Mona Kim, Das Gewicht der Leere - Prolog

Lies Mona Kims Bücher als Fortsetzungsromane: Das Gewicht der Leere - Prolog
Mona Kim Roman

Durst und Hunger waren immer da. Selbst direkt nach dem Schluck Wasser und der kleinen Portion Maisbrei waren sie nicht verschwunden. Sie gehörten zu Jamila wie gehen, sprechen, schlafen. Nie war genug da. Aber schlimmer noch als ihr eigener Durst und ihr eigener Hunger war das klägliche Wimmern ihres kleinen Bruders Adisa. Als es endlich aufgehört hatte, hinterließ es ein Adisa-förmiges Loch in Jamilas Brust, das sich nie wieder füllte.

Jamila hasste die Sonne. Die Sonne war die Feindin, die alles austrocknete, die jede Ernte zerstörte, die alle Anstrengung und alle Hoffnung zunichtemachte. Selbst die seltenen Regenfälle kapitulierten vor der Sonne. Die steinharte Erde konnte das Wasser nicht aufnehmen, es verdunstete auf der Oberfläche ohne Wirkung.

Jamilas Vater war ein angesehener Mann im Dorf. Er hatte die Dorfbewohner dazu angeleitet, den Regen in Gefäßen aufzufangen, wenn er kam. Aber es gab nicht genügend Gefäße. Deswegen hatten die Menschen das kostbare Nass mit einer Folie aufgefangen und dann in einen großen Bottich geleitet. Alle hatten gejubelt. Aber der Bottich war undicht und das Wasser versickerte in der staubigen Erde. Da waren sie in die Hauptstadt Abuja gefahren, um einen Tank zu kaufen. Der kostete 700.000 Naira!

Jamila war zehn Jahre alt, als sich alles änderte. Fremde Menschen mit heller Haut kamen. Sie scharten die Erwachsenen des Dorfes um sich. Sie sprachen. Einer kannte ihre Sprache und ihren Dialekt und übersetzte. Die Fremden redeten von Wasser und von Strom, von einer größeren Schule und einem Krankenhaus. Darüber lachten die Erwachsenen des Dorfes: Die Weißen hatten wohl noch nie versucht, im trockenen Sand zu graben. Man konnte buddeln so viel man wollte, der Sand rutschte immer wieder nach. Wasser wäre notwendig gewesen, um den Sand zu befestigen. Aber wer würde schon kostbares Wasser zum Bauen verschwenden, wenn nicht einmal genügend davon vorhanden war, um den immerwährenden Durst der Menschen zu stillen oder die kümmerlichen Pflanzen zu gießen?

Unbeirrt fingen die Fremden an zu arbeiten. Sie schafften Rohre und Werkzeuge heran, Baumaterial, Maschinen und große Tankwagen voller Wasser. Sie brachten hochaufragende Windräder und große Sonnenkollektoren, mit denen sie dem unermüdlichen Wüstenwind und der ebenso unermüdlichen Sonne Strom abgewannen. Sie bauten Wasserspeicher für den seltenen Regen. Die Dorfbewohner schauten zu. Sie hatten ja nichts anderes zu tun. Dann fing einer von ihnen an, dabei zu helfen, ein großes, schweres Rohr in die dafür gegrabene Rinne zu versenken. Bald machten alle mit. Ohne genau zu verstehen, was sie taten, packten sie mit an. Der Übersetzer erklärte. Die, die ihn verstanden, erklärten es den anderen. Zwischen all der Ungläubigkeit und all dem Staunen begann langsam Hoffnung zu keimen.

Eine kleine Schule hatte das Dorf bereits. Beinahe alle Leute konnten lesen und schreiben. Nun kamen neue Lehrer und Lehrerinnen, die ihnen auch noch andere Dinge beibrachten: Mathematik, Technik, Fremdsprachen, Chemie, Biologie, Geografie, die Geschichte ihres eigenen Landes und Dorfes, die Geschichte anderer Dörfer, Länder und Kontinente.

Aber nicht alle der hellhäutigen Menschen, die in das Dorf kamen, waren gut. Als Jamila elf Jahre alt war, musste sie erfahren, dass auch böse darunter waren.

Trotz dieser schmerzlichen Erkenntnis saugte Jamila wie ein Schwamm alles auf, was ihr an Wissen angeboten wurde. Ihr Vater war der Erste gewesen, der bei dem Projekt der Fremden mit angepackt hatte. Seiner Frau und seinen Kindern hatte er mit leuchtenden Augen von der Chance vorgeschwärmt, die sie bekamen. Diese Chance war mit einem Namen verbunden: James Davidson.


Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Hinweis

Mit dem Abschicken deines Kommentars bestätigst du, dass du die Datenschutzerklärung gelesen hast und diese akzeptierst.

Weiterhin erklärst du dich mit der Speicherung und der Verarbeitung deiner Daten (Name, ggf. Website, Zeitstempel des Kommentars) sowie deines Kommentartextes durch diese Website einverstanden.Dein Einverständnis kannst du jederzeit über die Kontaktmöglichkeiten im Impressum widerrufen.Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Weitere Informationen findest du hier:

Datenschutzerklärung von Google