Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere
Pünktlich um vierzehn Uhr klopfte es an Frankas Tür. Weisungsgemäß hatte sie bereits allen Schmuck abgelegt. Anscheinend störten Edelmetalle die Funktion der Simulatoren. Sich auch nur für kurze Zeit von ihrem Ehering zu trennen, das fiel Franka sehr schwer. Im Stillen bat sie Victor um Verzeihung, auch wenn sie sich sicher war, dass er nichts dagegen hätte. Aber das kleine Bild hatte sie eingesteckt. Von Fotos hatte ja niemand etwas gesagt!
Eigentlich hatte Franka Tom, Alice und die anderen vor der Tür erwartet. Umso mehr war sie nun überrascht, dort lediglich einen großen, schmalen, dunkelhäutigen Mann in einem silbernen Overall zu treffen.
»Frau Reinhardt?« Der Unbekannte stellte sich selbst nicht vor, sondern blickte Franka fragend an. Als sie nickte, fuhr er fort: »Folgen Sie mir bitte. Ich bringe Sie zum Raumschiff.«
Da er auf dem langen und verwirrenden Weg, den sie nun zurücklegten, nicht mit ihr sprach, folgte ihm Franka ebenfalls schweigend. Schon nach der dritten Abzweigung hatte sie die Orientierung verloren. Seltsamerweise begegneten sie auf ihrem Weg keinen anderen Reisenden. Und Franka verstand, warum sie abgeholt worden war: Die Röhren sahen alle genau gleich aus.
Franka hatte auch gehofft, bei dieser Gelegenheit endlich Maria Gerber wiederzusehen. Der Gedanke an Maria rief ihr all die sonderbaren »Zufälle« ins Gedächtnis, die ihrer neuen Freundin an der Situation aufgefallen waren. Auch die Begründung, die ihnen bezüglich der Notwendigkeit des sportlichen Tests serviert worden war, kam Franka zunehmend fadenscheinig vor. Die verschlossene Miene ihres Begleiters trug nun ebenfalls nicht zu ihrer Beruhigung bei. Ganz plötzlich überfiel Franka das Gefühl einer drohenden Gefahr. Abrupt blieb sie stehen. Ihr Führer, wohl in eigene Gedanken versunken, ging noch ein paar Schritte weiter, bevor er ebenfalls innehielt und sich ruckartig nach ihr umdrehte.
»Was ist los? Haben Sie etwas vergessen?«
Eine überflüssige Frage, da sie ja nichts mitnehmen durfte, was sollte sie also vergessen haben?
Auch der Fremde schien in diesem Augenblick die Widersinnigkeit bemerkt zu haben, denn er fuhr fort: »Sind Sie nervös? Das ist verständlich. Haben Sie keine Angst, es passiert Ihnen nichts.«
Obwohl er nach wie vor nicht lächelte, fühlte sich Franka beruhigt. Der Klang seiner Stimme hatte Anteilnahme ausgedrückt. Allerdings hielt ihn Franka für diesen Job nicht unbedingt geeignet. Der Unterschied zu Johannes Kaufmann, Peter Winston oder auch dem Trainer Adrian heute Morgen war gravierend.
Bevor Franka noch weiteren verstörenden Gedanken nachgeben konnte, traten sie durch eine letzte Tür und befanden sich unversehens in einer gigantischen Halle. Im Vergleich mit dieser hätte sogar ihre Ankunftshalle von gestern klein gewirkt. Und im Zentrum dieser Halle stand – eine Rakete! Kein Spielzeug, kein verkleinertes Modell, sondern eine richtige, echt und funktionsfähig aussehende Rakete! Franka hatte so etwas noch nie gesehen, außer auf Fotos oder im Fernsehen, wenn der Start einer Ariane oder Bilder von Cape Canaveral gezeigt wurden. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Sie hatte nicht die geringste Absicht, dieses Ding zu besteigen. Nein, im Gegenteil: Sie würde nach Hause fahren und spätestens morgen Abend wieder bei Victor und den Kindern sein. Ihr Begleiter fasste sie sanft am Arm. Ruckartig riss sie sich los. In diesem Augenblick betrat durch eine zweite Tür, ein paar Meter weiter, Tom die Halle. Auch er hatte einen persönlichen Begleiter bei sich, offensichtlich asiatischer Herkunft.
