Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere Roman
Franka erwachte mit entsetzlichen Kopfschmerzen. Als sie sich an die Stirn fassen wollte, stellte sie fest, dass sie die Hand nicht bewegen konnte. Schlaff und so, als gehöre sie nicht zu ihr, lag sie auf der Armlehne. Die Stahlbänder hatten sich geöffnet. Frankas ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Sie fühlte Brechreiz in sich aufsteigen. Das besorgte Gesicht einer Frau erschien in ihrem Blickfeld.
»Ist Ihnen schlecht?«, fragte sie. »Warten Sie, ich helfe Ihnen. Es ist gleich vorüber. Legen Sie den Kopf auf die Knie. Dann geht es Ihnen bald besser. Das ist nur der Kreislauf.«
Die Frau drückte Frankas Oberkörper sanft nach vorne, bis ihr Kopf auf ihren Knien lag. Franka spürte bei jeder Bewegung heftige Schmerzen. Sie wollte schreien, aber selbst die Stimmbänder schienen gelähmt zu sein. Dennoch tat es gut, den Kopf auf die Knie zu legen. Und tatsächlich ließ die Übelkeit langsam nach, auch der erbarmungslose Griff der Kopfschmerzen lockerte sich etwas. Die Gliederschmerzen wichen einem unangenehmen und schmerzhaften Kribbeln. Lange verharrte Franka in ihrer Position. Nach und nach gelang es ihr, die Konzentration wieder auf die Umgebung zu lenken. Geräusche drangen an ihr Ohr: Stöhnen, Erbrechen, leises Weinen.
Als Franka nach einer Weile erneut versuchte, Finger und Hände zu bewegen, gehorchten sie ihr wieder, wenngleich immer noch jede Bewegung wehtat. Mutiger geworden, versuchte sie den Kopf zu heben. Nach ein paar Zentimetern ließ sie ihn jedoch entkräftet wieder auf die Handflächen zurücksinken. Frankas Gesicht war nass, ob von Schweiß oder Tränen, das war ihr selbst nicht klar. Wieder verharrte sie eine beträchtliche Zeit lang unbeweglich. Ganz bewusst verscheuchte sie die bedrohlichen Gedanken, die von ihr Besitz ergriffen, und konzentrierte sich vollständig darauf, ihrem Körper seine Funktionsfähigkeit zurückzugeben. Damit, was in ihrem Kopf vorging, würde sie sich später befassen. Beim zweiten Versuch konnte sie den Oberkörper heben. Ihre Arme, mit denen sie sich dabei auf ihren Oberschenkeln abstützte, zitterten unkontrolliert.
»Soll ich ihr helfen?«, hörte sie eine Frauenstimme.
»Warten Sie! Sie schafft das alleine!«
Das war Terence Quists Stimme. Dann spürte Franka eine warme Hand auf ihrer Stirn. Als sie die Augen öffnete, sah sie sein Gesicht vor sich. Wut überkam sie. Er hatte genau gewusst, was ihnen bevorstand! Dieser Zorn gab ihr die Sprache wieder.
»Sie haben es gewusst! Sie haben uns alle absichtlich irregeführt!«
Frankas Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Ob Quist ihre Worte verstanden hatte, das konnte sie nicht sagen. Er strich ihr nur sanft über die Wange und verschwand aus ihrem Blickfeld. Noch immer konnte sie ihren Kopf nicht drehen, ihr Hals fühlte sich an, als wäre er gebrochen. Jemand führte ein Glas an ihre Lippen. Sie wollte es wegschlagen, brachte aber nicht die Kraft dazu auf.
