Der Richter

 

Mona Kim Kurzgeschichten Der Richter



»Sitzt meine Robe ordentlich?«


Es war jedes Mal dieselbe Frage, auf die er von seiner Sekretärin auch jedes Mal dieselbe Antwort erhielt: »Natürlich, perfekt wie immer! Und die Krawatte auch!«

 
Es war ein Ritual, mit dem er den Verhandlungstag begann. Zielstrebig betrat er den kleinen Flur zum Gerichtssaal, vermied versiert die Stolperfalle auf der dritten Treppenstufe. Vor Jahren schon hatte sich der Teppich dort zu einer Falte aufgeworfen, die unter den Kollegen und Angestellten den Spitznamen ›Justizirrtum‹ erhalten hatte. Der Bodenleger hatte sich verrechnet und das Textil um ein paar Millimeter zu lang geschnitten. Die Falte widersetzte sich seitdem allen Versuchen, sie zu glätten, erfolgreich.
 
Wie oft schon hatte er diesen Weg zurückgelegt? Eine kurze Überschlagsrechnung ließ die Zahl 736 in seinem Kopf entstehen. Seit acht Jahren war er hier im Amtsgericht als Familienrichter tätig. Jedes Jahr mit sechsundvierzig Wochen gerechnet, mit pro Woche zwei Verhandlungstagen: Das ergibt 736 Wege die Treppe hinauf, durch die schwere Tür hindurch und dann noch die fünf Meter bis zu seinem Platz auf dem Richterstuhl.

 
Bei seinem Eintritt verstummte das dezente Gemurmel der fünf im Raum anwesenden Menschen. Stühle scharrten und Kleidung raschelte bei dem respektvollen Aufstehen und dem anschließend gewährten Niedersetzen. Sein Ledersessel fühlte sich selbst durch die warme Kleidung kalt an. Überhaupt war der ganze Raum schlecht geheizt. Zwei Tage zuvor war die Außentemperatur plötzlich unter den Gefrierpunkt gefallen. Die betagte Heizung in dem ehrwürdigen alten Gemäuer würde erfahrungsgemäß mindestens eine Woche benötigen, um die Raumtemperatur wieder auf ein erträgliches Maß anzuheben. Die Wärme, die der auf Hochtouren laufende Heizkörper unter pausenlosem Knacken abstrahlte, verflüchtigte sich bis zu seinem Sitzplatz auf einen kaum wahrnehmbaren Hauch. Er war froh über seine warme Winterrobe, unter der er – unsichtbar – dicke, wärmende Kleidung tragen konnte. Leider war die Zeit der Amtsperücken vorbei. Bei dieser Kälte hätte sie ihm gute Dienste geleistet. Allerdings im Sommer, wenn die Sonne ungehindert durch die hohen Rundbogenfenster stach, hatte er sie schon hundert Mal verflucht. Heute durfte er sich auf die Sonne freuen. Spätestens in einer Stunde würde sie, an diesem eisig kalten, aber wunderschönen und wolkenlosen Tag das Fenster erreichen und ihm von da an wenigstens die rechte Körperhälfte erwärmen.


Durch die geschlossenen Fenster drang schwach der monotone Straßenlärm und hin und wieder das Heulen einer Polizeisirene oder das Hupen eines ungeduldigen Autofahrers. Wehmütig dachte er an die Zeit zurück, als die alten, undichten Fenster noch nicht durch neue ersetzt worden waren. Damals konnte er sogar die Fußgänger reden hören. Es hatte ihm das Gefühl vermittelt, Teil des Lebens auf der Kreuzung zu sein.

 
Er erklärte die Verhandlung für eröffnet. Eigentlich hatte er immer das Gefühl, dies geschehe nicht durch ihn, sondern durch das seinen Worten vorhergehende schwache Klicken der Computertastatur, wenn die Protokollführerin die Hände auf die Tastatur legte und mit einem Tastendruck den Bildschirmschoner beseitigte. Er hörte es jedes Mal kurz bevor er das Wort ergriff. Frau Maier wusste genau, wann er zu sprechen beginnen würde.


Gerbach gegen Gerbach. Ein Routinefall. Schon vom Flur aus hatte er die dominierende, immer etwas empört klingende Stimme Harald Gerbachs vernommen. Dessen sonorer Bass wurde nur selten vom Bariton seines Anwalts gestört. Frau Gerbach war dagegen nur selten zu hören. Lediglich wenn er eine direkte Frage an sie richtete, erhielt er eine Antwort und auch diese nur zögernd und atemlos hervorgestoßen, untermalt durch das protestierende Ächzen des Stuhles bei jeder Bewegung ihres schweren Körpers. Irene Gerbach ließ lieber ihre Anwältin reden. Die allerdings hatte Haare auf den Zähnen. Er kannte Frau Dr. Holm schon lange, privat ebenso wie aus vielen gemeinsamen Verhandlungen. Die meisten Gegenanwälte fürchteten sie nicht ohne Grund. Schaffte sie es doch immer wieder, durch bissige Kommentare einen Kollegen derart aus seiner wohleinstudierten Rede zu schleudern, dass er, sich verhaspelnd, auf dem Rücken liegen blieb, bildlich gesehen. Bis er, der Richter, ihm aus purem Mitleid wieder auf die Beine half.
 