»Hallo Franka!«, rief Tom begeistert, als er die Rakete erblickt hatte. »Sieh dir dieses Gerät an! Ist das nicht fantastisch? Aber was ist? Hast du Angst? Komm Mädchen, es ist doch nur ein Spiel!«
Er fasste Franka bei der Hand und zog sie näher an die Rakete heran.
»Du wirst doch jetzt keinen Rückzieher machen! Auf geht's! Alice ist schon drin. Sie ist anscheinend kurz vor mir abgeholt worden.«
Toms Gegenwart und der Gedanke an Alice beruhigten Franka. Sie stellte sich aber auch wirklich hysterisch an. Beschämt folgte sie Tom, dicht hinter sich die beiden Silbergekleideten. Sie mussten eine Treppe aus Stahl emporklimmen, da sich der Eingang in die Rakete in deren oberem Drittel befand. Dort angekommen, brauchte Franka erst einmal eine Verschnaufpause. Sie war noch nie gut im Schätzen gewesen, aber als sie vor einigen Jahren die Turmtreppe des Ulmer Münsters hinaufgeklettert war, schienen ihr die Menschen weit unten auf dem Platz winzig und wuselnd wie Ameisen. Die beiden weiteren Reisenden, die sie nun von ihrer hohen Warte aus beim Betreten der Halle beobachtete, wirkten in Frankas Wahrnehmung auch nicht größer.
»Willst du hier festwachsen?«
Tom schob Franka ungeduldig durch die Einstiegsluke, die an die eines Langstreckengleiters erinnerte. Fast erwartete Franka, von einer Stewardess begrüßt zu werden und ein Zeitungslesegerät überreicht zu bekommen. Während Toms Führer bereits vorausgegangen war, wartete ihrer schweigend hinter ihr. Sein unbewegtes Gesicht ging Franka langsam auf die Nerven, sie warf ihm einen finsteren Blick zu, bevor sie Tom ins Innere der Rakete folgte. Zusammen betraten sie einen ringförmigen Flur, der in seiner Anlage der Krümmung der Außenhülle folgte. Von diesem Flur aus führten Türen in kleinere Korridore und schließlich in einen großen Raum. Bei diesem Anblick musste Franka beinahe lachen: Der Designer dieser Rakete schien ein Voyager-Fan zu sein. Dies hier war eindeutig die Kommandobrücke von Captain Janeway! Nichts fehlte: Die Konsolen, an denen üblicherweise die Crewmitglieder standen, ebenso wenig wie die beiden bequemen Sessel davor. In denen ließen sich Janeway und ihr Erster Offizier gewöhnlich nieder, bevor die Kapitänin mit ihrer befehlsgewohnten Stimme »Auf den Bildschirm!« verlangte, um anschließend mit irgendwelchen abenteuerlich aussehenden fremden Kreaturen zu verhandeln. Der einzige Unterschied in dieser Rakete bestand darin, dass die beiden Sitze einer größeren Anzahl ähnlicher gegenüberstanden, auf denen inzwischen schon einige Reisende Platz genommen hatten, während andere noch neugierig die Ausstattung der Rakete in Augenschein nahmen. Jeder war mit einer Begleitperson gekommen, zu erkennen an den silbergrauen Overalls. Diese Overalls ließen sich nicht nur durch die Farbe, sondern auch durch besondere Schulterembleme von denen der Gäste unterscheiden: Die meisten dieser Embleme zeigten einen Stern, manche auch zwei. Frankas Begleiter war als Einziger sogar mit drei Sternen dekoriert. Sie warf ihm einen spöttisch-bewundernden Blick zu, den er ohne erkennbare Regung hinnahm.
Zwar gab es unter den Begleitpersonen auch Frauen, aber sie waren in der Minderheit. Franka wäre jede Wette eingegangen, dass es sich bei den Silbergekleideten um die Crewmitglieder der Rakete handelte. Sie würden ihnen jetzt gleich ein kleines technisches Schauspiel vorführen. Und vermutlich waren sie genau das auch: Schauspieler!