»Trinken Sie! Es ist nur ein harmloses Schmerzmittel. Sie werden sich in fünf Minuten besser fühlen.«
Franka trank. Langsam setzte die Wirkung der Flüssigkeit ein. Der Kopfschmerz ebbte nun vollständig ab. Auch die Gliederschmerzen schwanden. Franka atmete tief durch. Arme, Beine, auch der Kopf gehorchten wieder. Sie sah sich um. Der Captain und sein Erster Offizier waren verschwunden. Auch Frankas Reisegefährten befanden sich in den verschiedenen Stadien des schmerzhaften Aufwachens. Sie beobachtete, wie Tom aufzustehen versuchte. Er schien den Start recht gut verkraftet zu haben. Seine Bewegungen sahen zwar etwas ungelenk aus, aber er konnte sich immerhin auf den Beinen halten. Alice neben ihm stöhnte. Vorsichtig näherte Tom sich ihr und kniete vor ihrem Sitz nieder. Dann sprach er leise auf sie ein. Auch Franka versuchte sich zu erheben. Nach drei vergeblichen Anläufen schaffte sie es. Allerdings nur deshalb, weil Tom plötzlich neben ihr stand und sie festhielt, sonst wäre sie auch diesmal wieder auf den Sitz zurückgesunken.
»Setz dich lieber noch ein wenig hin. Es wird gleich besser.«
»Was haben die mit uns gemacht? In dem Sekt war etwas drin. Sie wussten genau, was passieren würde!«
»Natürlich wussten sie es. Ich bin gespannt, wie sich unser Captain herausreden wird! Im Augenblick zieht er es vor, durch Abwesenheit zu glänzen. Ebenso wie der Erste Offizier.«
Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte Franka: »Tom! Meinst du, wir sind wirklich gestartet?«
Eine Frage wie ein Aufschrei.
»Quatsch! Das würden sie nie wagen! Nicht mit so vielen Laien an Bord. Wozu auch?«
»Aber wenn es nur eine Simulation ist, dann hätten sie den Start doch erträglicher gestalten können. Niemand wird diese Quälerei als tolles Erlebnis in Erinnerung behalten!«
»Zerbrich dir nicht den Kopf. Wahrscheinlich ist etwas schiefgegangen und das Schlafmittel haben sie uns vorsorglich in den Sekt getan. Vielleicht ist ihnen das schon einmal passiert und sie gehen jetzt auf Nummer sicher.«
»Ich traue ihnen nicht! Außerdem glaube ich nicht, dass die anderen unter einfacheren Bedingungen in einer anderen Rakete sitzen. Ich bin mir sicher, die haben uns gezielt ausgewählt. Schon diese Umfrage, die alle gemacht haben, war der erste Schritt. Die Gewinner waren keine Gewinner, sondern eben die zweihundert, die sie nach der Umfrage als geeignet herausgepickt haben. Deshalb sind alle hier zwischen zwanzig und vierzig, intelligent und sportlich. Und der Wettkampf heute Morgen, das war wieder ein Test. Du, Alice, Vasili und ich, wir waren die vier Besten, deshalb haben sie sich für uns entschieden. Und Maria haben sie schon vorher ausgesondert. Weil sie von Anfang an zu skeptisch war!«
»Maria, wer ist das?«
»Eine andere Deutsche. Sie saß neben mir im Flugzeug. Schon auf unserem Weg nach Algier ist ihr aufgefallen, dass keine alten Leute an Bord waren und keine dicken, außerdem machten alle einen ziemlich intelligenten Eindruck. Am Abend im Speisesaal hat sie dann sofort gemerkt, dass all dies auch für die Ankömmlinge aus den anderen Ländern zutraf. Das kann doch kein Zufall sein!«
Tom sah sie nachdenklich an. Dann blickte er sich prüfend um. Franka hatte Recht. Hier war etwas faul!
»Würden Sie beide bitte mitkommen? Der Captain möchte Sie sprechen.«
Die Stimme des Unteroffiziers klang höflich. Aber er und seine beiden Kollegen machten Franka und Tom schon dadurch, dass sie ihnen zu dritt gegenübertraten, klar, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren, sich zu weigern.
