zu geben, aber dennoch war es ein angenehmes Gefühl, seine Gefährten und seine Gefährtin dabeizuhaben. 

Kurze Zeit erlaubte er seinen, auf die bevorstehende Aufgabe konzentrierten Gedanken das leichte Abschweifen zu Cat, der einzigen Frau in ihrer Truppe. Es gab in diesem gefährlichen Geschäft, bei dem es auf Intelligenz, Reaktionsvermögen, aber auch auf Körperkraft ankam, ohnehin nur sehr wenige Frauen. Cat gehörte erst seit kurzem zu ihrem Clan. Nach dem letzten, vernichtenden Schlag gegen die Asia-Connection war sie als einzige Überlebende zu ihnen gestoßen. Die Vorsicht hätte verlangt, die Feindin zu eliminieren, aber Phoenix hatte sich für sie eingesetzt. Nun kämpfte sie seit einem halben Jahr für die European Unity und war in dieser kurzen Zeit in die obersten Ränge aufgestiegen. Ihre asiatische Herkunft konnte Cat nicht verleugnen: die kleine, zierliche Gestalt, deren Schnelligkeit und tödliche Präzision der Gegner erst erkannte, wenn es zu spät war. Ihr zartes, fein geschnittenes Gesicht mit den mandelförmigen Augen, in die sich Phoenix schon beim ersten Anblick verliebt hatte. Dieses Gesicht, das seinen kindlich-unschuldigen Ausdruck auch mitten im Kampfgetümmel behielt. Zu Cats besonderen Fähigkeiten gehörten sämtliche asiatischen Kampfsportarten. Dadurch konnte sie die fehlende Körperkraft mehr als ausgleichen. 

Ihre Beziehung war nicht lange beruflicher Art geblieben. Zuerst hatte Phoenix gedacht, Dankbarkeit sei dafür verantwortlich, dass Cat sich immer in seiner Nähe aufhielt. Aber bald ließ sich diese Vermutung nicht mehr aufrechterhalten: Es war eindeutig keine Dankbarkeit, die sie dem 40 Zentimeter größeren und doppelt so schweren Starkämpfer der Truppe entgegenbrachte. Seit sechs Wochen waren sie offiziell ein Paar. Eigentlich wurden Verbindungen innerhalb derselben Einsatztruppe nicht gerne gesehen. Eine emotionale Bindung bedeutete immer Ablenkung und Rücksichtnahme, wo Konzentration und Rücksichtslosigkeit gefordert waren. Aber sowohl Phoenix als auch Cat waren viel zu sehr Profi, um ihre tödliche Zuverlässigkeit durch die private Beziehung beeinträchtigen zu lassen. Das musste sich auch der Chef eingestehen und hatte sie deshalb in derselben Kampfeinheit belassen. 

Trotz seiner Jugend war Phoenix einer der Größten. In der Weltrangliste rangierte er auf Platz neun. Das war für einen Achtzehnjährigen eine großartige Leistung. Alle acht vor ihm Platzierten waren bei Weitem älter und kampferfahrener. Eine große Zukunft wurde Phoenix vorhergesagt. Es gab sogar Stimmen, die ihn als Sieger aus den letzten großen Kämpfen hervorgehen sahen. Doch bis dahin war es noch weit. Seit die Asia-Connection vernichtend geschlagen worden war, gab es zwar nur noch vier Terra-Clans, aber die waren alle stark und hatten ebenfalls hervorragende Kämpfer. Am schwierigsten würde die Australian Army zu schlagen sein. Vier der in der Weltrangliste vor ihm platzierten Kämpfer gehörten diesem Verband an. Zwei gehörten zur American Unity, einer zu den African Troops und einer natürlich zu ihnen: ihr Leader, Velocity. Phoenix würde sich jedenfalls bereithalten. Unermüdlich trainierte er bis zu sechzehn Stunden am Tag, um seine Reaktionsschnelligkeit zu verbessern.

Dies war so ein Kampftraining. Die Gegner, die ihn in dieser Lagerhalle erwarteten, waren eigene Leute. Aus diesem Grund war die gefährlich aussehende Waffe, die er trug, auch nur ein harmloser Farblaser. Schließlich wollten sie ja nicht ihre eigenen Leute eliminieren. Dennoch gab Phoenix sein Bestes. Dieser Einsatz würde entscheiden, ob er in vier Wochen gegen die American Unity als Leader antreten durfte oder nur als zweiter Mann, hinter Velocity.

