Mona Kim Die Fahrradtour Kurzgeschichten
Ina spürte, wie ihr der Schweiß langsam zwischen den Brüsten nach unten lief. Tropfen für Tropfen. Die Sonne stand hoch. Obwohl der steile Berganstieg in Serpentinen nach oben führte, spendeten die Bäume auf der linken Seite der Fahrstraße nur selten einen schmalen Streifen Schatten. Das Kind quengelte. Das tat es schon seit einer halben Stunde. Eigentlich, seit der Anstieg begonnen hatte. Seit Ina von ihrem alten Fünf-Gang-Rad, bei dem der vierte Gang schon lange nicht mehr funktionierte, abgestiegen war und Rad, Kind und Satteltaschen mit Vesper, Getränken und Windeln den Berg hinaufschob. Davor war alles in Ordnung gewesen. Das Kind mochte den Fahrtwind, wenn Ina hinter ihrem Mann herstrampelte, der mit seinem 21-Gang-Rad lässig und mit geringem Körpereinsatz das Tempo vorgab.
Am Berg hatte Rolf sie abgehängt. Anfangs hatte sie ihn hin und wieder eine Serpentine weiter oben, mit kurzen schnellen Beinbewegungen ohne große Anstrengung fahren sehen. Einmal hatte er ihr zugerufen: »Ich sag’ ja immer, du brauchst ein anständiges Fahrrad!«
Darauf hätte es viele Erwiderungen gegeben. Zum Beispiel die, dass sein ›anständiges Fahrrad‹ so viel gekostet hatte wie ihr Sommerurlaub. Oder die, dass so ein Fahrrad weder Gepäckträger für Gepäcktaschen hatte noch eine Möglichkeit bot, einen Kindersitz zu befestigen. Ina behielt ihre Gedanken für sich. Erstens war Rolf sowieso zu weit weg, um mit ihm ein Gespräch zu führen, das wiederum zweifellos in einen Streit ausgeartet wäre, und zweitens kannte sie seine Erwiderungen. Sie hatte sie oft genug gehört.
Ihren Wunsch, den Sonntag zu einem Familientag zu gestalten, der Ina heute Morgen dazu bewogen hatte, spontan zu sagen: »Warte, wir kommen mit!«, als Rolf sich in seine Fahrradkluft zwängte und den Helm vom Regal nahm, hatte er nicht verstanden. Sie hatte an seinem Gesichtsausdruck deutlich gesehen, wie wenig er von diesem Ansinnen hielt. Rolf hatte es nicht in Worten gesagt, aber durch die Ungeduld in seiner Mimik, als Ina zu lange brauchte, um Vesper, Getränke und die unvermeidlichen Windeln zusammenzutragen und in der Gepäcktasche zu verstauen. Und durch das Tempo, welches er jetzt vorgab.
Dabei hätte Ina sich zu Hause einen schönen, gemütlichen Tag machen können. Das Kind war daheim gut zu haben. Wenn es seine regelmäßigen Mahlzeiten bekam und schlafen konnte, wenn es müde war, dann quengelte es nie und schrie selten. Warum sie mitgekommen war, konnte Ina jetzt, schwitzend und keuchend, auch nicht mehr verstehen. Heute Morgen hatte sie es noch gewusst: Es war der Wunsch gewesen, den Sonntag gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Kind zu verbringen, wie eine richtige Familie. Es war die Hoffnung, diesmal wäre es vielleicht anders. Rolf würde diesmal vielleicht sagen: »Ich freue mich, wenn ihr mitkommt. Komm, den steilen Berg hinauf nehme ich dein Rad, mit Kind und Gepäck. Du darfst mit meinem fahren. Oben machen wir gemütlich Rast, damit das Kind ein bisschen herumtoben kann, und der Heimweg geht fast nur bergab.«
Technisch gesehen, wäre es kein Problem. Ina war fast so groß wie ihr Mann. Der Sattel könnte mit einem Schnellspanner in Sekunden ein paar Zentimeter tiefer gestellt werden. Und Inas Fahrrad war sowieso für alle Körpergrößen geeignet. Ja, technisch gesehen, aber es ging hier nicht um Technik. Es ging darum, wie sehr Rolf die einsamen Fahrradtouren genoss, bei denen er die Zwänge, die ihm eine Familie auferlegte, abwerfen konnte. Er liebte den kurzen Gruß, den er mit entgegenkommenden Gleichgesinnten austauschte, die kurzen Strecken, die er mit einem ebensolchen Geistesverwandten, unterwegs zufällig getroffen, gemeinsam zurücklegte und dabei über technische Ausrüstung, Vorzüge und Nachteile der Fahrstrecke, Durchschnittsgeschwindigkeit und ideale Wetterbedingungen fachsimpelte. Für Ina und das Kind war in dieser Welt kein Platz.