Schweigend machten sich Tom und Franka mit ihrer Eskorte auf den Weg. Sie folgten dem Gang entlang der konkaven Wand der Rakete zu einer Tür, die sich als die eines Fahrstuhls entpuppte. Das Gehen fiel Franka schwer. Jeder einzelne Muskel schmerzte. Zumindest bei seinen Ausführungen zur erhöhten Schwerkraft schien der Captain nicht gelogen zu haben. Der Lift brachte sie in ein höheres Stockwerk. Dort betraten sie wieder einen Flur und folgten ihm, bis sich eine weitere Tür öffnete, hinter der sich ein gemütlich eingerichteter Raum befand. Da er vielen Menschen bequem Platz geboten hätte, schien es sich um eine Art Aufenthaltsraum zu handeln. Dafür sprachen auch die zahlreichen Lesegeräte, die an den Wänden hinter transparenten Türen zu sehen waren. Auch gab es Fernsehgeräte und sogar Brettspiele.
»Wir bringen Sie jetzt zu Ihren Wohneinheiten. Herr Spencer, wenn Sie bitte mir folgen wollen. Für Sie, Frau Reinhardt, ist Offizier Wang zuständig.«
»Nichts da! Wir bleiben zusammen!« Tom ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Außerdem dachte ich, der Captain will uns sprechen?«
»Der Captain kommt zu Ihnen, sobald er die Zeit dazu findet. Wenn Sie zusammenbleiben möchten, bringe ich Sie in ein Quartier für Paare.«
Tom sah Franka fragend an. Sie nickte.
»Wir bleiben zusammen!«, bestätigte Tom.
»Gut, folgen Sie mir.«
Das Quartier stellte sich als richtige kleine Wohnung heraus. Es gab ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und ein Bad. Alles sehr gemütlich. Eine Küche war nicht vorhanden, aber in eine Wand des Wohnzimmers war eine Computerkonsole eingelassen. Der Offizier erklärte ihnen die Bedienung.
»Wenn Sie Hunger haben, schalten Sie den Bildschirm ein und berühren einfach das Essen-Symbol. Daraufhin erscheint die aktuelle Speisekarte. Sie wählen aus, was sie haben möchten. Die Speisen werden nach ungefähr zehn Minuten geliefert, Sie müssen sie dann aus diesem Schacht hier herausnehmen.« Er hob eine Edelstahlklappe. »Ebenso funktioniert es mit den Getränken, auch hierfür gibt es das passende Symbol auf dem Bildschirm. Wir lassen Sie nun alleine.«
Der Offizier verschwand, die Tür schloss sich hinter ihm. Und sie blieb auch verschlossen, wie sehr Franka und Tom sich auch abmühten, sie zu öffnen. Es ließ sich nicht übersehen: Sie waren eingesperrt.
»Verdammt, hier ist etwas oberfaul!«
Franka hatte sich in einen Sessel gesetzt, die Beine hochgezogen und die Knie mit den Armen umschlungen.
»Ich sage dir, Tom: Wir befinden uns wirklich in einer Rakete und im Weltall. Das war keine Simulation, das war echt!«
Sie legte den Kopf auf ihre Knie und begann zu weinen.
Tom war blass geworden. Dass Franka Recht haben könnte, ließ sich nicht von der Hand weisen. Aber war das nicht vollkommen irre? Was konnte es für einen Grund geben, einen Haufen ahnungsloser Zivilisten ins All zu entführen? Sicher fänden sich genügend Abenteurer, die freiwillig bei einem echten Ausflug ins All mitmachen würden. Er zum Beispiel. Keine Sekunde hätte er gezögert, wenn sie ihn gefragt hätten.
Anders Franka. Warum verschleppten sie eine glücklich verheiratete Frau, eine Mutter von zwei kleinen Kindern? Das ergab keinen Sinn. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten. Irgendwann musste der Captain seine Karten auf den Tisch legen. Tom nahm Franka in die Arme.
»Hey, wein' doch nicht! Wir leben noch, das allein ist doch schon ein Grund zum Feiern! Komm, wir testen jetzt mal diesen Getränkeautomaten. Vielleicht gibt's ja eine anständige Weinkarte. Mit ein bisschen Alkohol sieht alles gleich viel rosiger aus.«
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