Mona Kim Bücher Das Gewicht der Leere - Kapitel 3
Frankas Zimmer war ein ästhetischer Traum! Jedes Möbelstück hatte eine lange Geschichte hinter sich, ohne dadurch an Schönheit eingebüßt zu haben. Echtes Holz und gewagte Stoffkombinationen erzeugten eine überraschende Harmonie. Franka hätte nie gewagt, kariert mit geblümt und gestreift so ungehemmt zu mischen! Vor allem hätte sie nicht gewusst, wo sie solche Stoffe herbekommen und womit sie sie bezahlen sollte. Sie setzte sich auf das breite Bett. Die Matratze fühlte sich angenehm fest an. Auspacken musste Franka nichts, da sie keinerlei Gepäck hatten mitbringen dürfen. Sie würden alles zu ihrer Zufriedenheit vorfinden, war ihnen versichert worden. Also beschloss Franka, zu duschen und den auf dem Bett drapierten Overall anzuziehen. Selbst frische Unterwäsche lag bereit, originalverpackt. Und weiche Slipper mit einer glänzenden Metallsohle, die erstaunlicherweise dennoch flexibel war. Overall sowie Unterwäsche waren aus demselben seidenartigen Material und von einem wunderschönen Dunkelgrün, eine Farbe, die Franka blendend stand. Ob sich die Veranstalter tatsächlich die Mühe gemacht hatten, auf solche Feinheiten zu achten?
Im luxuriösen Badezimmer war alles vorhanden, was man sich nur wünschen konnte. Sogar Schminkutensilien gab es, die Franka aber nicht brauchte, und alles war von erlesenster Qualität. Sie zog sich eine Plastikduschhaube über das Haar und stieg in die Duschkabine. Sofort ergoss sich ein lauwarmer Wasserstrahl über sie. Durch leichte Berührung verschiedener Felder ließen sich Temperatur und Härte des Wasserstrahls variieren. Duschgel und Shampoo konnte Franka nicht entdecken. Nach wenigen Sekunden verstand sie allerdings, warum das so war: Das Wasser duftete wunderbar frisch und fühlte sich seifig an. Nach einiger Zeit änderte sich der Duft und damit die Zusammensetzung der Flüssigkeit, die Franka sich wohlig auf den Körper prasseln ließ, bis am Schluss nur noch reines Wasser aus den Düsen strömte.
Als sie in ihre neue Kleidung schlüpfte, war sie kein bisschen überrascht, wie perfekt alles passte. Sie musterte sich in dem großen Spiegel. Johannes Kaufmann hatte es ganz zutreffend vorausgesagt: Ihr Spiegelbild gefiel Franka ausnehmend gut. Angenehm entspannt legte sie sich auf ihr Bett. Bis zum Dinner waren noch gut zwanzig Minuten Zeit. Sie war gerade ein wenig eingenickt, als es an ihrer Tür klopfte. Nach Frankas Aufforderung öffnete sich die Tür und Maria huschte herein.
»Hallo! Störe ich? Gut siehst du aus! Aber ich auch, das musst du zugeben!«
Lächelnd setzte sich Franka auf. Maria hatte recht: Ihr Overall war von einem zarten Gelb, das wunderbar zu ihrem dunklen Haar und dem leicht olivfarbenen Teint passte.
»Meinst du, das ist Zufall? Oder haben die sich allen Ernstes die Mühe gemacht, in Erfahrung zu bringen, welche Farbe jedem am besten steht?«, überlegte Maria.
»Na, das wäre wohl ziemlich aufwändig gewesen. Aber wer weiß? Vielleicht haben sie Overalls in allen Farben und Größen, und sobald wir das Gelände betreten haben, wurden wir daraufhin abgecheckt, was uns wohl am besten steht? Du darfst nicht vergessen: Nor-malerweise bezahlen die Leute eine halbe Million für diese Reise. Da kann man schon einen gewissen Aufwand erwarten!«
»Das ist nicht nur ungefähr die richtige Größe, die fühlen sich wirklich an wie maßgeschneidert! Apropos Größe: Als ich mich vorhin über die perfekte Passform des Overalls gewundert habe, versuchte ich mir vorzustellen, wie wohl ein extrem fetter Mann oder eine so richtig dicke Frau darin aussieht. Und rate mal, was mir dabei aufgefallen ist: Keiner von uns ist dick! Im Gegenteil: Eigentlich sehen alle ziemlich sportlich aus.«
Franka sah ihr Gegenüber überrascht an. Das hatte sie nicht bemerkt, aber es stimmte. Als sie gerade zu einer Erwiderung ansetzte, kam ihr Maria zuvor: »Fang bloß nicht wieder mit deinem repräsentativen Querschnitt an! Das Argument zieht jetzt nicht mehr. Alle zwischen zwanzig und vierzig, alle intelligent und alle sportlich. Für einen Zufall sind das zu viele Übereinstimmungen, auch wenn es sich nur um elf Personen handelt!«
Eine Weile sahen sie sich schweigend an.