Inas Unterbewusstsein hatte das tiefe, satte Brummen des Motorrads schon lange wahrgenommen, immer dann, wenn das Fahrzeug die Kehre einer Serpentine nahm und der leichte, kaum spürbare Wind das Geräusch zu ihr hochtrug. Doch erst jetzt, als sie aus ihren düsteren Gedanken für kurze Zeit an die Oberfläche der Gegenwart auftauchte, identifizierte Ina das Grollen als Motorenlärm. Er musste sehr langsam fahren, dieser fremde Motorradfahrer, sonst hätte er sie, die zu Fuß unterwegs war und die schwere Last schob, schon längst überholt. Wenn er sich nicht beeilte, würde sie noch vor ihm oben sein.
Kurze Zeit beschäftigten sich Inas Gedanken mit diesem fremden Menschen, der dort hinter ihr ankam und demnächst vorbeifahren würde. Ob er wohl auch Frau und Kinder zu Hause hatte und auf seinem Motorrad einen Sonntag lang die Flucht ergriff? Ina wollte sich lieber vorstellen, er wäre alleine und einsam und sehne sich danach, eine Frau und ein Kind zu haben. Sie lächelte. Niemand konnte ihr verbieten, sich so etwas vorzustellen.
Endlich umrundete Ina die letzte Serpentinenkurve vor der Bergkuppe. Oben, zweihundert Meter weiter, sah sie Rolf gelangweilt über seinem Fahrrad lehnen. So, wie er dastand, hätte man meinen können, er warte dort schon seit Stunden.
Das Motorengeräusch war nun ganz nahe: jeden Augenblick musste das Fahrzeug um die Kurve kommen. Ina blieb stehen. Eine sonderbare Neugier zwang sie, sich Motorrad und Fahrer genauer anzusehen. Eine wunderschöne Maschine, die eigentlich keinen Lärm machte, sondern ein sanftes Schnurren, wie ein zufriedenes, wildes Tier von sich gab. Der Fahrer trug schwarze Lederkleidung und einen in der Sonne glänzenden, silbernen Vollvisierhelm.
»Schade«, dachte Ina. »Ich hätte zu gerne gesehen, wie er aussieht!«
Fünf Meter vor Ina hielt das Motorrad am rechten Straßenrand an. Der Fahrer nahm den Helm ab und strich sich durch das lange, braune Haar.
In diesem Augenblick tönte Rolfs ungeduldige Stimme von oben: »Jetzt bleib doch nicht auch noch stehen! In dieser Zeit wäre ich die Runde ja dreimal gefahren!«
Ina setzte sich seufzend wieder in Bewegung. Der Motorradfahrer hatte dem nörgelnden Mann an der Bergkuppe einen Blick zugeworfen. Nun drehte er sich zu Ina um. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, sprach er sie an:
»Soll ich dem Kerl die Fresse polieren? Du brauchst bloß einen Ton zu sagen, dann legt er den Rest des Weges auf allen Vieren zurück!«
Die tiefe, sanfte Stimme passte überhaupt nicht zu seinen gewalttätigen Worten. Dabei musterte er Inas schlanken Körper in der engen Jeans mit einem wohlgefälligen Blick aus freundlichen grauen Augen.
Erschreckt sah Ina den Fremden an. Erschreckt, nicht seines Angebotes wegen, sondern wegen des Sekundenbruchteils, in dem sie versucht gewesen war, seinen Vorschlag anzunehmen.
»Danke, lass nur! Ist schon in Ordnung!«, antwortete sie ihm stattdessen und lächelte ihn an.
»Wie du meinst! Ich hätt’ das gern für dich getan.«
Mit diesen Worten setzte er seinen Helm wieder auf, ließ den Motor, der die ganze Zeit leise vor sich hin getuckert hatte, aufheulen, winkte ihr kurz zu und brauste davon. Fünf Minuten später war Ina oben.
»Was wollte der denn von dir?«, empfing sie die misstrauisch klingende Stimme ihres Mannes.
»Nichts! Er hat mich nur nach dem Weg gefragt.«
Da lachte Rolf belustigt auf. »Ausgerechnet dich! Wenn ich dich hier stehen lassen würde, du würdest nie wieder nach Hause finden!«
»Tu’s doch!«, dachte Ina erschöpft.