Wenn man Frau Gerbachs Stimme in einen korpulenten Leib steckte, dann müsste man ihrer Anwältin die Statur einer Walküre zuordnen. Er mochte es, wenn das Verhältnis Anwalt-Mandant so ausgeglichen war wie im vorliegenden Fall: Der laute, von sich eingenommene Herr Gerbach wurde von einem ruhigen, zurückhaltenden Anwalt vertreten, den er kaum je zu Wort kommen ließ. Der verschüchterten Ehefrau wiederum stand Frau Dr. Holm zur Seite. Mit dem noch jungen Anwalt Harald Gerbachs hatte er heute zum ersten Mal zu tun. Anträge oder Schriftstücke gab dieser ihm mehrmals direkt in die Hand, um sich dann sofort verlegen zu entschuldigen und sie der Protokollführerin weiterzureichen. Auch schien er die nervöse Angewohnheit zu haben, mit einem Kugelschreiber zu spielen. Alle Augenblicke klickte der Druckknopf. Dazwischen erklang ein kurzes rollendes Geräusch von Metall auf Holz, wenn er das Schreibgerät aus der Hand legte, um ein Papier aufzunehmen.

 
Er hätte ein Buch schreiben können über die Angewohnheiten von Anwälten. Es gab einen, der sich ständig räusperte. Eine, die permanent verschnupft war. Ein anderer kratzte sich ununterbrochen. Der Ärmste hatte sicher eine Allergie. Oder der, bei dem jedes Mal, kurz bevor er den Mund aufmachte, ein leichtes Schmatzen zu hören war. Vielleicht hatte er ja ein schlechtsitzendes Gebiss? Und dann noch diese blutjunge Anwältin, deren Magen immer gerade dann knurrte, wenn es vollkommen still im Saal war, und deren Seidenstrumpfhosen wie eine funkensprühende Wunderkerze knisterten, sobald sie die Beine übereinanderschlug.


Juristisch gesehen ein klarer Fall: Fünfundzwanzig Jahre verheiratet, drei erwachsene Kinder, das jüngste gerade achtzehn geworden. Somit kein Sorgerechtsproblem. Heute ging es um Scheidung und Unterhaltsregelung. Die Ehefrau, 49 Jahre alt, hatte sich ganz den Kindern und dem Haushalt gewidmet. Ihren erlernten Beruf als Zahnarzthelferin hatte sie vor fünfundzwanzig Jahren zum letzten Mal ausgeübt. Ein potenzieller Arbeitgeber müsste sich schon in einer äußerst desperaten Lage befinden, um ausgerechnet diese schüchtern und inkompetent wirkende Frau einzustellen, wo es von jungen und gut ausgebildeten Arbeitskräften in der Branche nur so wimmelte. All dies kannte er aus den Akten. Dennoch fragte er nach. Es gehörte zum Geschäft. Ob sie sich um eine Arbeit bemühe? Ob sie eine Arbeit in Aussicht habe? Natürlich bemühe sie sich. Natürlich habe sie nichts in Aussicht. Den polemischen Einwurf des Ehemannes, sie solle doch putzen gehen, das habe sie schließlich die letzten fünfundzwanzig Jahre auch getan, er könne ihr im Übrigen eine solche Stelle anbieten, nahm niemand ernst. Frau Dr. Holms überraschend sanft vorgebrachte Retourkutsche, sie verstehe seinen Zorn vollkommen, schließlich müsse er von nun an für eine Putzfrau bezahlen und das auch noch bei erheblich schlech-terem Ergebnis, brachte der Anwältin ein derbes Schimpfwort von Seiten des Angesprochenen ein und beiden eine sanfte Verwarnung seinerseits. Der tuschelnde Versuch des Anwalts, seinen Mandanten zu beruhigen, drang noch eine ganze Weile an sein empfindliches Ohr. 


Ein erster Sonnenstrahl drang durch das Fensterglas und legte sich wohlig auf seine rechte Wange. Am liebsten hätte er sein Gesicht diesem wärmenden Strahl ganz überlassen. Aber eiserne Disziplin ließ ihn unbeweglich verharren. Dennoch hob die Wärme seine Stimmung.
 