»Und was schließt du daraus?«, fragte Franka schließlich.
»Ich weiß noch nicht. Aber irgendeine Bedeutung muss das alles haben. Vielleicht machen wir irgendwelche Exkursionen, bei denen es auf Intelligenz und Sportlichkeit ankommt.«
»Dann müssten sie aber das Ergebnis der Verlosung manipuliert haben! Außerdem haben schon Menschen diese Reise gemacht, die weder jung noch sportlich sind.«
»Stimmt! Aber ein Zufall ist das hier trotzdem nicht. Da bin ich mir ganz sicher!«
Franka lachte. Die kritische Einstellung ihrer neuen Freundin amüsierte sie.
»Ich hätte dich eher für eine Journalistin gehalten. Lehrerin passt überhaupt nicht zu dir!«, meinte sie dann.
»Von wegen! Ich bilde mir sogar ein, eine ausgezeichnete Lehrerin zu sein. Komm, es ist Zeit! Das Essen wartet. Ich habe Hunger, und wenn ich Hunger habe, bin ich noch kritischer als sonst.«
Als sie von Frankas Zimmer auf den Gang hinaustraten, trafen sie dort auf zwei ihrer Mitreisenden, die sich ihnen vorstellten: Oliver Klingler war Frankas Zimmernachbar, er hatte vorhin die Frage bezüglich der aufwändigen Sicherheitsvorkehrungen gestellt. Hermann Arendt war der jüngste in der Gruppe. Franka musste Maria insgeheim Recht geben: Auch die beiden Overalls der Männer – der eine trug einen dunkelblauen, der andere einen anthrazitgrauen – waren perfekt auf den jeweiligen Typ ihrer Träger abgestimmt, sie sahen darin sportlich und gesund aus.
Da es im Speisesaal nur Vierertische gab, blieben sie zusammen. Sie waren spät dran, im Saal waberte schon die Geräuschkulisse, die die Anwesenheit zahlreicher Menschen und ihr geschäftiges Treiben hervorbringen. Weit über hundert Gäste hatten sich eingefunden. Verschiedene Sprachen waren zu hören, die Gesichter der Besucher wiesen zudem auf unterschiedliche ethnische Zugehörigkeiten hin. Hier waren also die Gewinner aus allen Ländern, die an der Erhebung teilgenommen hatten, versammelt: Asiaten, Afrikaner, Europäer, Amerikaner. Allerdings hatten sich die Völker noch nicht an den einzelnen Tischen miteinander vermischt. Wie Franka, Maria, Oliver und Hermann ein europäisches Quartett bildeten, saßen Afrikaner bei Afrikanern und Japaner mit Japanern zusammen.
Franka sah sich um. Wie eigenartig! Auch unter diesen zahlreichen Menschen konnte sie weder alte noch dicke ausmachen. Japanisch verstand sie nicht, aber sowohl die Amerikaner als auch die Engländer, die weiter rechts saßen, schienen einer eher gehobenen Gesellschaftsschicht anzugehören. Franka warf Maria einen bestätigenden Blick zu, den diese triumphierend erwiderte.
Suppentassen wurden serviert und die Vier begannen zu essen. Dabei unterhielten sie sich angeregt. Oliver Klingler war Biologe an der Münchner Universität, Hermann Arendt befand sich im dritten Semester seines Ingenieurstudiums. Beide waren sympathisch und Franka spürte, wie sich ihre Stimmung hob, wofür nicht zuletzt auch der ausgezeichnete Wein verantwortlich war.
Nachdem die Suppentassen abgeräumt waren, betraten drei Herren eine kleine Bühne an der Schmalseite des Speisesaals, die wohl eigentlich für eine Kapelle oder eine Band gedacht war.