Oder vielleicht eher Techniker? Damit sie gleich an Ort und Stelle wären, falls doch etwas schiefgehen sollte? Es würde ein wenig dumm aussehen, wenn plötzlich, mitten im Weltraum, die Raketenaußentüre aufginge und ein paar Techniker hereinkämen, um einen kleinen Defekt zu reparieren.
»Hallo Franka! Da bist du ja endlich! Weißt du, wo Misaki und Odile sind? Fernand und Oskar fehlen auch noch!« Alices Augen leuchteten. Das Ganze schien ihr riesigen Spaß zu machen.
»Außer Tom habe ich niemanden gesehen!«, erwiderte Franka. Auch Maria nicht, fügte sie im Stillen hinzu. Alice kannte Maria Gerber nicht, es hatte also keinen Sinn, die Kanadierin nach ihr zu fragen. Aufmerksam sah Franka sich um. Sie erkannte ein paar von ihren Sportskollegen aus der gelben Mannschaft von heute Morgen, die ihr freundlich zuwinkten oder zulächelten.
Einer der Silbergekleideten drückte ihr unvermutet ein Sektglas in die Hand. Unwillkürlich sah Franka sich nach ihrem bisherigen Begleiter um und entdeckte ihn am anderen Ende des Raumes. Er sprach mit einem imponierend aussehenden Mann, dessen Schultern sogar vier Sterne zierten.
»Wetten, das ist unser Captain?«, sagte Tom. »Und der, mit dem du gekommen bist, das ist der Erste Offizier! Darauf kannst du dir etwas einbilden. Mich hat nur einer der Unteroffiziere abgeholt.«
Auch Tom hatte inzwischen ein Sektglas erhalten, sie stießen miteinander an: »Auf eine abwechslungsreiche Reise!«
Franka trank. Der Sekt schmeckte ausgezeichnet und half ihr, sich etwas zu entspannen. Das Gefühl, fehl am Platz und nur durch eine Verkettung unglücklicher Umstände hierher geraten zu sein, ließ langsam nach. Als der Captain – es war tatsächlich der Mann mit den vier Sternen, wie Tom vermutet hatte – einen kleinen Knopf an seinem Anzug drückte und sie über ein Mikrofon bat, Platz zu nehmen, fühlte Franka sich bereits leicht und beschwingt. Erwartungsvoll ließ sie sich in einer der äußerst bequemen Sitzschalen nieder.
»Sie brauchen die Gurte noch nicht anzulegen«, sagte der Captain. »Wir haben noch eine Stunde Zeit bis zum Start. Erschrecken Sie nicht, wenn sie Geräusche hören oder Erschütterungen spüren. In etwa zehn Minuten werden die Triebwerke gezündet. Das ist mit etwas Lärm verbunden. Allerdings ist es hier drinnen, im Vergleich zu draußen in der Halle, eher ruhig.«
Er setzte sich tatsächlich in einen der beiden den anderen gegenüberstehenden Sitze. Frankas Begleiter nahm auf dem zweiten Platz. Auch alle Gästesitze waren belegt, sie waren komplett. Nur Maria, Oskar, Fernand, Misaki und Odile fehlten.
»Wo sind die anderen?«, fragte Franka den Ersten Offizier – unwillkürlich laut und über die Köpfe aller anderen hinweg. Plötzlich wurde es still im Raum.
Dann antwortete der Captain: »Falls Sie einige Ihrer Mitreisenden vermissen, so liegt das daran, dass deren körperliche Konstitution gewisse Defizite aufweist, wie wir festgestellt haben. Wir haben aber mehrere Unterhaltungs-Programme gleichzeitig laufen. Schließlich wollen wir niemanden überfordern. Sie hier sind sozusagen die Elite! Bei den Tests haben Sie nämlich am besten abgeschnitten und werden infolgedessen unsere Reise am realistischsten und mit ein paar zusätzlichen spannenden Details erleben, die wir bei unseren anderen Gästen aus gesundheitlichen Gründen weglassen müssen.«
Franka hatte den Ersten Offizier nicht aus den Augen gelassen. Aber der hatte ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen und starrte dann auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand.