Die Gedanken, die durch Phoenix' Kopf drifteten, beeinträchtigten seine Konzentration nicht. Sie bewegten sich sozusagen auf einem Nebengleis. Die Hauptverbindung seiner Gehirnwindungen war voll und ganz auf die bevorstehende Aufgabe gerichtet. Deshalb spürte er den Gegner, bevor er ihn sah: durch dieses leichte Aufstehen seiner Nackenhärchen, das ihm, wie eine Antenne, Gefahr signalisierte. Sekundenbruchteile später zerriss das hohe Heulen seiner Laserwaffe, das sich fast wie ein Schrei anhörte, die vorher tödlich anmutende Stille und sein Gegner – ein kurzer Blick, bevor er sofort wieder in Deckung ging, hatte ihm gezeigt, dass es Struggle war – lag kampfunfähig am Boden. Struggle! Das war sehr gut, denn Struggle war nach ihm der beste Kämpfer ihrer Einheit. Plötzlich hörte er links hinter sich einen markerschütternden Schrei, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Es war Cat, die mit einem Fußtritt gegen die Kehle eines Angreifers diesen außer Gefecht setzte. Grinsend hob sie den Daumen. Zwei der vier waren erledigt. Anfangs hatten sie versucht, Cat davon abzubringen, bei ihren Angriffen immer so zu schreien, denn sie lähmte damit nicht nur ihre Gegner, was ja beabsichtigt war, sondern leider auch ihre eigenen Gefährten. Aber die Asiatin hatte versucht, ihnen zu erklären, dass dies nicht möglich sei. Es wäre so, als ob sie ohne Laserwaffe schießen müssten. Genauso wie ein Schuss nur aus der Waffe komme, so würde ein Fußtritt nur aus dem Schrei entstehen. Sie hatten diesen Vergleich zwar nicht nachvollziehen können, glaubten ihr aber. Durch gezieltes Training hatten sie sich gegen diese Schreie abgehärtet.

Phoenix hatte fast das andere Ende der Halle erreicht. Hinter ihm war kein Gegner, den hätten seine Gefährten längst entdeckt. Also mussten die anderen beiden vor ihm sein. Oder über ihm. Der Gedanke kam ihm Bruchteile von Sekunden, bevor der schwarze Schatten sich von dem dicken Versorgungsrohr herab auf ihn stürzte. Aber diese Zeit reichte aus für ihn, um sich elegant zur Seite zu rollen und den Gegner, der nun auf dem leeren Boden landete, mit einem gezielten Schuss zu erledigen. Nur noch einer! Noch aus der Seitwärtsrolle heraus, mit der er sich unter dem herabfallenden Feind in Sicherheit gebracht hatte, erspähte er den Letzten seiner Widersacher hinter ein paar Fässern in der Ecke. Dessen Schatten, der von dem durch das offene Tor am anderen Ende der Halle einfallende Licht auf die Wand geworfen wurde, hatte Phoenix seine Anwesenheit verraten. In einem großen Bogen bewegte Phoenix sich lautlos im Halbkreis auf das Hindernis zu. Das war zu einfach. Der Trottel schaute gebannt in die andere Richtung. Fast schade um die Farbe!

Er hatte es geschafft!

Unter dem Jubel seiner Kameraden und dem bewundernden Blick Cats unterbrach er die Verbindung ins Internet und schaltete seinen Computer ab.


Schwerfällig manövrierte er seinen Rollstuhl zur Tür hinaus. Ungeduldig warteten dort seine Eltern. Sie saßen, wie fast alle der auf knapp achtunddreißig Millionen Menschen geschrumpften weltweiten Gesamtbevölkerung, im Rollstuhl. Denn es war schon lange nicht mehr notwendig, sich zu bewegen. Geschäfte, Einkaufen, Sport, ja sogar Sex, alles lief über das Netz. 

Für seine Eltern war es ein großer Tag. Ihre Aufregung hatte sich bis heute nicht gelegt. Ausgerechnet ihr Sohn war einer der insgesamt 23 Männer auf der ganzen Erdkugel, dessen Samen noch zeugungsfähig war! Seither musste er einmal im Monat in die Klinik, um Samen zu spenden. Er hasste diese Tage. Bei der Fahrt in dem gepanzerten Krankenwagen wurde ihm regelmäßig übel. Am meisten hasste er die Klinik selbst, vor allem den im Untersuchungsraum angebrachten großen Spiegel. Jedes Mal nahm er sich vor, nicht hineinzuschauen, und jedes Mal tat er es doch. Danach hatte er tagelang mit Alpträumen zu kämpfen, die ihm sein Spiegelbild verursachte: die kleine, knapp 140 Zentimeter hohe Gestalt; die dünnen, kraftlosen Beine und Arme; der fette Leib, dessen Speckfalten in Ringen übereinanderlagen; der runde, haarlose Kopf, in dem die kleinen blassen Augen hinter dicken Brillengläsern verschwanden. 

Nur seine Hände waren schön: schmal und kraftvoll mit langen, schlanken und beweglichen Fingern.


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