»Liebe Gäste«, begann einer von ihnen in perfekt artikuliertem, wohlklingendem Englisch. »Mein Name ist Peter Winston. Ich möchte Sie alle recht herzlich im Namen von Futura 3000 begrüßen.«
In der darauffolgenden Pause übersetzten die beiden anderen Männer seine Worte in Japanisch, Französisch, Italienisch, Deutsch und Spanisch.
»Ich sehe Ihren Gesichtern an, wie gespannt Sie auf die nächsten Tage sind. Und wir werden Sie nicht enttäuschen! Futura 3000 wird Sie in die Zukunft entführen. Mit einem Raumschiff werden Sie einen unbekannten Planeten besuchen.«
Einigen der Zuhörer war das Entsetzen wohl ins Gesicht geschrieben, denn der Redner lachte erheitert auf.
»Das alles findet natürlich nur in einem Simulator statt. Haben Sie keine Angst! Sie werden unsere Mutter Erde nicht wirklich verlassen. Allerdings sind unsere Simulatoren gut. Sehr gut sogar. Der Eindruck von Realität wird überzeugend sein. Sie werden alles so erleben, als ob es real wäre, allerdings mit der beruhigenden Gewissheit, dass Ihnen nichts, aber auch gar nichts passieren kann.«
Die meisten der Anwesenden atmeten erleichtert auf. Ein paar sahen sogar so aus, als ob sie es bedauern würden, nicht wirklich ins All zu fliegen. Franka gehörte zu den Erleichterten: Ein Raumflug mit all seinen Risiken stand auf ihrer persönlichen Prioritätenliste ganz weit unten.
»Sie werden wunderbare Dinge sehen und fremde Kulturen kennenlernen, die wir nach den Vorlagen der besten Science-Fiction-Autoren entwickelt haben. Und Sie dürfen Pflanzen und Tiere beobachten, die vor Ihnen noch nie das Auge eines Menschen erblickt hat. Ausgenommen natürlich die wenigen Glücklichen, die schon mit Futura 3000 gereist sind.«
In den Pausen, die zwischen den Sätzen immer wieder durch die Übersetzungen entstanden, dachte Franka über das nach, was sie kurz zuvor gehört hatte. Sie verstand genügend Englisch und konnte den Ausführungen von Herrn Winston problemlos folgen, ohne auf die deutsche Übersetzung warten zu müssen. Was er da sagte, klang interessant. Sie liebte Science-Fiction. Allerdings am liebsten vom bequemen Sofa zu Hause aus. Dieser Gedanke ließ vor ihrem geistigen Auge die Gesichter von Victor und ihren beiden Mädchen erscheinen. Den ganzen Tag hatte sie nicht an ihre Familie gedacht, aber nun vermisste sie die Drei plötzlich ganz schrecklich. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, hier zu bleiben oder auf einen Schlag zu Hause zu sein, sie hätte keinen Augenblick gezögert!
»Nun komme ich zu dem ein ganz klein wenig beschwerlicheren Teil unseres Programms, der auf Sie zukommt.«
Die tragfähige Stimme Herr Winstons riss Franka aus ihren Heimwehgedanken.
»Da unsere Simulatoren so gut sind, täuschen sie auch Phänomene wie Schubkraft oder Schwerelosigkeit vor. Beides natürlich nur andeutungsweise. Denn es würde jahrelanges Training erfordern, die tatsächliche Beschleunigung einer Rakete auszuhalten. Auch die Bewegung in der Schwerelosigkeit ist nicht so einfach, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Deshalb möchten wir Sie, zu Ihrer eigenen Sicherheit, einem kleinen Gesundheits- und Belastungstest unterziehen, damit unsere Techniker die richtige Balance zwischen einem möglichst hohen Grad an Realitätsnähe und Ihrer Bequemlichkeit errechnen können. Wir bemühen uns, selbst diesen Test zu einem angenehmen Erlebnis für Sie zu gestalten, indem wir einen kleinen Wettkampf organisiert haben. Die Einzelheiten erfahren Sie morgen früh. Wir verpflichten Sie natürlich nicht, an diesem Test teilzunehmen, vielmehr bitten wir Sie darum. Überhaupt gilt: In Futura 3000 wird niemand zu etwas gezwungen!«
»Und wer sich weigert? Muss der dann wieder nach Hause fliegen?«
Die Frage kam von einem Italiener und wurde ins Englische übersetzt.