Der Captain fuhr fort: »Ich darf Sie nun alle recht herzlich willkommen heißen an Bord der Conquest. Mein Name ist Derek Hunter, ich bin Ihr Captain. Neben mir sitzt der Erste Offizier Terence Quist. Die anderen Besatzungsmitglieder werden Sie im Laufe unseres Aufenthalts an Bord kennenlernen. Ich möchte Ihnen zunächst ein paar Worte zum Start sagen. Erstens: Die gesamte Besatzung ist ebenso geschult, wie es die Besatzung eines richtigen Raumschiffes wäre. Ich kann diese Rakete fliegen, ebenso wie Herr Quist hier, da er mich im Falle meines plötzlichen Ablebens vertreten muss.« Der Captain grinste. »Dazu wird es aber hoffentlich nicht kommen. Unter den übrigen Besatzungsmitgliedern sind Ingenieure, Computerspezialisten, Chemiker, Biologen, Astronomen, Physiker und Mathematiker. Und jeder von ihnen ist weltweit eine oder einer der Besten im jeweiligen Fach.«
»Welch eine Verschwendung!«, bemerkte ein Passagier.
»Mitnichten! Unsere Simulationsflüge sind bei weitem nicht nur zu Ihrem Vergnügen da. Eigentlich dient Ihre Anwesenheit – nehmen Sie mir das bitte nicht übel – unter anderem auch der Finanzierung einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Experimenten. Die bedeutendsten Wissenschaftler der Welt werden von Futura 3000 unterstützt, viele von ihnen haben Labors auf diesem Gelände.«
Die Zuhörer zeigten sich beeindruckt.
»Nun aber zurück zum bevorstehenden Flug. Wie Sie sich vermutlich vorstellen können, entwickelt eine Rakete beim Start eine gewaltige Schubkraft. Diese werden Sie spüren. In abgeschwächtem Maße zwar, aber dennoch. Geraten Sie bitte nicht in Panik. Es kann Ihnen nichts geschehen. Ihre Sicherheit ist zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Vielleicht wird es etwas unangenehm werden, das will ich Ihnen nicht verhehlen. Bei den ersten Reisen haben wir deshalb die Simulation der Schubkraft weggelassen. Danach hat uns trotz aller weiteren Anstrengungen leider niemand mehr abgenommen, dass wir uns im All befinden.«
Die meisten lachten. Franka studierte die Gesichter der Besatzungsmitglieder. Sie sahen ernst und konzentriert aus. Diese Leute sich als Wissenschaftler vorzustellen, das fiel Franka leichter, als davon auszugehen, dass sie lediglich Schauspieler waren. Da es sich aber ja nur um eine Simulation handelte, wirkte der Ernst, mit dem sie die Sache angingen, in Frankas Augen allerdings etwas übertrieben. Dem Captain hörte sie nur unkonzentriert zu. Als ihr Blick zu Terence Quist wanderte, bemerkte sie, dass er sie besorgt betrachtete, bevor er schnell wegsah. Das rührte und verwunderte Franka. Ein schlechtes Gewissen überkam sie, weil sie ihn vorhin so rüde behandelt hatte.
»Die Startphase wird genau eine Stunde und dreizehn Minuten dauern. Danach haben wir die Erdatmosphäre hinter uns gelassen und können den Schub etwas zurücknehmen. Ich muss Sie bitten, dennoch angeschnallt sitzen zu bleiben, da die Gravitation auch dann noch das Doppelte der Erdschwere beträgt. Ihre Sicherheitsgurte öffnen sich erst automatisch, wenn es Ihnen erlaubt ist, aufzustehen.«
»Habe ich es richtig verstanden, dass wir einen unbekannten Planeten besuchen und sogar kolonialisieren wollen? Wenn mich meine astronomischen Kenntnisse nicht vollkommen täuschen, ist die uns benachbarte Galaxis ungefähr 80.000 Lichtjahre entfernt im Sternbild des Schützen. Und das ist nur eine Zwerggalaxis! Die nächsten sind dann schon 200.000 Lichtjahre entfernt. Das heißt, wir müssten eine Entfernung von 80.000 oder gar mehreren Millionen Lichtjahren zurücklegen. Mit welchem Superantrieb schaffen wir das denn?« erklang es aus einer der hinteren Reihen.
»Noch nie was von einem Warp-Antrieb gehört?«, frotzelte einer der anderen Passagiere.
Alle lachten, auch der Captain.