Etwas Außergewöhnliches gab es an diesem Fall: Jeder, der die beiden Beteiligten erlebte, hätte geschworen, dass der Scheidungsantrag nur vom Ehemann ausgegangen sein konnte. Mitnichten! Es war gerade umgekehrt. Dieses schüchterne, beinahe lebensuntüchtig wirkende, fünfundzwanzig Jahre lang treusorgende Eheweib hatte tatsächlich einen anderen Mann kennengelernt und sich entschlossen, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Fast bewundernd hatte er es zur Kenntnis genommen. Trotz oder gerade wegen seiner jahrelangen Erfahrung hatte es ihn überrascht. Weniger der Wunsch nach Trennung und Neubeginn, sondern ihre Energie, die Schwierigkeiten zu überwinden und sich in die Ungewissheit eines zweiten Lebens zu stürzen. Herr Gerbachs Frust war natürlich auch verständlich. Großer Gott! Was würde er selbst tun, wenn ihm seine Frau eines Tages beim Frühstück aus heiterem Himmel eröffnete, sie habe einen anderen Mann kennen gelernt und wolle ihn verlassen? Kurz verweilten seine Gedanken bei dieser erschreckenden Vorstellung. Dann verscheuchte er sie gewaltsam aus seinem Kopf. Über die Zeit, in der er jeden Fall persönlich genommen und sich in jeder Situation gefragt hatte, wie würde ich an dieser Stelle reagieren, war er schon lange hinaus. Auch die Entwicklung persönlicher Sympathien und Antipathien konnte er zwar nicht vollständig verhindern, aber doch sehr erfolgreich verbergen.

Voreingenommenheit war ihm bislang nur ein einziges Mal vorgeworfen worden. Das war vor fünf Jahren gewesen. Die Ehefrau damals war mit der Scheidung überhaupt nicht einverstanden gewesen und noch viel weniger mit der Höhe, oder eher: zu geringen Höhe, der ihr zugesprochenen Unterhaltszahlungen. Lächerlich, ihrer Ansicht nach! Wutentbrannt hatte sie den leicht erhöhten Richtertisch gestürmt und ihm ins Gesicht geschrien, sie habe wohl bemerkt, wie er ›das Flittchen‹, so nannte sie die Freundin ihres Mannes, mit den Augen verschlungen habe. Beim Gedanken daran vermeinte er noch heute ihren warmen Atem und die feuchten Speicheltröpfchen auf seinem Gesicht zu spüren. Völlig überrumpelt von der Attacke, war er zu spät zurückgewichen. Ein paar Sekunden lang hatte Totenstille im Gerichtsaal geherrscht, bis die Protokollführerin neben ihm in Kichern ausbrach. In das er einstimmte, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Die Begebenheit gehörte seitdem zu den zahlreichen und unsterblichen Anekdoten, die im Gericht ihre Runde machten.

 
Heute sorgte die Höhe der vorläufigen Unterhaltszahlungen zwar für einen weiteren Wutausbruch von Seiten Herrn Gerbachs, aber nach einigem Hin und Her war man sich schließlich einig. Ein paar Formalitäten später erklärte er die Ehe für geschieden und die Verhandlung für beendet. Zugewinnausgleich und Hausratsverteilung standen erst beim nächsten Termin an. Da würde dann erfahrungsgemäß um jeden Teelöffel gestritten werden.

 
Gerne wäre er noch ein wenig in der Sonne sitzen geblieben. Inzwischen wärmte sie ihm die ganze rechte Körperseite. Auch die auf dem Tisch ruhenden Hände fühlten die Strahlen und begannen sich mit der kalten, ledernen Unterlage anzufreunden. Doch Höflichkeit gebot ihm, aufzustehen und den Saal zu verlassen, da er sonst auch die Anwälte und ihre Mandanten zum Verharren gezwungen hätte. Es war ein Relikt aus alten Zeiten, kein Gesetz schrieb diese Reihenfolge vor.
 
Stühlerücken, quietschende Schuhsohlen, scharrende Fußsohlen auf dem Parkett. Mittagspause.


Auf seinem Weg ins Büro wurde er von vielen Kollegen und Bediensteten gegrüßt. Alle waren sie auf der Flucht aus diesem düsteren, unter Denkmalschutz stehenden Gebäude, hinaus in den herrlichen Novembertag.
 
Er hängte seine Robe über den Bügel, zog seinen dicken Wintermantel an, nahm den weißen Stock, den er nur außerhalb des Gebäudes benötigte, und machte sich, vorsichtig aber routiniert den Boden vor sich abtastend, auf den seit langem vertrauten Heimweg.


Kommentare

  1. Hallo,
    eine richtig tolle und unterhaltsame Kurzgeschichte!
    Ich freue mich über weitere Kurzgeschichten von dir!
    Liebe Grüße,
    Janina

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