»Natürlich nicht! Das Schlimmste, was passieren kann, ist im Lauf der Simulation ein kurzzeitiges Unwohlsein, falls Ihre Mitreisenden eine bessere Konstitution haben als Sie und wir aus diesem Grund die Werte zu hoch gewählt haben. Eine wirkliche Gefahr besteht nicht.«
Als keine weiteren Einwände kamen, fuhr Herr Winston fort: »Mehr möchte ich Ihnen heute nicht verraten, sondern nur noch ein paar Dinge zum zeitlichen Ablauf erwähnen. Schließlich will ich Ihnen die Spannung nicht nehmen. Das Servicepersonal wird Ihnen nun die Fortsetzung des vorzüglichen Menüs servieren. Der Rest des Abends steht danach zu Ihrer freien Verfügung. Allerdings werden Sie ihre Aktivitäten auf das Hotel beschränken müssen. Ihnen stehen eine Bar, ein Schwimmbad, eine Sauna, ein kleines Spielcasino und ein Kino zur Verfügung. Das sollte doch für einen Abend ausreichen, nicht wahr? Morgen nach dem Frühstück – es wird ab sieben Uhr und bis zehn Uhr dreißig serviert – werden wir Sie in Gruppen zu dem Test begleiten. Sie erhalten nach dem Abendessen einen Zettel, auf dem die Uhrzeit notiert ist, zu der wir Sie persönlich abholen werden. Keine Sorge, der erste Test beginnt um zehn Uhr. Sie können also alle ausschlafen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und eine angenehme Nachtruhe.«
Die meisten klatschten höflich, noch bevor die Übersetzungen begonnen hatten. Anscheinend konnten fast alle Englisch. »Ich habe den Eindruck, Sie haben mich alle verstanden. Müssen wir überhaupt noch übersetzen?«, fragte da Herr Winston. Die Dolmetscher taten ihr Werk, dann fuhr Winston fort: »Wer möchte eine Übersetzung ins Französische?« Nacheinander ging er alle Sprachen durch, jedoch verlangte keiner im Saal eine Übersetzung in seine Muttersprache. Entweder verstanden wirklich alle ausreichend Englisch, oder sie genierten sich, das Gegenteil zuzugeben.
»Gut, dann sparen wir uns ab jetzt die Mühen des Dolmetschens«, beschloss Herr Winston. »Eine Kleinigkeit fällt mir übrigens gerade noch ein: Sämtliche Vergnügungseinrichtungen des Hotels schließen um Mitternacht. Wir möchten Sie nämlich morgen fit und ausgeschlafen begrüßen dürfen. Bedenken Sie bitte auch, wie sehr übermäßiger Alkoholgenuss die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden beeinträchtigt! Nun also nochmals vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, eine wunderschöne Zeit mit Futura 3000 und last, not least: guten Appetit!«
Unter erneutem Beifall verließ er mit seinen Begleitern das Podium. Nach kurzer Zeit füllte das übliche Stimmengewirr und Geschirrklappern die Luft des Speisesaals. Franka und ihre drei Tischgenossen diskutierten – wie vermutlich alle anderen auch – das eben Gehörte. Oliver, Hermann und Maria waren begeistert von der Aussicht auf einen simulierten Raumflug und zerstreuten damit bald Frankas Bedenken. Es wurde ein schöner Abend. Das Essen und der Wein waren vorzüglich und die Gesellschaft angenehm. Anschließend beschlossen die vier neuen Bekannten, im Schwimmbad eine Runde zu schwimmen und die Sauna zu genießen.
Kurz vor Mitternacht trennte sich Franka von Maria und den beiden Männern. Den gelben Zettel mit der Uhrzeit für den morgigen Test legte sie auf den Nachttisch. »10:30 Uhr« stand darauf. Leider hatte Maria einen roten Zettel bekommen, der verkündete, dass ihr Test um elf Uhr beginnen würde. Auch die beiden Männer sollten zu unterschiedlichen Uhrzeiten abgeholt werden. Vermutlich wollte die Reiseleitung die einzelnen Menschen auf diese Weise miteinander bekannt machen.
Kaum lag Franka im Bett, sank sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Hinweis
Mit dem Abschicken deines Kommentars bestätigst du, dass du die Datenschutzerklärung gelesen hast und diese akzeptierst.
Weiterhin erklärst du dich mit der Speicherung und der Verarbeitung deiner Daten (Name, ggf. Website, Zeitstempel des Kommentars) sowie deines Kommentartextes durch diese Website einverstanden.Dein Einverständnis kannst du jederzeit über die Kontaktmöglichkeiten im Impressum widerrufen.Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Weitere Informationen findest du hier:
Datenschutzerklärung von Google