»Leider ist uns die Technologie des Warp-Antriebes verlorengegangen. Aber Sie haben eine interessante und durchaus berechtigte Frage gestellt, deren Beantwortung ich meinem Ersten Offizier übertrage, da genau dies in sein Spezialgebiet fällt. Professor Quist ist nämlich Astrophysiker, wenn er nicht gerade meinen Ersten Offizier spielt.«
Mit einer Handbewegung übergab Captain Hunter seinem Nebenmann das Wort und lehnte sich entspannt zurück. Terence Quist stand auf und wandte sich einem großen, in der Wand eingelassenen Bildschirm zu, der unvermittelt, wie auf Kommando, aufleuchtete. In diesem Augenblick fing der Boden an zu vibrieren, ein anschwellendes Dröhnen war zu hören. Einige sahen sich erschreckt an, beruhigten sich aber sofort wieder, als keines der Besatzungsmitglieder sichtbare Anzeichen von Besorgnis zeigte.
»Die Kraft, mit deren Hilfe wir uns fortbewegen werden, ist Ihnen allen als Gravitation bekannt«, begann der Erste Offizier. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme, die ihm sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicherte. »Diejenigen unter Ihnen, die etwas physikalisches Grundwissen mitbringen, werden sich wundern, warum wir ausgerechnet diese so extrem geringe Kraft als Antrieb nutzen. Nun, die Schwäche der Gravitation hat die Physiker in aller Welt schon immer verblüfft. Bis einer eine interessante Idee hatte: Nehmen wir einmal an, die Gravitation wäre eine höherdimensionale Kraft als alle anderen uns bekannten Kräfte. Wir kennen den Elektromagnetismus, der sich aus Elektrizität, Magnetismus und Licht zusammensetzt, wir kennen die Komponenten der sogenannten Schwachen Wechselwirkung, die aus Betazerfall und Neutrinowechselwirkung bestehen, und wir kennen die Starke Wechselwirkung von Protonen, Neutronen und Pionen. Alle diese Kräfte wirken im dreidimensionalen Raum. Stellen Sie sich nun vor, Sie wären statt dreidimensionale plötzlich zweidimensionale Wesen ...«
»Flatland: A Romance of Many Dimensions!«, warf einer ein.
»Ganz genau! Sie sind jetzt Wesen von Flatland.« Während er sprach, hatte der Physiker mit einem Stift auf die Fläche einer vor ihm liegenden Konsole eine Ebene gezeichnet, deren Abbild auf dem Bildschirm an der Wand sichtbar wurde. In diese Ebene hatte er symbolisch einen zweidimensionalen Mann, eine Frau und verschiedene Zeichen für die Kräfte, die er nach und nach nannte, gemalt.
»Als zweidimensionale Wesen nehmen Sie nur Kräfte wahr, die in diesen beiden Dimensionen wirken. Nun stellen Sie sich eine dreidimensionale Kraft vor ...« Er zeichnete einen Kreis und ausgehend von diesem Kreis Kraftlinien.
»Von dieser Kraft spüren Sie nur einen Bruchteil, da der größte Anteil, nämlich sämtliche Vektoren, die sich aus der Ebene nach oben und unten richten, für Sie nicht fühlbar ist. Diese Kraft erscheint Ihnen als Flatlandbewohner also extrem schwach. In Wirklichkeit ist es aber eine starke Kraft. Eine so starke sogar, dass wir sie als Antrieb nutzen können. Wobei wir uns eigentlich überhaupt nicht die Stärke zunutze machen, sondern die Höher-Dimensionalität.«
Professor Quist bewegte Daumen und Zeigefinger über den beiden Zeichnungen aufeinander zu, verkleinerte sie dadurch auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe und verschob sie in die linke obere Ecke des Bildschirms. Auf der nun wieder freien Fläche fing er ein weiteres Mal an zu zeichnen.
»Stellen Sie sich nun unser Universum ebenfalls zweidimensional vor. Aber nicht als endlose Ebene, sondern als ein in Falten gelegtes Band.