Rolf stand oben an der Bergkuppe und wartete auf seine Frau. Langsam begann sich sein Puls, durch den steilen Berganstieg auf 165 gestiegen, wieder zu beruhigen. Der Schweiß auf seinem Körper verdunstete und verursachte trotz des warmen Sonnenscheins ein Kältegefühl auf seiner Haut. Rolf liebte diese Anstrengung und er brauchte sie. Er brauchte sie als Ausgleich für die vielen Stunden, die er beinahe reglos an seinem Schreibtisch saß. Nur wenn er sich vollständig körperlich verausgabte, konnte er die Gedanken aus seinem Kopf vertreiben, die sich die ganze Woche über dort festsetzten. Das Warten jetzt ließ die Gedanken wiederkehren. Und mit den Gedanken kam auch seine Ungeduld wieder. Warum verstand Ina nicht, wie wichtig diese Fahrradtouren für ihn waren? Wie unverzichtbar es für ihn war, einmal in der Woche für ein paar Stunden ganz alleine und für niemand und nichts verantwortlich zu sein? Sich nur dem Wind, der Sonne und der Anstrengung zu über-lassen? Es war doch nicht so, dass er nicht mit Frau und Kind zusammen sein wollte. Er blieb ja schließlich nicht den ganzen Tag weg. Meistens stand er sogar extra früher auf, damit er möglichst zeitig wieder zurück war. Natürlich, früher, als das Kind noch nicht da war, hatten sie alles gemeinsam gemacht. Ina war sportlich, sie konnte ohne Probleme mit ihm mithalten. Damals hatten sie kein Geld für anständige Fahrräder gehabt. Liebevoll strich Rolf über den Lenker. Das war schon ein tolles Gerät! Er wollte ja, dass sich Ina auch so eines kaufte. Wäre es denn so schlimm, wenn sie das Kind für ein paar Stunden bei der Oma abliefern würden? Er liebte seine Tochter. Aber mit einem knapp zweijährigen Kind konnte man eben keine Gewalttouren unternehmen. Genaugenommen konnte man überhaupt nicht übermäßig viel mit einem zweijährigen Kind anfangen. Bevor es laufen konnte, war es besser gewesen. Man hatte es in den Kinderwagen setzen und anstrengende Spaziergänge machen können. Nun wollte die Kleine immer selbst laufen. Zwei Schritte pro Minute und in drei verschiedene Richtungen! Dabei plapperte sie auch noch unentwegt. Und forderte Antworten auf ihr Geplapper. Eine Unterhaltung zwischen Ina und ihm war dadurch vollkommen unmöglich geworden.
Es war schließlich nicht seine Schuld, dass er jeden Tag erst nach Hause kam, wenn das Kind schlief, und auch manchmal samstags arbeiten musste. Die Wohnung musste bezahlt werden. Ein Kind kostete viel Geld und Inas Einkommen fehlte nun auch schmerzlich.
In seine Gedanken versunken, hatte Rolf von seiner erhöhten Position aus hin und wieder seine Frau im Blickfeld gehabt und, noch viel weiter unten, einen Motorradfahrer. Auch der mit der Fahrtrichtung wechselnde Ton des Motors drang zu ihm herauf, verschwand wieder und erklang aufs Neue. Warum fuhr der Kerl so langsam? Normalerweise konnten sie doch nicht schnell genug rasen. Zum Glück schob Ina das Fahrrad auf der anderen Straßenseite. Eben bog sie um die letzte Kehre. Und blieb stehen! Das Motorrad fuhr an ihr vorbei – und blieb auch stehen! Das war doch kein Zufall! Was wollte der von Ina?
Der Fahrer nahm den Helm ab. Ein Langhaariger!
»Jetzt bleib doch nicht auch noch stehen! In dieser Zeit wäre ich die Runde ja dreimal gefahren!«, rief er seiner Frau zu.
Nun drehte sich der Kerl um und sagte etwas zu Ina. Rolf konnte nicht verstehen, was, aber den Blick, den er seiner Frau zuwarf, den zu interpretieren fiel Rolf nicht schwer! Auch Inas Erwiderung drang nicht bis zu ihm nach oben.
Der Fahrer setzte den Helm wieder auf und gab Gas. Rolf atmete auf. Dann, endlich, war auch Ina oben.
»Was wollte der denn von dir?«
»Nichts, er hat mich nur nach dem Weg gefragt.«
Erleichtert konterte Rolf: »Ausgerechnet dich! Wenn ich dich hier stehen lassen würde, du würdest nie wieder nach Hause finden!«
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