So betrachtet könnte sich nur einen Millimeter von der Erde entfernt, auf einer parallelen Falte sozusagen, ein Stern oder sogar eine ganze Galaxis befinden, die Planeten mit erdähnlichen Gegebenheiten aufweist. Das Licht dieser Galaxis, das ja nach unserer Vereinfachung eine zweidimensionale Kraft ist, benötigt Milliarden von Lichtjahren, bis es bei uns ankommt, da es den ganzen langen Weg entlang der Oberfläche zurücklegen muss. Die Gravitation aber kann die Abkürzung über die dritte Dimension nehmen und ist in Bruchteilen der Zeit bei unserer gewünschten Galaxis. Unsere Reise sieht also folgendermaßen aus: Wir bewegen uns mit einem herkömmlichen Antrieb bis an eine Stelle im Raum, von der aus wir uns ober- oder unterhalb einer vielversprechenden Galaxis befinden. Dann schalten wir unseren Gravitationsantrieb ein und springen sozusagen auf die andere Falte. Dort halten wir Ausschau nach einer Sonne, in deren Nähe wir einen zur Besiedelung geeigneten Planeten vermuten. Die Entfernung zu unserem gewünschten Landeplatz müssen wir dann natürlich wieder mit herkömmlichem Antrieb überwinden.«
»Und woher wissen wir, wo sich eine solche Galaxis befindet?«
»Diese Parallelgalaxien geben sich uns zuvorkommender Weise als dunkle Massen zu erkennen. Das, was Ihnen unter dem Begriff ›Schwarze Löcher‹ bekannt ist, stellt nichts anderes dar als solche Galaxien, deren Licht wir nicht sehen können, da es viel zu lange braucht, um zu uns zu gelangen. Allerdings wissen wir nicht, ob wir Planeten mit Bedingungen vorfinden, die Leben ermöglichen könnten. Vielleicht müssen wir eine Weile suchen und sogar mehrmals springen.«
Terence Quist ließ sich unter dem begeisterten Applaus seiner Zuhörer wieder neben dem Captain nieder, der erneut das Wort ergriff: »Ich hoffe, Professor Quist konnte Ihre Fragen befriedigend beantworten. Sie haben vielleicht bemerkt, dass die Vibrationen inzwischen stärker und die damit verbundenen Geräusche lauter geworden sind. Wir nähern uns dem Start. Nehmen Sie jetzt bitte eine aufrechte Sitzposition ein. Lehnen Sie Ihren Kopf in die Mulde hinter ihm, sie dient gleichzeitig als Ohrenschutz. Dann bringen Sie Ihre Unterarme und Hände in die vorgeschriebene Position, ebenso Ihre Füße.
Meine Kollegen werden kontrollieren, ob Sie richtig sitzen, bevor sich die Sicherheitsgurte automatisch schließen. Erschrecken Sie nicht, wenn auch Kopf, Hände und Füße fixiert werden. Sie haben das ja alles schon im Beschleunigungssimulator heute Vormittag kennengelernt. Die Schubkraft könnte Ihnen ansonsten den Arm brechen, wenn er durch eine Erschütterung plötzlich von der Lehne gleitet, oder noch schlimmer: das Genick!«
Nach dieser wenig beruhigenden Einführung wanderten ein paar der in Silbergrau Gekleideten von Sitz zu Sitz und überprüften die Positionen. Waren sie zufrieden, drückten sie auf ein kleines Gerät an ihrem Gürtel. Daraufhin schlossen sich Stahlbänder um die Stirn des Passagiers, andere kreuzförmig über der Brust sowie um Hand- und Fußgelenke. Das fühlte sich nicht unangenehm an, da die Stahlbänder weich gepolstert waren. Oder tat der Sekt immer noch seine mildernde Wirkung?
Außer einer leichten Beklemmung fühlte Franka nichts. Im Gegenteil: Eine wohlige Schläfrigkeit überkam sie. Die Anschnallprozedur nahm geraume Zeit in Anspruch. Als endlich alle, auch die Besatzungsmitglieder, ihre Sitzpositionen eingenommen hatten, war das Dröhnen zu einem dumpfen, durch den Ohrenschutz aber glücklicherweise gedämpften Grollen angeschwollen. Die Vibrationen konnte man deutlich spüren. Franka schloss die Augen. Das Letzte, was sie bewusst wahrnahm, waren die braunen Augen von Terence Quist, der seinen Blick forschend auf ihr ruhen ließ. Sie warf ihn aus ihren Gedanken und ersetzte ihn durch Victor. Dann schlief sie ein.
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